Es war Mittag, als sie die hügelige Landschaft hinter sich ließen und sich vor ihnen eine grasgrüne Ebene mit licht stehenden Baumgruppen öffnete. Sie folgten noch immer dem Flusslauf und Remy wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
»Mann, in der Nacht bitterkalt und jetzt ist es fast warm. Können wir nicht eine Rast machen? Mein Rücken tut weh. Eurer nicht auch? Schlafen im Sitzen, schön blöde.«
Rowan atmete die Luft tief ein, die den feinen Hauch des Frühlings mit sich trug. Er nickte und wandte Remy das Gesicht zu.
»Wäre es dir weniger peinlich gewesen, heute Morgen aufzuwachen und auf mir zu liegen?« Er lachte, als der Junge sich verlegen räusperte und zügelte seinen Hengst. »Ja, lass uns rasten. Ich würde mich gern anständig waschen. Ich hab seit drei Tagen nicht gebadet.«
Er klopfte Agrippa auf den Hals und stieg ab. Dumpf klang das Geräusch seiner Stiefel, als er auf dem Boden aufkam und sich reckte. Das Flussufer war grün und weniger felsig. Schilf stand an manchen Stellen und das Wasser glitzerte in der Sonne wie Edelsteine.
»Na los, runter mit dir. Ich denke, du willst eine Pause.« Rowan führte sein Pferd an das seichte Wasser, damit Agrippa sich satt trinken konnte und Remy fiel mehr als dass er abstieg. Er knurrte und rieb sich den Steiß.
»Fünfzehn Jahre in Thalea hatte ich nicht einmal Rückenschmerzen und kaum bin ich mit Euch unterwegs, tut alles weh.« Er murrte und zog den Mantel aus, da es ihm zu warm geworden war. Dasselbe vollführte er mit seiner wollenen Weste und stopfte sie rigoros in seinen Reisesack.
Rowan beobachtete ihn dabei, wie er sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht wischte und fing zu grinsen an. »Du jammerst wie ein Maultier.« Der Prinz sah über seine Schulter und überblickte das Flussufer. Es war flach und der Daraius an dieser Stelle langsam und gemächlich. Vor sich hin grinsend legte auch er seinen Umhang und den Rock ab und hängte beides über einen Stein. »Vielleicht musst du mal auf andere Gedanken kommen ...«
»Ach und wie?« Remy drehte sich um, nachdem er Loot ans Wasser geführt hatte und fand sich in der nächsten Sekunde in einer kräftigen Umklammerung wieder. Rowan hatte den jungen Dieb gepackt, der im Gegensatz zu dem wohlgenährten Prinzen fast nichts wog, und zog ihn ohne Federlesen zum Fluss.
»Nein! Hey, aufhören!«, protestierte der Junge und wehrte sich, doch Rowan lachte nur, als sie zusammen ins Wasser fielen und komplett untertauchten. Spotzend und spuckend kam Remy wieder hoch und starrte entgeistert auf den aus vollem Halse lachenden Rowan. Der junge Mann hatte ihn noch nie so lachen sehen und konnte nicht verhindern, dass er trotz seiner Überraschung und der Überrumpelung ebenfalls in Gelächter ausbrach.
»Ihr seid vielleicht ein Arsch!«
»Und schon meckerst du nicht mehr über deinen Rücken! Los, Waschen. Wenn wir schon mal da sind!«
»Meine Klamotten sind klitschnass!«
»Meine auch? Du hast doch welche zum Wechseln, mach’ nicht so einen Aufstand. Du bist nicht mehr in der Stadt und besitzt nur ein dreckiges Hemd.« Rowan rubbelte sich grinsend das Wasser aus dem kurzen schwarzen Haar und die Tropfen glitzerten wie Diamanten.
»Ihr ... habt Recht. Ich vergesse so vieles.«
»Schon gut.« Rowan trabte ans Ufer und zog Weste und Hemd aus, um sie auszuwringen. Sie würden in der unerwartet warmen Sonne schnell wieder trocknen. Stiefel und Hose gesellten sich dazu. Nur in den Unterhosen und mit einem Stück Seife kehrte er in den leise gurgelnden Fluss zurück, penibel darauf achtend, nicht zu weit hineinzugehen. Wenn eine Strömung ihn erfasste oder er den Grund unter den Füßen verlor, wäre er verloren.
