Der Morgen war noch jung, als Rowan erwachte. Zartrosa ging die Sonne vor den staubigen Fenstern der Mühle auf und das Feuer glimmte nurmehr schwach. Einen Moment brauchte der Prinz, um sich an die Ereignisse der vergangenen Nacht zu erinnern und ein Gefühl der Scham, aber auch der Erfüllung fluteten über ihn. Er lächelte leicht, verkniff sich ein Auflachen und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Bei Solem, wie hatten sie sich gehen lassen! Nie hätte er gedacht, jemals so etwas zu tun. Er hatte Geliebte gehabt in seinem Leben, doch das war etwas vollkommen Neues gewesen.
Vorsichtig erhob Rowan sich. Sein Mund war trocken und sein Rücken kribbelte. Remy musste ihn gekratzt haben. Sich streckend, tauchte er seinen Becher in den Wassereimer und trank in kleinen Schlucken. Es war kalt in der Hütte und es sah fast so aus, als hätte die Nacht einen letzten feinen Frost mit sich gebracht, der jetzt an den Fensterscheiben glitzerte. Wie war so etwas möglich? Sie hatten doch am späten Abend noch gebadet? Tralliens Wetter war dem Prinzen wirklich ein Rätsel.
Er merkte nicht, dass Remy erwacht war und ihn vom Lager aus ansah. Mit gekräuselten Lippen ließ er den Blick über Rowans unbekleideten Leib wandern und spürte Wärme in seinen Wangen, als er die Striemen auf dessen Haut sah. Die stammten zweifellos von Remys Fingernägeln. Noch immer konnte er es spüren, das Gefühl unter seinen Fingern, die angespannten Muskeln und die Kraft. Nachdem das erste Unbehagen verflogen, die ersten Schüchternheiten überwunden waren, hatten sie sich mitreißen lassen. Doch nun war der Rausch abgeklungen und die kalte Realität hatte Remy eingeholt. Er bereute die Nacht nicht, weder was er getan noch dass er Rowan seine Unschuld überlassen hatte. Dass dessen Versprechen, ihm nicht zu nahe zu kommen, keine Rolle mehr spielte, war die Wahrheit gewesen, immerhin hatte der Dieb geradezu verlangt, dass er es vergaß und die Konsequenzen in jeder Minute genossen. Selbst der anfängliche Schmerz ihrer Vereinigung war anders gewesen, etwas Verheißungsvolles und sicher nichts, was Remy auf die Liste der Dinge setzen würde, die er an seinem Leben hasste. Doch Tatsache war nun einmal, dass Rowan aus einem bestimmten Grund nach Trallien gekommen war. Und der war sicher nicht ein Straßenköter aus Thalea. Der war höchstens eine Unterhaltung, damit die Reise nicht so langweilig werden würde. Egal, was dieser Moment der Schwäche zwischen ihnen zu bedeuten hatte, es war nichts gewesen, was einen tieferen Sinn gehabt hätte. Immerhin gab es, sollte Rowan das Ziel seiner Reise nicht erreichen, immer noch jemanden, der daheim in seinem eigenen Königreich auf ihn wartete und bereit war, die Pflicht zu erfüllen, die Rowan den Thron bringen würde. Er und Remy hatten einfach eine Nacht lang Spaß gehabt. Der Dieb durfte bei dem Prinzen nicht den Eindruck entstehen lassen, dass er mehr in diese Sache hineininterpretierte als da war. Womöglich war da auch gar nichts weiter. Er hatte Lust gehabt, war neugierig gewesen, wollte wissen, warum alle so verrückt danach waren und das wusste er nun. Ein Teil verstand es sogar, denn es war schön gewesen.
Stumm wandte er den Blick wieder zu dem Mann und seine Kehle zog sich zu. Es war ein komisches Gefühl und Remy mochte es nicht. Er hatte sich nie abhängig gemacht von jemandem, weder emotional noch anderswie, und würde bei Rowan damit nicht anfangen. Er würde arbeiten für alles, was der Prinz ihm zukommen ließ und nicht den Eindruck erwecken, es für selbstverständlich zu nehmen, weil sie sich eine Nacht lang herumgewälzt hatten! Er würde nicht Rowans Hure werden, nur weil er einmal zugelassen hatte, dass dieser ihn berührte.
Remy seufzte leise und streckte sich. Er zuckte zusammen, denn seine Muskeln schmerzten. Die fast verheilte Stichwunde in der Schulter ziepte und er konnte die Nachwehen der vergangenen Nacht auch noch an anderen Stellen seines Körpers spüren. Leise schnaufend entspannte er sich wieder und zog damit die Aufmerksamkeit Rowans auf sich.
