Rowan und sein Begleiter hatten die Pferde gemächlich gehen lassen. Der Prinz wäre gern schneller vorangekommen, doch die eine Woche und die paar Stunden, die er und Remy Zeit gehabt hatten, um reiten zu üben, hatten bei weitem nicht gereicht, um diesen wirklich sattelfest zu machen. Nicht für einen Galopp! Ein Teil Rowans jedoch genoss diesen entspannten Ritt durch die blühende Frühjahrsnatur, die trotz der Frische und dem noch immer spürbaren Hauch des Winters zu erwachen begonnen hatte. Der Mischwald am Seeufer, den sie auf einem kaum bemerkbaren Pfad passierten, hatte sein neues Blätterkleid bereits angelegt und sprenkelte nun die Sonne in sich immer wieder neu formenden Mustern auf die Kleidung der Männer und das Fell der Tiere.
Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten und die Farbe des Lichts begann sich zu verändern, als der Prinz von einem lauten Gähnen Remys daran erinnert wurde, wie lange sie bereits unterwegs waren. Rowan wandte den Blick über die Schulter. Den dichten Teil des Waldes hatten sie hinter sich gelassen und ritten nun durch dünn stehende Ausläufer. Das südliche Ende des Sees hatten sie noch nicht erreicht, doch sie waren weit genug gekommen, um das Schloss nicht mehr sehen zu können.
»Mein Hintern tut weh«, maulte der junge Dieb und wand sich. Er verzog das Gesicht und schnaufte und Rowan konnte seinen Unmut nachvollziehen. Den ganzen Tag im Sattel sitzen ging auf die Gesäßmuskeln und den Rücken und ein anderer ungeübter Reiter hätte wahrscheinlich schon viel eher zu protestieren begonnen. Remy war wirklich hartnäckig wie eine Zecke, dass er sich erst nach Stunden des Reitens zu beklagen begann.
»Lass’ uns ein Lager aufschlagen. Es wird bald dunkel und ich möchte ungern in der Nacht weiterreiten.«
Der Junge stöhnte erleichtert und ließ seinen Friesen halten, bevor er aus dem Sattel rutschte und prompt auf seine Knie fiel. »Verflucht!«, lachte er verdutzt. Rowan stimmte mit ein, stieg ab und packte seine Hand, um ihn wieder in die Höhe zu ziehen.
»Du hast eben keine Reitermuskulatur. Das kommt noch.«
»Wozu reiten, ich kann schneller rennen als der Wind!«
»Warum sagst du das erst jetzt, dann hätte ich Loot nicht kaufen müssen!« Rowan grinste, klopfte Remy auf die Schulter und streckte sich anschließend genüsslich und laut brummend. Dabei sah er sich nach einem geeigneten Platz um, um zu rasten. So direkt am Weg wollte er ungern lagern, er kam sich vor wie auf dem Präsentierteller.
»Ihr denkt doch nicht, ich würde den ganzen Weg hinter dem Arsch Eures Paradegauls herlaufen, oder?«
»Mit all dem Gepäck.«
Remy schnaubte und streckte sich ebenfalls. Allmählich verschwand die taube Steifheit in den Beinen und sein Hintern fing zu kribbeln an.
»Los, komm, dort zwischen den Bäumen ist es gut. Da sind wir nicht ganz so offen wie hier.«
Mit Loots Zügeln in der Hand folgte der junge Dieb seinem Herrn, der Agrippa führte. Die beiden Pferde waren ebenso erschöpft wie ihre Reiter und verlangten nach etwas Ruhe. Sie banden die Stricke locker an einen Baum, lang genug, damit die Tiere etwas am jungen Gras knabbern konnten.
»Geh’ du Holz sammeln.« Rowan zog die kleine Tasche mit dem Zelt aus seinem Reisesack und begann routiniert, die dicke Plane zu spannen. Remy sah ihm einen Moment interessiert zu, bevor er sich abwandte und nach kurzer Zeit mit einem Arm voller dicker Äste und Zweige zurückkam.
»Vielleicht hätten wir eine Axt mitnehmen sollen?«
»Ich habe eine«, antwortete der Prinz, ohne den Kopf zu heben. Er spannte die Regenplane, denn obwohl der Himmel über Trallien blau war, mit einem Hauch vom Orange des nahenden Abends und harmlosen, dicken weißen Wolken, hatte er inzwischen gelernt, wie schnell das Wetter im Hochland umschlagen konnte.