»Worauf wartest du? Oder soll ich mich umdrehen?« Rowan grinste über Remys Zier, der sich die nassen Haare zurückstrich, mit den Augen rollte und seine Kleider ablegen ging.
»Warum hat ein Königssohn eigentlich nie schwimmen gelernt?«, fragte er, als er wieder im Wasser war und sich einzuseifen begann. Diese ganze Prozedur war noch ungewohnt für ihn und es fühlte sich komisch an, wie sehr seine saubere Haut nach dem Bad immer spannte.
»Ich weiß nicht«, gab Rowan offen zurück. »Es gibt keine Seen oder Flussläufe in unmittelbarer Nähe zum Palast und als Kind kam ich selten wirklich von dort fort. Und als ich erwachsen war, hab ich nicht mehr daran gedacht. Offen gesagt ... ich wollte es wahrscheinlich auch nicht lernen.«
»Warum das?« Remy spülte sich die Haare aus und sah den Prinzen neugierig an. Der musterte ihn und lächelte. In dieser Sekunde hatte Remy tatsächlich etwas von einem Hundewelpen. Wie unglaublich jung er aussah mit den kastanienbraunen Knopfaugen.
»Ganz ehrlich?«
Remy nickte.
»Angst. Ist das nicht die offensichtlichste Erklärung?«
»Also ... habt Ihr Angst vor Wasser?« Der junge Dieb grinste frech, tauchte seine Hände ein und bewarf den Prinzen mit einer ganzen Ladung davon.
»Hey!« Rowan lachte und setzte sich zur Wehr. »Ja, ich hab Angst. Aber nicht vor so etwas hier.« Eine Weile lang balgten sie sich und spielten wie zwei Kinder, lachten und vergaßen sich völlig. Agrippa und Loot hatten sich derweil etwas vom Flussufer wegbewegt und grasten gemütlich vor sich hin. Außer Puste hob Rowan nach einer Weile die Hände.
»Ich ... ergebe mich. Puh. Langsam wird es kalt, findest du nicht?«
Remy betrachtete den Prinzen, dessen Lippen tatsächlich etwas bläulich geworden waren. »Ihr vertragt die Temperaturen nicht, hm?«
»Sagt der, der gestern Nacht drei Decken und Nestwärme gebraucht hat.«
»Das ...«, Remy lief rot an und wandte das Gesicht ab, »war etwas vollkommen anderes!«
Rowan ging an dem Jungen vorbei und klopfte ihm wie so oft auf die Schulter. Etwas, das sich mit nackter Haut für Remy merkwürdig anfühlte.
»Ich ziehe dich doch nur auf.« Lächelnd verließ der Kronprinz das Wasser und rubbelte sich am Ufer die Haare aus. Sich umsehend, zog er ein Tuch aus seinem Reisesack, um sich abzutrocknen, bevor er in das inzwischen wieder getrocknete Hemd schlüpfte und sich vollständig anzog.
»Ist etwas? Komm heraus, bevor du dich erkältest, du abgehärteter Trallier.«
Remy kam der Aufforderung nach, mit grimmigem Gesicht. Mit Gänsehaut auf den Armen zog er sein altes Hemd aus seiner Tasche, das zwar zerschlissen, aber immerhin inzwischen sauber war. Sein anderes Hemd war noch klamm und so beschloss er, es noch in der Sonne liegen zu lassen.
»Du siehst gut aus«, befand Rowan, der dem jungen Dieb beim Anziehen zusah.
»Wie bitte?«
»Im Vergleich zu unserem ersten Abend in Thalea, meine ich. Du hast zugenommen, das steht dir.«
Abschätzend sah der Junge an sich herunter. »Hm, ich weiß nicht.«
»Dann glaub’ mir, wenn ich es sage«, schmunzelte der Prinz und schüttelte den Kopf. Er verstaute die Sachen wieder und begann, Holz für ein kleines Feuer zu sammeln. Im Handumdrehen hatte Rowan alles erledigt und Remy, der in der Sonne gesessen hatte, beobachtete ihn dabei.