»Guten Morgen.«
»Morgen«, nuschelte der junge Dieb und setzte sich auf. Das Gesicht verziehend legte er die Hand auf seine Schulter. »Scheiße«, knurrte er. »Mir tut alles weh.«
»Soll ich mir das ansehen?«
Remy schüttelte den Kopf. Er wollte nicht erneut von Rowan berührt werden. Der Junge wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. Er konnte nicht vergessen, wie er sich in den vergangenen Stunden benommen hatte und schämte sich dafür. Wackelig stand er auf und presste die Lippen zusammen. Er hatte nichts an. Schnaufend griff er sich seine inzwischen getrocknete Hose und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, nachdem er zumindest das Gröbste seiner Blöße bedeckt hatte.
»Glotzt nicht so!«, knurrte er Rowan an und beeilte sich, sich wieder vollständig zu bekleiden. Der Prinz musterte ihn weiter, innerlich seufzend. Die Barriere war wieder da, Remy hatte das Du wieder aus seinem Vokabular gestrichen. Es wäre auch zu leicht gewesen, anzunehmen, dass etwas anders sein würde. Der Beutelschneider war stolz und sein Gesichtsausdruck machte Rowan überdeutlich klar, dass er das, was in der Nacht zuvor geschehen war, am liebsten vergessen wollen würde.
»War wohl doch keine gute Idee, das Versprechen einfach gut sein zu lassen, hm?«
»Was?«, Remy hielt in der Bewegung inne, sich die Schuhe anzuziehen und hob den Kopf. »Könnten wir uns hier auch darauf einigen, nicht drüber zu reden?« Er warf einen kurzen Blick über Rowans Leib. »Und könntet Ihr Euch etwas anziehen ... bitte?«
Der Prinz nickte mit einem Seufzen und kam der Bitte nach, auch weil es ziemlich kalt war und er zu frösteln begonnen hatte.
»Warum diese Hektik?«
Remy stand auf und griff sich den Mantel, ohne Rowan anzusehen. »Ihr habt wegen mir eine Woche verloren. Die Wunde tut nicht mehr sehr weh, es geht also.«
Der Prinz griff nach dem Arm des Diebes, doch der entzog sich ihm. »Remy ...«
»Ich bin draußen, kümmere mich um die Pferde.«
»Ja ...«, erwiderte Rowan leise und sah dem Anderen hinterher, der die Türe hinter sich zuwarf. Es war wirklich ein Fehler gewesen, das Versprechen nicht aufrechtzuerhalten und sich dem Drängen hinzugeben. Im schlimmsten Fall hatte diese Nacht etwas zwischen dem Prinzen und Remy zerstört und die Distanz, die Rowan eigentlich hatte verringern wollen, sogar noch erhöht. Oder war es nur die Scham über das Geschehene, was den Dieb so reagieren ließ? Er wollte nicht darüber reden. Wie er über nichts reden wollte, was ihm peinlich war. Zuzugeben, dass er sich vor Hunden fürchtete, war leicht für Remy gewesen. Doch zu erklären, woher die Panik vor Gewitter kam - keine Chance. Und nun hatte er ein neues Thema gefunden, über das er nicht reden wollte. Als würde es dadurch ungeschehen werden.
Rowans Blick wanderte über das Lager aus Zelt- und Regenplane, Reisesäcken und den Decken, die zerwühlt darauf lagen und konnte ein leichtes Lächeln nicht verhindern. Für ihn gab es keinen Grund, sich zu schämen. Er hatte mit einem Mann geschlafen, das war vielleicht ungewöhnlich, aber was machte das schon? Doch Remy war jung. Unerfahren. Und trotz seiner viel zu frühen, absolut unverblümten und sehr plastischen Erfahrungen mit menschlicher Sexualität anfällig genug für Scham, wenn er selbst betroffen war. Dieses Verständnis verhinderte jedoch nicht, dass Rowan sich ein wenig gekränkt fühlte vom Verhalten des Diebes. Der hatte in der Nacht auf das Brechen des Versprechens gepocht und nun beinahe die Flucht ergriffen, als hätte Rowan ihm etwas angetan! Dabei waren sie beide nicht untätig geblieben.