»Sie ist aber nur klein. Bäume fällen kannst du damit nicht.« Rowan hob seinen Umhang und in der Tat war hinten an seinem Gürtel ein kleines Beil befestigt. Er zog es ab und warf es Remy zu. »Behalt’ sie.«
»Wie?«
»Als Waffe. Falls du dich verteidigen musst. Aber verlier’ sie nicht, die ist nützlich.«
»Danke ...«
»Nicht der Rede wert. Ist das Holz feucht?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das Sonnenlicht hat gereicht, um es zu trocknen. Vielleicht bisschen klamm, aber nicht nass.«
»Na, es wird genügen.« Müde rieb sich der Prinz mit den Händen über das Gesicht, nachdem er seine Handschuhe ausgezogen hatte. »Ich hoffe, es regnet nicht wieder. Das wird ungemütlich beim Wache halten.«
»Wache?« Remy hockte sich auf einen kleinen Findling und betrachtete die Axt, bevor er den Kopf hob.
»Natürlich. Einer schläft, der andere hält Wache. Ich bin ein Fremder in einem Land mit einem despotischen König, der es lieber gehabt hätte, wenn ich nach Hause aufgebrochen wäre. Außerdem haben wir Geld und Wertsachen dabei. Es wäre selbst in Annwyn naiv, keinen Wachposten aufzustellen.«
»Ist wohl doch nicht so perfekt, hm?«
Rowan schmunzelte. »Leute, die andere bestehlen, gibt es überall.«
»Ich hab Hunger«, murmelte Remy.
»Wirst du in den nächsten zehn Minuten daran sterben?«
»Mit Sicherheit, Eure Königliche Hoheit«, antwortete der junge Dieb sarkastisch und grinste frech.
Rowan musterte ihn mit ausdruckslosem Gesicht, wieder einmal so lange, bis Remy den Kopf senkte und sich fragte, warum dieser Mann das immer machte. Hatte er etwas im Gesicht oder fand Rowan das einfach nur witzig?
»Du magst es nicht, wenn man dich ansieht, oder? Du reagierst wie ein Hund, entweder fliehst du, sprich du siehst weg oder du wirst bissig.«
»Ich weiß nicht, was das soll. Wenn Ihr mich für irgendeine Frechheit rügen wollt, dann tut das doch einfach, aber starrt mich nicht so an!«
Der Prinz lächelte. »Ich will dir nichts Böses. Ich versuche nur ... zu ergründen, was für ein Mensch du bist, das ist alles.«
»Indem Ihr mich anstarrt?«
»Was spricht dagegen? Ich starre nicht, ich betrachte.«
»Unsinn.« Remy hatte das Gesicht abgewandt und rieb sich mit den Fingern über die Haut. Rowan bemerkte, dass er dabei über seine Narbe fuhr. Konnte es sein, dass er, obwohl er so tat, als würde ihn das nicht interessieren, sich insgeheim für diesen so deutlich sichtbaren Makel schämte?
Der Prinz atmete tief durch und erhob sich. Im Vorbeigehen klopfte er Remy auf die Schulter. Rowan wollte nicht, dass er sich unwohl fühlte. Das Eis zwischen ihnen hatte bereits Risse bekommen, doch ganz gebrochen war es noch nicht und unter keinen Umständen wollte der Kronprinz, dass es wieder gefror, weil Remy sich womöglich verurteilt oder ausgelacht fühlte.
»Na los, bereite das Feuer vor. Ich schaue mal, ob es Fische in diesem See gibt.«
»In Thalea erzählt man sich, der Drachensee hieße so, weil ein richtiger Wasserdrache darin lebt.« Remy nuschelte. Rowan hatte manchmal eine Art an sich, die ihn zutiefst verunsicherte. So freundlich war noch nie in seinem Leben jemand zu ihm gewesen, Frau Enid ausgenommen, und die schlechten Erfahrungen seiner jungen Jahre flüsterten dem Dieb immer wieder leise ins Ohr, dass der Prinz dafür womöglich eine Gegenleistung fordern würde. Eine, die über ihre Übereinkunft hinausging. Obwohl Remy das nicht glaubte, nicht glauben wollte und sich weigerte, auf diese Stimmen zu hören, waren sie dennoch da. War es das, was der Prinz gemeint hatte? Dass Remy nicht vertrauen konnte und ihm sein Verstand deswegen so böse Sachen einflüsterte?