»Wofür braucht Ihr mich doch gleich?«
»Fürs Bett«, erwiderte der Prinz trocken und Remy zog die Augenbraue hoch.
»Das ist so eine Trottelaussage gewesen, falls es Euch interessiert.«
Vergnügt holte Rowan die Pfanne hervor, stellte sie in das Feuer und legte etwas von dem gepökelten Fleisch hinein.
»Du hast entweder keinen Humor oder ich hab ihn noch nicht entdeckt.«
Remy sprang von dem Stein, auf dem er gesessen hatte und ging zu dem Prinzen ans Feuer. »Ich hab jede Menge Humor!«
»So? Worüber lacht man denn so in Trallien? Über Ratten voller Geschwüre?«
»Das war eher traurig. Wir hatten echt Hunger«, murmelte der Junge brummig. »Ich weiß nur nicht ... woran ich bei Euch bin. Eure Witze bringen mich eher in Verlegenheit als dass ich darüber lachen kann.«
»Weil du mir eben immer noch nicht richtig vertraust. Ein Teil von dir denkt immer noch, ich würde solche Aussagen ernst meinen, oder? Aber eigentlich nehme ich nur immer wieder deine frechen Sprüche auf, die du mir gleich zu Beginn hingeknallt hast. Wenn du dich erinnerst.«
»Bin ja nich’ senil.«
»Du weißt, hätte ich Interesse ...«
»... hätte ich das schon gemerkt, ja.«
Remy musterte den blauäugigen Prinzen, der mit geschürzten Lippen das Fleisch in der Pfanne anbriet. Frauen sagten zu diesem Gesicht sicher nicht oft Nein. Und so mancher Mann täte es gewiss auch nicht. Sofern man so was mochte.
»Käseweißbrot«, murmelte der junge Dieb und kräuselte die Nase, um nicht zu grinsen.
Rowan zog eine Braue hoch. »Man hat mich schon schlimmer genannt.«
Remy machte ein verrecktes Geräusch und brach schließlich doch in Gelächter aus. Der Prinz lächelte. Das Lachen des Diebes war ansteckend.
»Hier, iss, du Schwarzbrot!« Rowan reichte Remy etwas Brot und eine Gabel, damit er sich aus der Pfanne bedienen konnte.
»Wo habt Ihr das Besteck aufgetrieben?«
»Das habe ich mir geben lassen, damit wir nicht mit den Fingern essen müssen. Du hast nicht daran gedacht, oder?«
Remy zuckte mit den Schultern. »Ich hab fast immer mit den Fingern gegessen, was solls.«
»Argh und das mit schmutzigen Händen.«
»Deswegen bin ich so gesund!«
»Vielleicht bist du wegen eines Parasiten so dünn?«
»Wie bitte?« Der Beutelschneider hatte die Augenbrauen grimmig krausgezogen, doch Rowan hob entwaffnend die Hände.
»Nein, verzeih. Der wäre in deinem mageren Leib ja von selbst weinend wieder abgehauen.«
»Ihr seid ein Pimmel, wirklich«, murmelte Remy mit vollem Mund, bis er merkte, was er gesagt hatte. Er hob den Blick in das verwunderte Gesicht des Prinzen. »’tschuldigung ...«
»Nein, schon gut«, schmunzelte Rowan und seufzte. »Das ist viel besser als dieses Drumherum schleichen, was man mir gegenüber sagen darf und was nicht.«
»Also seid Ihr nicht beleidigt?«
»Ach was. Mensch, ich war doch auch mal ein Junge, was meinst du denn, wie mein jüngerer Bruder und ich uns genannt haben, als wir halbstark waren? Und meine Schwester, die erst fünfzehn ist, hat noch bessere Begriffe drauf. Wenn meine Mutter das wüsste, sie würde Eugena einsperren, glaube ich.«
»So richtig? In einen Turm und so?«
»Eher im übertragenen Sinne. Meine Mutter würde vor Scham erröten, dass ein Mädchen in diesem Alter so viele mannigfaltige Begriffe für diverse Körperteile weiß.«
»In Thalea kommt man in der Südstadt fast gar nicht drumherum, diese Bezeichnungen aufzuschnappen, lange bevor man eigentlich wissen sollte, was sie bedeuten. Ich hab mit Fünf, Sechs schon mehr übers Ficken gewusst, als ich gesollt hätte, glaub ich.«
»Nenn’ es nicht Ficken«, entgegnete Rowan.