Schnaufend stieg der Prinz in seine Kleider, schob den Bügel des Kessels wieder über die Feuerstelle und entzündete die schwache Glut neu, um den restlichen Eintopf aufzuwärmen. Er räumte den Schlafplatz auf und verstaute alles, was nicht mehr gebraucht wurde, in den Reisesäcken, bevor er sich den Eimer griff und die Mühle verließ, um frisches Wasser zu holen.
Remy war im Stall, der Prinz konnte ihn leise mit Loot reden hören, im trallischen Dialekt, den Rowan kaum verstand. Er entschied, den Jungen in Ruhe zu lassen. Wenn dieser sich in seinem Stolz vergraben wollte, dann konnte Rowan das auch! Und wenn der Dieb unbedingt so tun wollte, als wäre nichts geschehen oder das, was passiert war, etwas gewesen, das Remy so gar nicht hatte zulassen wollen, dann sollte er das eben tun! Rowan konnte auch stur sein. Verbissen ging er an den Teich hinunter und füllte den Eimer.
»Komm essen!«, rief er, bevor er die Mühle wieder betrat und Kaffee vorbereitete. Das Feuer loderte und hatte die Suppe bereits ordentlich erhitzt. Die Vorräte an frischem Brot waren aufgebraucht, doch von dem Hartgebackenen, das sich länger hielt, war noch einiges da. Remy hatte während des Fiebers beinahe nur Brühen zu sich genommen, die Rowan gekocht hatte, doch der hatte das verderbliche Brot verbraucht, damit es nicht schimmlig wurde. Er verteilte den Eintopf auf ihre zwei Becher und stellte den Kessel an die Seite, um auszukühlen. Der war noch gut und nur klein, den hatte Rowan beschlossen, auf ihrer Reise mitzunehmen. Die gefundene Laterne hingegen brachte ihnen ohne Lampenöl nichts. Kerzen hatten sie auch keine.
Er blies in seinen Becher und hatte die Landkarte vor sich ausgerollt, als Remy in die Hütte kam und tief einatmete. Er brachte die kalte Morgenluft mit hinein und den Duft nach Pferden.
Rowan hob nur kurz den Kopf, bevor er sich weiter der Reiseroute widmete.
»Wenn Ihr in die Berge wollt, was machen wir mit den Pferden?«
»Das entscheide ich, wenn es soweit ist«, murmelte der Prinz. »Bis dahin vergehen noch einige Tage, würde ich sagen.«
Remy seufzte und setzte sich auf den Reisesack. Langsam nippte er an der Suppe, die ein paar schöne Fleischstücke und wildes Gemüse enthielt. Er hätte gern gefragt, woher Rowan wusste, was man essen konnte und was nicht, doch die angespannte Stimmung im Raum war körperlich spürbar. Eine Spannung, die mit dem Kribbeln vom vergangenen Abend nichts zu tun hatte. Jetzt fühlte es sich eher so an, als würden sie auf einem Vulkan sitzen. War es ein Fehler gewesen, Rowan so von sich zu stoßen? War er böse auf Remy? Vielleicht war es dumm von ihm gewesen, diese ganze Sache. Wäre nichts davon passiert, hätten sie sich jetzt nicht angeschwiegen. Ein unangenehmes Schweigen, keines dieser einvernehmlichen, wie sie es taten, während sie ritten.
»Fertig?« Rowan deutete auf Remys Tasse und der Junge nickte leicht. Er schob sich den Rest Zwieback in den Mund und stand auf. Auffordernd streckte er die Hand aus.
»Gebt her, ich geh das Zeug spülen.«
»Nimm’ den Kessel mit, der wird uns nützen, glaub ich.«
»In Ordnung«, murmelte Remy und nahm das Geschirr mit zum Teich, während Rowan das Feuer löschte und die restlichen Sachen nach draußen trug. Mit einem letzten Blick in die Mühle zog er die Türe zu. Es war angenehm, hier einige Tage zu leben, wenn auch die Umstände nicht die schönsten gewesen waren.
Gesattelt und beladen warteten Agrippa und Loot darauf, endlich wieder laufen zu können. Rowan befüllte die Wasserschläuche neu und goss sich und Remy etwas von dem inzwischen mundgerechten Kaffee ein, bevor er die Kanne ausspülte und in Remys Reisesack verstaute. Die Becher taten sie nach dem Austrinken einfach in den kleinen Kessel, der an Loots Sattel befestigt und mit einem Tuch ausgekleidet worden war, damit das Klappern sie nicht schon auf zig Meilen verraten konnte.