»Ein Wasserdrache?« Rowan, der nichts vom inneren Zwist seines Begleiters mitbekam, grinste. »Na, wenn das stimmt, hoffen wir mal, dass wir ihn nicht stören. Vielleicht ist es nur ein Krokodil.«
Der Junge zog die Augenbrauen zusammen. »Was ist das denn?«
»Eine Art Drache. Schon mal eine Eidechse gesehen? Ein Krokodil ist hundertmal so groß. Aber das war mehr ein Scherz. Denen ist es hier viel zu kalt, die gibt es im Süden. Hab ich zumindest gehört. Dort, wo es richtig heiß ist.«
»Kann man so ein Ding essen?«
»Bestimmt.« Der Prinz zog eine feine Schnur und einen Haken aus einem winzigen Päckchen.
»Was habt Ihr vor?«
»Angeln.« Vergnügt grinste Rowan und marschierte durch die Bäume hindurch, hinter denen das Abendrot im See glitzerte. Remy, der zwar neugierig war, seufzte leise und blieb am Lagerplatz. Er schichtete etwas von dem Holz zu einer kleinen Pyramide auf. Mit einem der Feuersteine, trockener Baumrinde und der Klinge von der kleinen Axt hatte er nach einigen Versuchen ein gemütliches Feuerchen zum Brennen gebracht und war ziemlich stolz auf sich. In Thalea hatte er so etwas nur gemacht, wenn sie mal einen Unterschlupf mit einem Kamin gehabt hatten - was so gut wie nie vorgekommen war. Für das Entzünden einer einfachen Öllampe hatte auch ein Streichholz gereicht. Erschöpft lehnte der Junge schließlich an einem der Bäume, sah in die Flammen und spürte, wie sich ihm die Kehle zuzog. Dieses offene Feuer holte die schmerzliche Erinnerung an die Nacht wieder hoch, mit der alles geendet und gleichzeitig begonnen hatte. Er zog hektisch die Nase hoch und wischte sich über die Augen, als er die Schritte Rowans hörte, der mit zwei Fischen an der Schnur zurückkehrte.
»Das ging schnell. Ein Drache lebt da sicher nicht drin, sonst hätten die Fische nicht so gut gebissen.« Er lächelte, doch das verblasste, als er Remy ins Gesicht sah. Es war noch nicht so dunkel, dass der Prinz die Rötung seiner Augen nicht hätte sehen können.
»Komm her, ich zeig’ dir, wie man sie putzt.« Rowan nahm das Jagdmesser und die kleine Pfanne und wartete, bis Remy neben ihm in die Knie ging. Der sah aufmerksam zu, wie der Prinz die harten Schuppen abkratzte und die ungenießbaren Köpfe entfernte. Der junge Dieb hustete verkrampft, als Rowan den Bauch aufschnitt und die Eingeweide herausriss.
»Boah, ihh«, brummte Remy.
»In Thalea habt ihr Ratten gegessen, sagtest du. Ist das hier anders?«
»Ja. Anders eklig. Wir ... Loot und ich haben mal ein Vieh gefangen, so groß wie einer dieser Terrier, den die feinen Herren mit sich herumschleppen. Festmahl, hätte man denken können. Aber nee. Das Mistvieh war so toller Geschwulste, als hätte da noch ein anderes Lebewesen drin gelebt. Mit Essen war’s also Essig.« Der Junge lachte leise, doch das Heitere verschwand sehr schnell aus seiner Stimme und er verstummte. Rowan hatte ihm das Gesicht zugewandt und sah ihn einen Moment schweigend an. Doch dieses Mal reagierte Remy nicht darauf. Stattdessen waren seine Augen zurückgerichtet, in eine Zeit, die er verloren hatte.
»Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte er sehr leise. »Wenn ich da gewesen wäre, wäre das nicht passiert!«
Der Prinz wischte sich die Hand an seinem Umhang ab und legte sie Remy an den Hinterkopf. Der hob den Blick und sah in ein lächelndes Gesicht.
»Du hast daran keine Schuld. Red’ dir das nicht ein!«
Unwirsch machte der junge Dieb sich los und stand auf. »Was versteht Ihr denn davon, Prinz? Gar nichts! Wenn ich schon nichts habe, dann lasst mir wenigstens meine Schuldgefühle! Denn die könnt Ihr mir nicht ausreden. Ich habe das Versteck ausgesucht und dann bin ich gegangen, während drei von ihnen verbrannt sind und mein bester Freund abgestochen wurde. Sagt mir, wie ich damit leben soll? Wie das nicht meine Schuld sein kann?!«
Rowan erhob sich. »Was du gerade fühlst, ist normal. Ich weiß, das klingt abgedroschen. Wenn so etwas geschieht, fühlen sich die Überlebenden oft schuldig, obwohl sie keine Schuld tragen. Was wäre denn gewesen, wenn du da gewesen wärst? Womöglich wärst du auch tot. Ich sehe dich, Remy, du warst nicht mal stark genug, um dein eigenes Fliegengewicht auf ein Pferd zu hieven. Meinst du, du hättest einen Kampf überstanden?«
»Dann wäre ich aber nicht hier! Dann wäre ich nicht ... nicht allein, verstehst du das nicht?! Ich hab die einzige Familie verloren, die ich hatte und ...« Remy ballte die Hände zu Fäusten und schluchzte. Rowan nickte und machte einen Schritt auf den Jungen zu.