»Wie? Warum nicht? Es ist, was es ist.«
»Jaa, schon. Aber es ist ein sehr abwertender Begriff für etwas eigentlich sehr Schönes.«
»An dem, was ich gesehen habe, war nichts Schönes ...«
Der Prinz schüttelte den Kopf. Das konnte er verstehen. Wer mit diesen Dingen auf die Art in Berührung kam, wie Remy es getan hatte, sah nicht, was es damit tatsächlich auf sich hatte.
»Es bringt das Tier in jedem Menschen zum Vorschein, so vornehm sie auch tun. Ihr würdet Euch wundern, wie viele gut gekleidete Bürger Thaleas sich in der Südstadt herumtreiben, um da einen schnellen Fick in einer schmutzigen Gasse hinter sich zu bringen. Die in den feinen Zwirnen sind noch die schlimmsten! Spucken am Tage auf die Bewohner der Südstadt und kommen nachts, um für ein paar Groschen einen von ihnen zu bumsen.«
»Du hast Recht. Also der Teil mit dem Tier. Der Trieb ist stark, das muss er auch sein. Sonst würde die Menschheit nicht überleben.«
»Wie könnt Ihr es dann anders bezeichnen als ich? Was ist daran schön?«
Rowan lächelte. »Du wirst es sicher erleben und selbst verstehen. Das kann man schwer beschreiben. Selbst der standhafteste Verstand kann verführt werden und Lust ist stark und nicht immer logisch.«
Schulterzuckend nahm Remy noch einen Bissen von dem Fleisch. »Ich mach mir nichts daraus. Loot war auch immer ganz scharf da drauf, aber mir war das egal. Ich ... dachte immer, ich bin eigentlich viel zu dreckig, um jemandem so nahe zu kommen, der nicht weniger dreckig war als ich. Versteht Ihr? Das ist doch ... eklig.«
»Das verstehe ich sogar sehr gut! Dein Kerkerparfum war ein Angriff auf meine Nase und davon das Doppelpack ... nein, ich verstehe das gut.«
»Wenn jemand nach Lavendel riecht, hat er es leicht«, brummte Remy. »Oder nach Zahnpulver und all diesen schicken Cremes.«
Rowan lachte. »Du gibst dich der irrigen Annahme hin, dass alle Adligen so auf ihre Körperhygiene achten wie ich. Aber das tun sie nicht. Es gibt sehr gepflegte Bauern und sehr schmuddelige Adlige. Es kommt auf den Menschen an und viele aus den höchsten Kreisen halten es für provinziell und unfein, sich öfter als einmal im Monat zu baden. Stattdessen benutzen sie Parfüm und Duftwasser, um ihren Körpergeruch zu überdecken. Dass das nicht gelingt, kannst du dir bestimmt vorstellen. Und Zahnpulver benutzt auch nicht jeder.«
»Also ...«
»Im Grunde gibt es auch unter Höflingen und Fürsten welche, die ähnlich schlecht riechen wie du es getan hast. Nicht nach Moder und Schmutz, aber dafür nach anderen ekligen und nur allzu menschlichen Dingen.«
»Ihr zerstört ein Weltbild.«
»Das auf mir beruht, oder wie viele Adlige kennst du so gut wie mich?«
»Die meisten anderen haben immer nur mit Sachen nach mir geworfen oder ... Hunde auf mich gehetzt.«
»Na, siehst du. Nicht jeder Adlige, selbst ein König, ist so wie ich.«
Remy wischte sich den Mund ab und nickte. »Das sollten sie aber.«
»Du schmeichelst mir.«
»Ausnahmsweise!«
Die beiden Reisegefährten ließen die Pferde noch eine Weile in der Sonne grasen, bis sie sich anschickten, ihre Rast zu beenden und noch etwas Weg zurückzulegen, bevor der Abend hereinbrach. Rowan hatte sich in den Kopf gesetzt, der Spur des alten Vertrages bis in den Süden und damit die Ausläufer der trallischen Berge zu folgen. Remy war besorgt, besorgter als der Prinz, der mit den Legenden um die Wunschhexe nichts zu tun hatte, während der junge Dieb wie jedes andere Kind in Trallien damit aufgewachsen war und keinen Zweifel an der Echtheit der alten Märchen hatte.