»Kommst du allein in den Sattel?« Der Prinz musterte Remy, der sich die Schulter rieb. Er hatte sich keinen frischen Verband anlegen lassen und auch keine Salbe bekommen, doch Rowan konnte ihn nicht zwingen, wenn er sich so bockig wie ein Kind aufführen wollte. Remy nickte harsch und packte den Sattelknauf. Rowan konnte sehen, dass ihm das Aufsteigen schwer fiel, er verkniff das Gesicht und presste die Luft zwischen den Zähnen hervor. Doch er sagte nichts und so wandte der Prinz sich ab, schwang sich ebenfalls in den Sattel und trat Agrippa leicht in die Flanken. Mit einem Wiehern schoss der Hengst nach vorne in einen leichten Galopp, warf den Kopf zurück und machte durch und durch den Eindruck, das Laufen zu genießen. Loot schloss auf und sie brachten schnell eine ziemliche Strecke zwischen sich und die Mühle. Da sie so viel Zeit mit dem Krankenlager verloren hatten, wollte Rowan ein gutes Stück schaffen vor der nächsten Rast. Die Ebene vor ihnen erschien endlos, saftig grün und das Gras tanzte im Wind. Die Sonne, am Morgen noch blass, wärmte alles auf und ein frischer, frühlingshafter Duft breitete sich aus. Das Gelände war wie gemacht für einen Galopp und Remy, der sich zu Anfang angstvoll an Loot geklammert hatte, gewann an Sicherheit und genoss den Luftzug in seinen Haaren. Fast lieferten sich Hengst und Wallach ein Wettrennen, doch Spaß schien das nur den Tieren zu machen, denn Rowan verzog keine Miene. Die blauen Augen stur auf den Horizont gerichtet, schien er es gar nicht erwarten zu können, seinem Ziel ein wenig näher zu kommen. Wo war nur die Reiselust hin, die Ruhe, die er in den ersten Tagen ausgestrahlt hatte? Remy sah von der Seite zu ihm herüber und seufzte, doch der Wind schluckte das Geräusch. Es war offensichtlich, dass der Prinz schlechter Laune war. Nach dem guten Abend war ein schlechter Morgen gefolgt und immer mehr wuchs ein Gefühl der Reue in dem Dieb. Er hätte Rowan weiter den Ehrenmann sein, weiter so tun lassen sollen, als hätte er nicht dieselben Triebe wie jeder andere Mann. Er hätte ihn nicht dazu bringen sollen, etwas so Abwegiges zu tun wie ausgerechnet mit Remy zu schlafen oder diesem die Dinge zu gestatten, die vorgefallen waren. Der Junge spürte die Nacht bei jeder Bewegung, die Muskeln in seinen Beinen und seinem Gesäß und es war ihm unmöglich, für einen Moment auszublenden, was geschehen war. Lag es an Rowans Reitermuskulatur, dass es ihm anders erging? Oder war er nur gut darin, es zu verbergen?
Doch die Verspannungen waren nichts verglichen mit dem unangenehmen Stechen und Ziehen, das Remys Schulterwunde ihm verursachte. Er schnaufte und presste die Hand darauf, wollte aber nichts sagen. Rowan hatte so viel Zeit durch diese Verletzung verloren, der Dieb wollte ihn nicht damit behelligen. So vergingen einige Stunden, bis die Tiere sich verausgabt hatten und ihr Galopp in einen leichten Gang überging. Der Nachmittag war angebrochen und Rowan zügelte Agrippa an einem Bach.
»Lass’ uns eine Pause machen, damit die Pferde saufen können.«
Remy nickte, er war blass und wagte nicht recht, den Mund aufzumachen. Als er vom Sattel stieg, knickten ihm die Beine ein und er sank auf die Knie.
»Verflucht«, nuschelte er, ohne jedes Lachen, stattdessen zischte er und stemmte sich auf seinen gesunden Arm. Rowan bemerkte es und warf seinen Sack hin, bevor er zu ihm ging und ihn packte. Er zog ihn hoch und öffnete den Mantel des Diebs, ohne ihm ins Gesicht zu sehen.
»Du Trottel!«, knurrte er schließlich und wandte sich gereizt aufstöhnend ab. »Die Wunde ist wieder aufgegangen! Warum hast du nicht den Mund aufgemacht? Bist doch sonst auch nicht so schweigsam?!« Er öffnete seinen Reisesack und nahm das Arzneipäckchen heraus. »Zieh die Jacke und das Hemd aus! Du musst neu verbunden werden.«
»Aber ...«
»Sei still und tu, was ich dir sage, verdammt. Wenn sich das entzündet ... ich sag’s dir, Remy, du verreckst mir hier nicht an so einer Scheiße!«
Der Junge nickte. Er wusste, sein Stolz war fehl am Platz, denn er spürte den heißen Schmerz. Hemd und Mantel hatten dieses Mal nicht viel abbekommen, denn der Verband hatte das meiste Blut aufgesogen. Da die Wunde fast vollständig verheilt gewesen war, war nur die zarte und sehr empfindliche Haut eingerissen und hatte geblutet. Ungläubig betrachtete Remy den Riss und wunderte sich, dass so etwas Kleines ihm so zusetzen konnte.