»Es stimmt ... ich verstehe es nicht. Du hast so viele Dinge in deinem Leben ertragen müssen, von denen ich keine Ahnung habe. Ich wünschte, ich könnte dir helfen ...«
Remy hob den Kopf und seine kastanienbraunen Augen glitzerten im Licht der untergehenden Sonne von den Tränen, die darin standen und langsam über seine Wangen kullerten.
»Ich bin so wütend«, brachte er hervor, halb gehaucht, halb geschluchzt, atemlos und mit brüchiger Stimme. »Ich will doch nur ... ich weiß nicht, was ich will. Als mir das Gesicht zerschnitten wurde, war der Schmerz nicht halb so schlimm wie dieser hier ...«
»Ich weiß etwas, das hilft. Meine Mutter hat das immer getan, wenn wir als Kinder wegen etwas aufgewühlt waren«, murmelte der Prinz leise. Er kannte Remy inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ihn nicht einfach eigenmächtig umarmen konnte. Und wie er sich gedacht hatte, war Remys Blick misstrauisch.
»Hat das was mit Anfassen zu tun? Umarmen oder so? Nein, ich will nicht. Tut mir leid.« Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zog die Nase hoch. Der kleine Ausbruch schien ihn alle Kraft gekostet zu haben.
»Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Ich zwinge dich nicht. Ich bin nicht wie diese Leute, vor denen du dein Leben lang weggelaufen bist.«
»Ich weiß ... Würdet Ihr auf Männer stehen - manche tun das ja - wäre mir das total egal. Aber wärt Ihr ein Kinderficker, hätte ich Euch schon in Thalea abgestochen. Da ich das nicht habe ...«
Rowan lächelte leicht. »Nein, ich bin keiner.« Er musterte den Burschen vor sich, der sich mit den Fingern die Augen rieb. Seine Nase lief noch immer. »Obwohl das mit dem ‘Kinderficker’ bei dir nicht mehr zutrifft. Du bist kein Kind mehr.«
Remy schnaubte. »Ich mache trotzdem für niemanden die Beine breit, auch für einen Prinzen nicht. Hab ich nie, werd ich auch nie.« Ein Stück seines gewohnten Kampfgeistes war zurückgekehrt, denn er schenkte seinem Gegenüber ein feines, spöttisches Lächeln.
»Du bist also noch unberührt? Ehrlich gesagt hab ich mir das fast gedacht.«
Der Kopf des jungen Diebes zuckte leicht, doch er sagte nichts. Stattdessen presste er nur die Lippen zusammen und ließ sich auf seinen Hosenboden fallen, während Rowan die kleine Pfanne auf die Holzscheite des Feuers stellte, um den Fisch zu garen.
»Prinz Rowan?«, murmelte Remy leise.
»Rowan reicht. Was ist?«
»Ich würde gern ... ich bin so müde ...«
Der Prinz nickte. »Leg’ dich schlafen. Du kannst nachher beim Wachwechsel essen.«
Remy legte den Umhang ab, den er über seinem Mantel getragen hatte und kroch unter das Zelt, wo auch die Reisesäcke lagen. Er zog sich seinen unter den Kopf und den wollenen Umhang wie eine Decke über sich. Es dauerte keine Minute und er schlief fest wie ein Kind. Rowan blieb am Feuer sitzen, mit einen guten Blick auf seinen jungen Begleiter. Was hatte der nur an sich, dass er den Prinzen seit ihrer ersten Begegnung zwang, über ihn nachzudenken? Rowan seufzte und erhob sich, um die Pferde zu versorgen, gab ihnen etwas von dem Hafer und nahm ihnen die Sättel ab.
Während er sein Mahl verzehrte, dachte er über die kleine Schatulle nach, die noch immer verborgen in seinem Reisesack war. Inzwischen war es stockfinster geworden, denn die Nacht kam schnell in Trallien, und das kleine Feuer gab nicht genug Licht. Er würde sich morgen früh mit dem Inhalt befassen.