Als sie dem Flusslauf weiter folgten, wurde Remy nach einer Weile so unruhig, dass es dem Prinzen auffiel. Immer wieder wandte der Junge sich über seine Schulter und suchte die Gegend hinter ihnen ab.
»Was beunruhigt dich denn so?«
»Ich fühle mich beobachtet. Merkt Ihr denn nichts davon? Schon seit wir das Lager abgebrochen haben, ist mir, als wäre jemand hinter uns.«
Rowan sah ebenfalls über seine Schulter. Remy mochte ein wenig paranoid sein, seit sie im Palast angekommen waren, doch waren es nicht seine Sinne gewesen, die ihn in Thalea hatten überleben lassen?
»Ich weiß, Ihr haltet mich für einen Verschwörungstheoretiker«, brummte der junge Dieb.
»Nein, ich gebe viel auf dein Wort. Wenn du sagst, du fühlst dich unwohl, dann glaube ich dir das. Aber ich sehe nichts. Vielleicht ist es nur die ungewohnte Umgebung. Lass’ uns die Augen offenhalten, in Ordnung?«
Es dämmerte, als sie in der Ferne eine kleine Hütte entdeckten. Vom Hauptstrom des Daraius hatten sie sich längst abgewandt und waren einem kleineren Bachlauf gefolgt, der nach Süden floss, während der andere sich gen Westen neigte. Noch immer wandte sich Remy regelmäßig über seine Schulter und konnte kaum still sitzen im Sattel. Seine Fingernägel klickerten auf dem Knauf, als würden sie einen Takt vorgeben.
»Du machst mich wahnsinnig.«
»Tut mir leid«, der Junge seufzte und streckte die Finger. »Schaut, die Hütte scheint nicht bewohnt zu sein.«
Rowan nickte und als sie noch wenige Meter von dem kleinen Bauwerk entfernt waren, stieg er ab und sah es sich genauer an. Das kleine Häuschen bestand zur Gänze aus Holz mit einem Fundament aus Stein und hatte eine Treppe, die über drei niedrige Stufen hineinführte. Es handelte sich um eine Wassermühle, denn das Wasserrad an der Seite war noch intakt und knarzte leise, während es sich in der leichten Strömung des Baches drehte. Dieser speiste einen Teich, von Gras umwachsen und durch die Bewegung des Wassers sehr sauber.
»Lass’ uns die Nacht hier bleiben. Ein Dach über dem Kopf wird uns beiden gut tun. Guck mal, der Holzschuppen ist ein guter Unterstand für die Pferde.«
»Und«, Remy sah sich wieder um, »wenn uns nun doch jemand gefolgt ist? Dann sitzen wir hier wie auf dem Präsentierteller.«
»Ich bin kein Typ, der wegläuft. Wenn einer was von mir will, dann soll er kommen.«
»Irrsinn«, brummte der junge Dieb und stieg ab. Er zog Loot sanft an den Bach und ließ ihn trinken. »Ich laufe lieber davon. So lebt man länger.«
Rowan wandte sich ab und betrat das Häuschen. Es war verlassen und der Innenraum zeigte, dass seitdem schon eine ganze Weile vergangen war. Doch es hatte einen richtigen kleinen Kamin und ein Stapel alter Kisten in der Ecke bot genug Holz, um ein Feuer zu machen. Bis auf eine Bank und einen einfachen Tisch befanden sich keine Möbel in dem Gebäude und das war dem Prinzen auch klar gewesen, immerhin war es eine Mühle. Die war nicht zum Wohnen da. Der alte Mühlstein war abgenutzt und die Züge, die ihn mit dem Rad verbanden, längst verrottet. Hier würde man es eine Nacht aushalten. Rowan fand einen uralten Besen und rückte den Spinnennetzen in den Ecken zu Leibe.