Verbissen hockte er auf den Reisesack und ließ zu, dass Rowan mit einem Tuch, befeuchtet in dem kleinen Bach, die Wunde säuberte, mit Salbe bestrich und mit etwas Verband umwickelte.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte er leise und sah Remy dabei nicht an, stattdessen waren die Augen auf die Tätigkeit seiner Finger gerichtet.
»Ich ... hab’s erst gar nicht gemerkt. Und dann ...«, der Junge straffte den Rücken, »wir haben genug Zeit verloren!«
»Ich war dumm, ich hätte wissen müssen, dass ein Galopp zu früh für die Verletzung ist.«
Remy zuckte mit den Schultern. »Was soll’s.«
Rowan hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht, bevor er leicht lächelte. »Ja, was soll’s. Wenn du dir keine Sorgen um dich machst ...« Er legte ihm einen Moment die Hand an die Wange und erhob sich dann seufzend. »Gut, ich schätze, wir rasten hier.«
»Nein! Ich ...«, Remy schnaufte. »Können wir nicht im Schritttempo weiter reiten? Ich denke, Ihr wollt irgendwann auch noch mal ankommen?! Irgendwo ...«
»Nicht um den Preis, dabei meinen Reisegefährten zu verlieren. Aber gut, wie du möchtest. Dann Schritt.« Rowan nahm einen tiefen Schluck aus seinem Wasserschlauch und streckte den Rücken durch. Unwillkürlich musste er lachen über die Verspannungen, die nicht vom Reiten kamen. Süße Erinnerungen.
Sie ließen die Pferde trinken und eine Weile am Gras knabbern, während sie die Sonne genossen. Remy lag an seinen Reisesack gelehnt, die Kapuze seines Mantels über den Kopf gezogen und döste, während Rowan mit der Karte und seinem Kompass einen Weg zu bestimmen versuchte.
»Hier ist ein Dorf eingezeichnet«, murmelte er. »Womöglich gibt es dort ein Gasthaus.«
»Was wollt Ihr mit einem Gasthaus?«, brummte der Junge und öffnete ein Auge. Rowan hob den Kopf gen Süden und kniff die Lider zusammen. Vage konnte er weit am Horizont die gewaltige Gebirgskette ausmachen, die als natürliche Ländergrenze Tralliens diente und zu seiner isolierten Stellung in Numantia beitrug.
»Du fragtest selbst, was wir mit den Pferden machen wollen. Wir können sie nicht mit in die Berge nehmen. Ich werde nicht riskieren, dass sich eines von ihnen die Beine bricht oder abstürzt oder ich sonstwie gezwungen bin, sie zurückzulassen oder sogar zu töten.«
Remy nickte. Das würde ihm auch nicht gefallen. »Wie lange wird es dauern, bis wir es erreichen?«
»Vielleicht morgen. Wenn wir schnell reiten, aber ...« Rowan betrachtete Remy einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. »Übermorgen. Du stehst keinen Galopp durch, sonst reißt die Wunde vollends auf und du liegst wieder einige Tage um.«
»Ich bin also ein Bremsklotz. Wie lange seid Ihr inzwischen in Trallien? Wirklich was geschafft habt Ihr nicht ...«
»Etwas mehr als drei Wochen«, murmelte Rowan und faltete die Karte wieder zusammen. »Aber das macht auch nichts. So schnell rechnet keiner zuhause mit mir.«
»Und wenn der König erst mal spitzkriegt, dass Ihr seinen Meuchelmörder geschlachtet habt, kommt Ihr vielleicht nie mehr zurück ...«
»Warum redest du so daher? Würdest du dir wünschen, noch einmal einen solchen Kampf zu erleben?«
Remy zuckte die Schultern und sah in den blauen Himmel, während Rowans Lippen zuckten.