.
Vogelzwitschern weckte Rowan am nächsten Morgen. Brummend rieb er sich über den Kopf und hob diesen, um sich umzusehen. Das Zelt und die Regenplane, die zum Glück überflüssig gewesen war, hielten den blassen morgendlichen Sonnenschein von ihm fern.
»Remy?« Er räusperte sich, um seine Stimmlage zu finden. Der Gerufene gab keine Antwort und so krabbelte Rowan unter der Plane hervor und sah sich um. Ihr Lager wirkte so aufgeräumt wie am Abend. Die Pferde waren gefüttert worden und in den Flammen eines kleinen Feuers stand die Messingkanne. Es duftete leicht nach Kaffee, also konnte Remy nicht so weit sein. War er an den See gegangen, um Morgentoilette zu machen oder war er nur dabei, ein Geschäftchen zu erledigen?
Gähnend und sich erneut über die dunklen Haare reibend, ging der Prinz an das nahegelegene Seeufer, wo der Schilf nicht so dicht stand und ein schmaler Sandstreifen einen natürlichen Strand bildete.
Und tatsächlich hockte der Junge dort, wusch sich das Gesicht und nahm einen Schluck des Wassers, um sich energisch den Mund auszuspülen. Rowan hatte ihn länger schlafen lassen, was ihm sichtbar gut getan hatte.
»Morgen«, nuschelte der Prinz und ging in die Hocke, um das kalte Wasser seinen Dienst tun zu lassen.
»Ihr seht kacke aus. Das nächste Mal müssen wir einen besseren Platz finden, damit wir beide schlafen können! Das ist nicht gesund.«
»Ich wette ...«, Rowan gähnte erneut, »in Thalea hat auch immer einer Wache schieben müssen.«
»Ja. Und deswegen ist es ja so beschissen.« Remy erhob sich und der Prinz konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass er die kleine goldene Dose in seine Tasche schob, zusammen mit einem Bürstchen. Remy benutzte also das Zahnpulver von ihm.
»Wir werden sehen. Heute bin ich mit länger schlafen dran. Das war nur ein einmaliger Liebesdienst, weil du gestern so fertig warst.«
»Ich brauche keine Liebesdienste, Prinz!«
»Versteh’ doch nicht immer gleich alles anstößig, das ist ja schlimm mit dir. Für welche Art Mann hältst du mich denn?«
»Einen von der schrägen Sorte. Gutmütig und großzügiger als vielleicht gesund für Euch ist. Und ... viel zu fürsorglich einer Ratte wie mir gegenüber!«
»Hör’ doch auf«, nuschelte Rowan und warf sich etwas Wasser ins Gesicht. »Mach’ dich nicht immer so klein. Ich hab dich gern. So einfach. Ohne anrüchige Hintergedanken.«
»Wenn Ihr das sagt!«
»Das Zauberwort hier lautet Vertrauen.«
»Ihr ... vertraut mir?«
Rowan erhob sich und lächelte. »Du hättest schon etliche Male mit all meinem Besitz einfach abhauen können. Doch du bist hier, statt mit meinem Geld zurück in Thalea zu sein. Oder irgendwo anders. Ich nehme das als Indiz dafür, dass ich dir trauen kann. Deine Freunde haben dir auch vertraut. Warum sollte ich es also nicht?«
»Weil Ihr ein Prinz mit einem goldenen Löffel im Mund seid und Leute wie Ihr Menschen wie mir nicht mal zugesteht, so viel wert zu sein wie der Schmutz an Euren Schuhen. Die Reichen denken doch nur das Schlechteste von den Ärmsten der Armen.«
»Ich dachte, das hätten wir schon geklärt? Das gilt nicht für mich. Ich gebe jedem eine Chance. Ich habe dich aus dem Kerker geholt, weil ich Mitleid mit dir hatte. Doch ich behalte dich bei mir, weil du dich bewiesen hast. Dass du mehr bist als eine thaleanische Kanalratte. Du wirst damit leben müssen, dass ich dich wertschätze, mein Freund.« Grinsend ging Rowan wieder in die Hocke und machte seine Morgentoilette zu Ende, während Remy sich räusperte und abwandte.