»Seid Ihr schon eingezogen?«, fragte Remy an der Tür mit einem spöttischen Grinsen, was der Prinz erwiderte.
»Für die Nacht. Oh, sieh einer an, eine Laterne! Du hast dich beschwert, dass wir keine haben!«
»Toll. Aber wir haben auch kein Öl.«
»Vielleicht findet sich welches. Wenn nicht, auch nicht so schlimm. Versorg’ die Pferde, bevor es dunkel wird, bitte.«
Remy nickte und verschwand wieder. Er gab den beiden Pferden je eine Ration Hafer und schloss anschließend die brusthohe Tür des Schuppens, der kein geschlagenes Holz mehr enthielt. So würden Agrippa und Loot es die Nacht über bequem haben und konnten nicht einfach einen Spaziergang machen. Rowan hatte indes ihre Sachen hineingeholt und Remy erschrak, als er es krachen hörte. Als er das Häuschen betrat, war der Prinz gerade dabei, einige der alten Kisten in der Ecke in handliche Stücke zu zerlegen, um Feuer zu machen.
»Ihr seid ein Vandale!«
»Ich glaube, die Sachen wird niemand vermissen!«
Remy schmunzelte. Der brave Prinz zerstörte das Eigentum von jemand anderem. Auch wenn dieser Jemand es zurückgelassen hatte, es erheiterte den jungen Dieb.
»Ich geh’ Wache halten. Ich kann hier nicht sitzen und ... mich unterhalten.«
Rowan sah dem Jungen nach und seufzte leise. Er hoffte inständig, dass sich Remy nur eingebildet hatte, dass jemand hinter ihnen war. Denn wäre es dem König bei all seiner Ignoranz den anderen Völkern gegenüber zuzutrauen, ihm jemanden auf den Hals zu hetzen, wenn man doch zuhause wusste, wo sich Rowan befand? Unwirsch schüttelte der Prinz den Kopf. Dass Thedosio grausam und herzlos war, hatte schon der alte Vertrag bewiesen. Doch er war unmöglich so dumm.
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Nachdem er das Lager für die Nacht aufgebaut hatte, hatte der Prinz die Gelegenheit ergriffen, als erster zu schlafen, während Remy draußen vor der Hütte auf dem Tritt saß, in eine Decke gehüllt und mit einer Kanne Kaffee neben sich. Ihm lief die Nase, denn es war kalt, doch trotz der inneren Unruhe genoss er den Anblick des Sternenhimmels. Das Unwetter schien das Firmament geputzt zu haben, denn es funkelte wie Diamanten auf einer tiefdunkelblauen Decke. In Thalea hatte er nie so viele Sterne sehen können, der Rauch der tausenden Schornsteine hatte das verhindert. Der Mond stand hinter ihm, im Süden, und war nur halbvoll. Das Licht reichte gerade für vage Konturen, was das Betrachten der Sterne zwar erleichterte, aber das Wache halten erschwerte.
Remy zuckte bei jedem Geräusch zusammen, ob es nun ein Plätschern des kleinen Teiches war, das Quaken eines Frosches oder das Schreien eines Uhus in einem der vielen Bäume.
»Ich werd noch meschugge hier«, murmelte er, leerte seinen Becher und spürte den Ruf der Natur kurz darauf. Sich die Nase abwischend, erhob er sich und ging um die Mühle herum. Einen Abort hatte das Häuschen nicht, doch das machte auch nichts. Er warf einen prüfenden Blick in den Schuppen, wo Agrippa und Loot im Stehen schliefen und leise vor sich hin schnauften, bevor er drum herum ging, um zu pinkeln.
Remy wollte zurückgehen, als er das Knacken eines Zweiges hörte. Wachsam suchte er die Umgebung ab, die Muskeln gespannt, als würde er vor einem Büttel davonlaufen müssen. Doch er sah nichts. Schnaubend ging er weiter, als er plötzlich auf Höhe des Schuppens von starken Händen gepackt wurde, die sich ihm auf den Mund pressten. Sie rochen nach Rauch, Tabak und Schmutz und gehörten zu einem bullenstarken Mann, der ihn festhielt. Remy erfasste die altbekannte Panik, erwischt worden zu sein und begann instinktiv, sich heftig zu wehren, doch der Kerl war stärker als jeder thaleanische Wachmann, mit dem der junge Dieb je zu tun gehabt hatte.