»Ich möchte es jedenfalls nicht. Weder selbst sterben noch dass dir was passiert. Das solltest du doch inzwischen begriffen haben.«
»Wenn Ihr das sagt.«
»Und noch hundert Mal, wenn es nötig ist.«
Der Junge schnaubte und zog die Kapuze etwas weiter in sein Gesicht. Der Prinz konnte ihn mal mit seinen Nettigkeiten. Erst grummelig sein und jetzt sich wieder einkratzen, oder was?
»Ich finde ja, es hatte auch etwas Gutes, aber vermutlich teilst du meine Meinung eher nicht«, murmelte Rowan und Remy zuckte.
»Ich rede nicht darüber!«
»Weil du es bereust oder es dir peinlich ist? Mir ist es das nicht.«
»Rowan! Können wir ... Kacke, bitte. Ich will einfach nicht.«
Der Prinz nickte leicht und seufzte. »Gut. Wir sollten aufbrechen. Je mehr wir schaffen, desto näher kommen wir an das Dorf und den Gebirgshang.«
»Über den Bergen gibt es oft Unwetter, hab ich gehört«, nuschelte Remy.
»Das kriegen wir auch hin. Das schlechte Wetter und das andere.«
Der Junge setzte sich auf, strich die Kapuze vom Kopf und schnaufte. »Ihr könnt nicht einfach nach Trallien gekommen sein, um die Landschaft zu genießen. Nein, Ihr müsst in die Drachenhöhen, das schroffste Gebirge, das dieses Land hat. Ihr müsst den König verärgern, auf dass der Euch ermorden lassen will, Ihr müsst durch Schlamm und Regen kraxeln, um einer Legende hinterher zu laufen. Worauf hab ich mich eingelassen?«
Rowan lachte und seine blauen Augen blitzten. »Auf ein Abenteuer, Remy!«
Der lächelte leicht. »Ihr seid wirklich verrückt.«
»Das sagtest du bereits mehrfach. Los, hoch mit dir, Beutelschneider.« Der Prinz stand auf und schob Karte und Kompass zurück in seine Tasche. Er streckte sich und gab ein zufriedenes Geräusch von sich. »Der Wind frischt etwas auf. Ich hoffe, es gibt keinen Regen.«
»Noch nicht gemerkt, dass Trallien scheiß Wetter hat, Eure Hoheit?« Remy putzte sich den Hintern ab und blickte über die Ebene. Er seufzte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
»Hast du etwas?«
»Mir tut alles weh, aber sonst geht’s gut.«
Rowan schmunzelte und Remy schnaubte. »Ganz ehrlich, meint Ihr nicht, der Fettwanst ... Verzeihung, der König hat inzwischen gemerkt, dass sein Handlanger nicht wiederkommt? Glaubt Ihr, er belässt es bei einem Versuch, Euch abzumurksen?« Der Junge kaute auf seiner Lippe herum und rieb sich leicht die Schulter. »Nochmal werden wir kein Glück haben. Auch wenn Ihr noch so zuversichtlich seid. Wie ich das hasse. Eure Zuversicht. Das ist doch nicht normal.«
Der Prinz überwand die wenigen Schritte zwischen ihnen und packte Remys Hand. Der zuckte und sah ihm ins Gesicht.
»Was ist?«
»Meine Zuversicht«, sagte Rowan leise, »reicht für dich und mich. Das muss sie, denn du hast nie gelernt, Dinge positiv zu sehen. Deine Welt ist nur schwarz und schlecht, also muss meine umso heller sein.«
Der Junge versuchte, seine Hand loszumachen. Die warmen Finger des Prinzen machten ihn nervös. »Und darum seid Ihr ein Narr. Ihr denkt immer noch, es wäre Eure Aufgabe, mich zu retten.«
»Ist sie das nicht? Du hast niemanden mehr. Warum lässt du mich nicht jemand sein?«
Remy riss sich los. »Hört auf damit! Ihr wisst doch nicht, wovon Ihr redet. Ihr seid auch morgen noch ein verdammter Prinz! Ein verfluchter künftiger König. Was meint Ihr, könnt Ihr für mich sein? Oder ich für Euch? Vergesst diese Zutraulichkeiten. Ich will das nicht. Wegen einer Nacht hat sich nichts geändert! Ich bin, was ich bin. Und Ihr, was Ihr seid.« Schnaufend rauschte der Dieb ab, griff sich die Führstricke des gemächlichen Loot und stieg in den Sattel. Verbissen blickte er gen Süden und zog die Nase hoch. Rowan war ein Idiot! Für ihn war es leicht, von diesem Schwachsinn zu reden, sein irriger Glaube, dass alle Menschen gleich wären. Er war ein verdammter Thronfolger, er konnte glauben und sagen und tun, was er wollte. Sein, was er wollte. Doch Remy war ein einfacher Mann. Ein Niemand ohne Rang und Status. In der realen Welt würden sie ihn nicht einmal bis zu Rowan vorlassen, wenn er das wollte. Diese kleine Blase hier war nicht das wahre Leben. Und deswegen war der Prinz ein Trottel!