»Ich schneid Brot auf«, nuschelte er und nahm Reißaus. Dieser blasierte Prinz! Meinte er, es machte ihn besonders toll, so zu betonen, wie gut und nett und freundlich er war? Wie verdammt anders als alle anderen Vertreter des Adels in diesem Land er war? Remy wollte nicht, dass Rowan so kackfreundlich zu ihm war. Merkte er denn nicht, dass ihn das belastete? Remy rutschte immer tiefer in die Schuld, in der er bereits bei dem Prinzen stand. Der sorgte für ihn, hatte ihn neu eingekleidet, gab ihm zu essen, hatte ihn trösten wollen - wie ein Freund. Aber das war doch nicht richtig, oder? So funktionierte das mit seinem echten Knappen, der sich das Bein gebrochen hatte, bestimmt nicht. Der Junge sah in den hellen Morgenhimmel. Andererseits hatte Rowan gesagt, in der Wildnis hatten sie nur einander, sie konnten sich nur auf den anderen verlassen, sie mussten einander vertrauen oder es könnte sie beide das Leben kosten.
Warum also fiel es ihm, Remy, so schwer, den Worten des Prinzen zu glauben? Sei es die freundliche Aussage, was die Schuldgefühle des jungen Diebes betraf oder die Versicherungen, dass Rowan keiner von denen war, die unmoralische Dienste von ihm einfordern würden. Es schien in Annwyn normal zu sein, Zuneigung durch Berührungen zu zeigen, denn der Kronprinz tat so was immer wieder - er legte Remy die Hand auf die Schulter oder klopfte ihm kameradschaftlich darauf, reichte sie ihm, um ihm aufzuhelfen, hatte ihn berührt, um seine Wunden nach der Auseinandersetzung mit den trallischen Prinzen zu versorgen, hatte ihm sogar beim Baden geholfen! Berührungen, die Remy zu einem großen Teil unangenehm gewesen waren. Und sich trotzdem merkwürdig tröstend angefühlt hatten. Vielleicht war Nähe, ganz ohne Hintergedanken, wie er sie sein Leben lang hatte ertragen müssen, doch keine so schlechte Sache ...
Unwirsch den Kopf schüttelnd zog er die Satteltaschen mit dem Proviant unter der Zeltplane hervor und nahm einen kleinen Brotlaib heraus, zusammen mit dem Jagdmesser des Prinzen. Er hörte ihn über das steinige Gras zum Lager zurückkommen und wandte den Kopf herum. Rowan trocknete sich im Gehen mit einem Tuch ab und lächelte in den fahlen Sonnenschein. Die Müdigkeit war ihm wie aus dem Gesicht gewischt.
»Ein wunderbarer Morgen.«
»Wenn Ihr meint.« Remy brach den Laib in zwei Hälften und hielt dem Prinzen eine hin. Der nahm sie und musterte den Jungen schmunzelnd.
»Hast du denn gar keinen Blick dafür?«
»Ich weiß nicht. Ist es verrückt, dass ich in diesen Wäldern mehr Schiss habe als in den Häuserschluchten und Bruchbuden der Stadt?«
Rowan nahm die Kanne aus dem Feuer und goss den Inhalt in zwei Becher. Der war brühheiß und roch sehr stark.
»Ich glaube, wir fürchten am meisten das, was uns fremd ist. Für ein Stadtkind muss das hier eine andere Welt sein. Aber verrückt ist es nicht. Hier.«
»Ihr seid fremd in diesem Land. Und ich bin Euch nicht mal eine Hilfe.« Remy lachte spöttisch auf. »Ihr hättet Euch einen Bauernsohn als Knappen anstellen sollen, der all diese ... Überlebenstricks kennt. Ich kann stehlen. Aber ich weiß nicht, wie man Fallen baut oder jagt oder mit einer richtigen Waffe umgeht. In der Natur bin ich total aufgeschmissen.«
»Das macht nichts. Kämpfen kann ich dir beibringen, wenn du magst. Und alles andere wird auch gut werden. In erster Linie bin ich froh, hier in der Fremde nicht ganz allein zu sein. Man wird ... sonderlich, wenn man niemanden zum Reden hat.«
»Noch sonderlicher als Ihr schon seid?« Remy prustete und hob entschuldigend die Hand.