Der sah Remy hinterher und seufzte leise. War es das, was ihn so aufwühlte? Noch immer das leidige Thema ihres Standes? Wollte Remy deswegen nicht einmal zulassen, dass Rowan ein Freund für ihn sein könnte?
»Gut«, murmelte der Kronprinz leise zu sich und verkniff sich das unangenehme Gefühl. Er war es nicht gewohnt, so vehement zurückgestoßen zu werden und er konnte nicht behaupten, dass ihm das gefiel. Es war schwieriger, gegen Remys harte Schale anzukommen als es gewesen war, diesen Mörder auszuschalten. Rowan hatte wirklich gehofft, dass zumindest das, dieses erlebte Grauen, etwas geändert hatte. Ein Kampf auf Leben und Tod, den man gemeinsam durchgestanden hatte, verband in den Augen des Prinzen mehr als eine einzelne Nacht der Kopflosigkeit, doch das schien nur er so zu empfinden. All diese kleinen Dinge, die während der Reise bereits geschehen waren - das gemeinsame Baden im Fluss, die Gewitternacht, all die kleinen Zoten und Momente des Lachens, von denen Rowan das Gefühl bekommen hatte, etwas durch Remys Panzer gedrungen zu sein, hatten im Grunde rein gar nichts verändert, oder? Rowan strampelte noch immer mit den Füßen, wie eine Ente in zu tiefem Wasser. Remys Loyalität war ihm gewiss, die hatte er bewiesen. Doch ging es noch darüber hinaus? Hatte sich Rowan getäuscht in der Annahme, dass der Junge aus anderen Beweggründen bei ihm geblieben war als purem Pflichtgefühl? War es nur das Versprechen, Remy mit nach Annwyn zu nehmen, das ihn bleiben ließ?
Der Prinz seufzte lautlos, mit einem Gefühl in der Brust, das er noch nie bewusst empfunden hatte. Es war das Gefühl des Alleinseins. Hatte Remy Recht gehabt? Waren es nur die Dinge, die er für andere tun konnte, die diese bewogen, sich in seiner Nähe aufzuhalten? Hatte er sonst, als Mensch, nichts zu bieten, nicht mal genug für einen Straßendieb? Waren seine Freundlichkeit und die Art, wie er Dinge anging, nur ein unbewusstes Mittel, um die Leute an sich zu binden, die sonst niemals bleiben würden? War er wirklich nur ein Prinz und sonst nichts weiter?
Verbissen schluckte Rowan den Kloß in seinem Hals hinunter. Er war, was er war! Mental erschöpft blinzelte er in den blassen Sonnenschein und wischte sich über die Nase, bevor er sich auf Agrippa schwang.
»Los geht’s!«, brummte er, ohne Remy anzusehen. Der Hengst gab einen leichten Galopp vor, dem Loot anstandslos folgte.
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Der Abend dämmerte, als ein Dorf am Horizont in Sichtweite kam. Remy und Rowan waren einen und einen halben Tag durchgeritten, nur mit einer kurzen Rast dazwischen, um die Nacht abzuwarten und die Tiere ausruhen zu lassen. Viel gesprochen hatten sie in der Zeit nicht. Remy hatte gespürt, dass den Prinzen etwas beschäftigte und ein Teil war sich bewusst, dass es seine Schuld gewesen sein musste. Und Rowan hatte seinen Gedanken nachgehangen, Dinge hin und her geschoben oder einfach nichts gedacht und sich nur auf den Weg konzentriert und das Ziel, das er sich gesetzt hatte. Er war nicht in Trallien, um einem Taschendieb zu gefallen und auch nicht, um einen Welpen zu retten. Er hatte seinem Vater sein Wort gegeben und war fest entschlossen, dieses Versprechen zu halten oder heimzukehren und Ana zu heiraten.
Rowan zügelte Agrippas Gang, als sie eine mit Katzenkopfsteinpflaster belegte Straße erreichten und durch einen Torbogen in das Dorf eintraten. Es war mehr eine kleine Stadt, ganz ähnlich dem Ort, an dem der Prinz Sero zurückgelassen hatte. Das war eines dieser hübschen Fleckchen, ganz anders als das graue und triste Thalea. Neugierig sah sich auch Remy um, der außer der Stadt und dem Palast noch nichts gesehen hatte. Das war die erste Siedlung, die sie auf ihrem Weg passierten und das Leben war überdeutlich zu spüren. Leute auf der Straße grüßten die Reiter freundlich, musterten sie aber auch eindringlich, Kinder spielten und Hunde bellten. Es duftete nach Heu und Frühlingsblumen in den Kästen an den Fenstern der Gebäude.
»Guter Mann«, sprach der Prinz einen Landjunker an, »könnt Ihr mir sagen, ob es in diesem Ort ein Gasthaus gibt?«
»Aber ja. Ihr müsst einfach der Straße folgen. Ihr könnt es nicht übersehen! Ein gutes Bett für die Nacht. Und für Gesellschaft ist auch gesorgt, wenn Ihr versteht!«
»Habt Dank.« Rowan ignorierte die letzte Äußerung und trieb Agrippa leicht an. Und tatsächlich hatten sie nach einer kurzen Weile ein hübsches Fachwerkhaus erreicht, aus dem Musik zu hören war. Ein kunstvoll geschnitztes Schild wies es als Wirtshaus und Herberge aus.
»Warte hier«, wies der Prinz Remy kurzangebunden an, drückte ihm Agrippas Zügel in die Hand und betrat das Gebäude. Der Dieb beobachtete inzwischen die Leute auf der Straße. Es war so vollkommen anders hier als in Thalea. Die Menschen brüllten sich nicht an und es gab auch keine Penner oder Krüppel in Häuserecken. Alles wirkte so sauber und fast heiter. Die nervige Musik aus der Taverne des Gasthauses war das einzige, was an Thalea erinnerte. Und die Situation. Rowan wollte eine Nacht in einem richtigen Bett schlafen, bevor sie am nächsten Tag zu Fuß ihren Weg fortsetzten. Er hoffte, die Pferde für einige Zeit unterstellen zu können. Remy hoffte viel eher, dass dieses bleierne Schweigen bald wieder nachließ. Es war unangenehm, nicht mit Rowan plaudern zu können, sondern nur karge Antworten und manchmal gar nichts zurückzubekommen. Wieder glaubte der Junge, einen Fehler gemacht zu haben. Er hatte den Prinzen nicht verletzen oder kränken wollen, doch dieser wollte die Realität einfach nicht erkennen. Eine Welt, wie er sie sich wünschte, gab es nicht. Und Remy wollte keine Hoffnungen gemacht bekommen, die sich nicht bewahrheiten würden, egal ob in Trallien oder in Annwyn. Er würde doch immer der bleiben, der er war. Bestenfalls ein Diener, schlechtestenfalls weiterhin ein Dieb.
Der Prinz trat wieder aus der Herberge und nahm die Zügel seines Hengstes. »Der Stall ist hinten. Wir versorgen sie und dann essen wir erst mal was anständiges Warmes.«
Remy nickte und konnte in dem duftenden hölzernen Bau erkennen, dass auch die Tiere sich nach einer richtigen Unterkunft sehnten. Nach dem Absatteln und Putzen mampften sie zufrieden das frische Heu und die beiden Männer betraten durch eine hintere Tür das Gasthaus.
Es schien Remy eine Ewigkeit her zu sein, als er zuletzt mit Rowan in einem solchen gewesen war. Dabei waren es nur drei Wochen gewesen. Schweigend folgte der Junge dem Prinzen die Stiege hinauf und in das Zimmer, das er gemietet hatte. Darin standen zwei Betten, dazwischen ein Nachtkästchen. Eine Kommode und ein Tisch mit zwei Stühlen vor dem winzigen Kamin bildeten den Rest der Kammer. Es wirkte sauber und roch leicht nach Kerzenwachs.
»Na, das lässt sich doch aushalten«, murmelte Rowan mehr zu sich selbst und legte seinen Reisesack ab. Seinen Umhang legte er dazu, den würde er beim Abendessen nicht brauchen. Er spürte die Auswirkungen des anstrengenden Ritts in seinen Knochen und rieb sich den Kopf. »Jetzt fehlt nur noch ein heißes Bad, aber das muss warten.« Er brummte, als sein Magen knurrte. Mit einem kurzen Blick ging er an Remy vorbei und wieder in den Flur. Der Junge seufzte, packte sein Zeug auf eines der Betten und folgte ihm. Das würde ein unterhaltsames Essen werden!