»In Annwyn schätzt man meine Eigenschaften sehr.«
»Oh ja, vor allem die feinen Damen, die Ihr umgarnt und die sich hübsche Geschenke erhoffen, im Austausch für ihre Gefälligkeiten.«
»Woher hast du nur diese Vorstellungen?«
Der Junge zuckte mit den Schultern und biss in sein Brotstück. »Man redet. Also gibt es keine Frauen, die Euch Honig um den Mund schmieren, Euch ... Dinge mit ihnen tun lassen und dafür etwas Hübsches von Euch wollen?«
»Die gibt es. Aber nicht für mich. Ich verstehe mich nicht so auf die Verführungskunst.«
»Weil Frauen Euch langweilen. Ihr sagtet es irgendwann mal. Obwohl ich nicht weiß, inwiefern Langeweile und Ficken sich ausschließen. Die meisten machen es doch gerade, weil ihnen langweilig ist.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Intimität und Triebbefriedigung. Wenn ich dich so reden höre, denke ich, du kennst nur Letzteres. Von Huren und ihren Freiern.«
Remys Schultern zuckten erneut. »Kann schon sein. Ich weiß nicht, was Leute an etwas finden, das sie wie Schweine grunzen lässt. Oder sie dazu bringt, es überall zu tun wie die Tiere.«
Rowan machte große Augen. »Du ... warst also wirklich noch nie mit einer Frau zusammen, oder?«
Der junge Dieb presste die Lippen zusammen und wich seinem Blick aus. »Und wenn? Ist das so wichtig?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wenn ... wenn man von kleinauf sieht, wie Huren ihre Freier bedienen und wie die sich dabei ... benehmen und anhören und ... welche Gerüche dabei ausgedünstet werden. Oder wenn man selbst wie Ware auf einem Markt angeglotzt wird, weil gerade nix anderes da ist ... Ihr hättet sicher auch keinen Bock darauf gehabt, es mal selbst auszuprobieren. Mich gibt es doch nur, weil ein Freier zu einer Hure gegangen ist. Das ist einfach nur widerlich.«
»Das vielleicht. Aber du nicht.«
»Und deswegen seid Ihr ein Sonderling!«
»Und du bist unverschämt«, lächelte Rowan und nippte an seinem Becher. »Da will man nett sein ...«
»Tut das nicht. Seid nicht so nett zu mir. Ich weiß nicht, woran ich bin.«
»Ich will das Beste für dich. Nicht mehr, nicht weniger. Ich hab was versprochen und ich halte es.«
»In Thalea bedeutete ‘mein Bestes’ meinen Arsch. Das ist keine glückliche Formulierung.«
»Remy! Wie oft denn noch?«
»Ja. Tut mir leid. Ich versuch es ja.«
Rowan zog neckisch eine Augenbraue hoch. »Ich hätte dir schon längst Avancen gemacht, wenn ich Interesse an deinem spindeldürren Leib hätte, meinst du nicht?«
»Und ich wette, Ihr meint, ich hätte längst nachgegeben, weil mich Eure blauen Augen so faszinieren?«
Beide lachten und verzehrten schließlich schweigend ihr Frühstück. Der Morgen war noch jung und allmählich verschwand der feuchte Dunst. Agrippa und Loot, die ihre Mahlzeit beendet hatten, schnaubten gemächlich in ihre Futtersäcke und Remy streckte sich schließlich.
»Soll ich dann zusammenräumen?«
»Nein, warte noch. Ich hatte doch von dem Kästchen der Königin erzählt. Gestern waren wir zu erschöpft, um es in Augenschein zu nehmen. Das sollten wir nachholen. Ich will wissen, woran wir sind.«
»Ja, ein Anhaltspunkt für Eure Irrfahrt wäre vielleicht gut, sonst drehen wir in zehn Jahren noch jeden Stein in Trallien um ...«
Rowan zog seinen Reisesack unter der Plane hervor und räumte ihn aus, bis er das Gesuchte gefunden hatte.
»Ein Geheimnisträgerchen«, murmelte Remy, als er das hölzerne Kästchen sah.
»Wie bitte?«
»Äh ... diese Schatullen nennt man so. Zumindest hier. Weil man sie abschließen kann und es schwer ist, sie aufzubrechen. Man bekommt sie auf dem Markt in Thalea und auch sonst fast überall zu kaufen. Sie sind nicht besonders viel wert, deswegen lohnt es sich nicht, sie zu stehlen. Außer natürlich, da ist etwas drin.«
Rowan musterte das kleine Schnitzwerk. »So leicht wie es ist, bezweifle ich, dass es sehr viel ist.« Er löste den am Boden klebenden Schlüssel und schloss das Kästchen auf. Darin war in der Tat fast nichts. Ein zusammengerolltes Schreiben auf einer kleinen hölzernen Pergamentbriefrolle und eine kurze, leicht gelockte Strähne sehr feinen hellblonden Haares, umwunden mit einem rosafarbenen Seidenband.
»Sind das ... Menschenhaare?« Remy lehnte neben Rowan.
Der Prinz ergriff das kleine Bündel und drehte es in den Fingern. »Erinnert mich an die Haare meiner Schwester, kurz nachdem sie geboren worden ist. Das ist die Locke eines Säuglings, jede Wette.«
»Makaber.«
Nickend legte Rowan das Strähnchen zurück und nahm die Schriftrolle. Sie war in keinem guten Zustand, wirkte stockfleckig, als wäre sie mal feucht geworden und als der Prinz sie aufrollte, konnte er in der Tat von dem Geschriebenen nichts wirklich mehr lesen.
»Mist. Das ...«, er hielt es ins Licht, »sieht aus wie ein Vertrag. Aber ich kann kaum was entziffern.«
»Was ist mit denen, die unterschrieben haben?« Remy betrachtete das Pergament. Da er nicht gut lesen konnte, war er noch nutzloser dabei als der Prinz, der die krakeligen, von Schimmelflecken verunstalteten und verblassten Tintenspuren zu entschlüsseln versuchte.
»Ah ... die Unterschrift und den Siegelstempel kenne ich. Das ist Thedosio. Siehst du? Ein Edelstein und eine Spitzhacke, das Wappen von Trallien und darunter sein Name. Aber das hier ... hmmm ... Li ... das, würde ich sagen, ist ein g ... ta. Mann, der hatte vielleicht eine Klaue.«
Doch Remy horchte auf. »Li, g, ta, sagt Ihr? Vielleicht Ligurtha?«
»Ja, ja, jetzt wo du es sagst, das könnte es sein. Wer soll das sein?«
»Kommt der Tag, an dem ich Euch was beibringe? Sagt nicht, Ihr habt noch nie von Ligurtha gehört?«
»Ähm ...«
»Ich erzählte Euch doch davon, dass man uns im Waisenhaus mit Märchen Angst zu machen versucht hat. Mit Geschichten von einer Hexe, die Kinder stiehlt, um ihr Fett zu Zaubertränken zu machen oder um Wünsche zu erfüllen. Das ist Ligurtha. Die Wunschhexe. Sie soll hunderte von Jahren alt sein.«
»Aber das ist doch sicher nur eine Geschichte?«
»So? Was meint Ihr, wie groß ist der Zufall, dass Ihr einen zwielichtigen Vertrag findet, zusammen mit der Locke eines Kindes, unterzeichnet mit diesem Namen und dem des Königs?«
Rowan wandte den Blick wieder auf das verblichene Schriftstück. Remy hatte nicht Unrecht. Womöglich mochten die Hexe und die verschwundene Prinzessin beide in das Reich der Mythen gehören, doch hier war ein physischer Beweis für ein Kind und wenn dieses existierte, war die logische Konsequenz, dass es auch die Hexe tat. Oder zumindest jemand, der diesen Namen benutzte und einen Vertrag unterschrieben hatte. Vielleicht hatte der König seine Tochter auch nur an eine verzweifelte Frau verscherbelt, die sich ein Kind gewünscht hatte. Egal, was es war, es war ein Hinweis.
»Gut. Gehen wir mal davon aus, du hast Recht. Wo soll diese Hexe leben?«
Remy stieß hart die Luft aus. »Ihr seid wahnsinnig. Der Legende nach heißt es, sie lebe weit im Süden. In den Drachenhöhen. Doch niemand war je so dumm, dort hinzugehen und nach ihr zu suchen.«
»Wie macht sie dann dem Mythos nach ihre Geschäfte?«
»Sie hört die Wünsche und kommt zu denen, die sie rufen, sagt man. Aber das tun nur die, die wirklich verzweifelt sind, denn der Preis ist viel zu hoch. Für manchen Wunsch zahlt man mit einem Kind, heißt es. Andere bezahlt man mit seinem eigenen Leben.«
»Hat sie je einer gesehen?«
»Wenn ja, werden die nicht so dumm sein, damit zu prahlen. Die ... alte Hexe von Waisenhauswärterin erzählte immer besonders reißerisch, Ligurtha würde denen, die von den Abmachungen mit ihr sprachen, die Zunge herausreißen. Sie drohte uns oft dasselbe, wenn wir uns beklagten.«
»Für mich klingt das wie das sadistische Ausnutzen kindlicher Naivität. Doch in dem Fall weißt du besser Bescheid als ich. Ich glaube, wir haben zumindest einen Ansatz von einem Ziel für unseren weiteren Weg.«
»Der wäre?«
»Na gen Süden.«
»In die Berge? Wenn ... wenn die Legenden wirklich stimmen, dann ist nicht nur das Gebirge ein Hindernis.«
»Sondern?«
»Man sagt, das Schloss der Hexe werde von einem Drachen bewacht!«