»Wehr’ dich ruhig, Junge. Das wird dir nichts bringen«, zischte ihm der Fremde ins Ohr. Sein Atem roch schlecht und seine Aussprache war undeutlich, doch es war ganz sicher ein trallischer Dialekt. »Du bist der Erste. Für den Verrat sollst du bluten.«
Remy wehrte sich weiter, sein Herz raste und er versuchte irgendwie zu erreichen, dass der Prinz in der Hütte erwachte. Es durfte schließlich nicht sein, dass dieser gedungene Wichser ihn einfach im Schlaf abstach. Verbissen streckte er die Beine aus, als der Angreifer ihn hochhob und hart auf den grasbedeckten Boden warf. Remy keuchte vor Schmerz, doch in der Bewegung hatte er es geschafft, gegen einen Blecheimer zu treten, der scheppernd umfiel. Hoffentlich hatte es gereicht. Schwer nach Luft ringend, da der Sturz alle aus seinen Lungen gepresst hatte, starrte er zu dem Fremden hoch, der ein Messer in der Hand hatte und mit ausdruckslosem Gesicht über ihm stand.
»Du hättest bleiben sollen, wo du warst, Bursche. Du bist Trallier. Und damit gehörst du dem König!«
Zorn wallte in Remy auf und er holte aus, um dem Mann gegen das Schienbein zu treten. Jahrelange Taktiken zahlten sich meist am besten aus und in der Tat keuchte der Getretene und knickte leicht weg, doch fallen tat er nicht. Er packte den jungen Dieb an den Haaren und zog ihn hoch. Remy schrie auf, doch in der nächsten Sekunde ließ ein Schlag ins Gesicht ihn verstummen. Der Meuchler hielt ihn fest und ihm das Messer an den Hals, als mit einem Knarren die Türe der Mühle aufgerissen wurde.
»Sieh an, Seine feine Königliche Hoheit. Ich wünsche einen guten Abend!«
»Lass ... mich los, du Scheißefresser!«, presste Remy hervor, doch die Klinge ritzte bereits seine Haut. Er schluckte und sah zu Rowan, der hemdsärmelig die Situation überblickte. Er hatte böse die Augenbrauen kraus gezogen und hielt sein Schwert in der Hand, von dem Remy noch nie gesehen hatte, dass er es tatsächlich als Waffe verwenden wollte. Er hatte bisher gedacht, es wäre nur so ein Paradeschwert, reine Zierde.
»Guten Abend. Hättet Ihr die Güte, meinen Begleiter freizulassen?« Die Stimme des Prinzen war ruhig und kalt wie Eis.
»So lautet aber nicht der Auftrag. Erst der Verräter, dann Ihr. Ihr könnt rennen, wenn Ihr wollt, aber ich werde Euch dennoch finden.« Der Fremde nahm das Messer von Remys Kehle und hielt es direkt vor sein Herz. »Na? Wollt Ihr gar nicht versuchen, Euren Schoßhund zu retten?«
»Alles in Ordnung, Remy?«
Der Junge lachte spöttisch, doch Rowan konnte erkennen, dass er Angst hatte. Wer hätte die nicht ... der Prinz konnte nicht zulassen, dass seine Entscheidung, ihn mitzunehmen, ihm jetzt das Leben kostete.
»Kommt und kämpft einen ehrlichen Kampf gegen einen bewaffneten Gegner, nicht gegen einen unbewaffneten Jüngling! Oder seid Ihr so ein Feigling?«
»Es spielt keine Rolle. Ihr werdet beide sterben. Mir ist egal, ob bewaffnet oder nicht.«
Er hob das Messer an und Remy kniff die Augen zusammen. Er ließ die Knie einknicken und mit einem scharfen Schmerz drang die Klinge tief in seinen Leib ein. Als seine Haut zerriss und das heiße Blut begann, seine Kleidung zu durchnässen, schrie er auf. Der Meuchler ließ ihn einfach wie einen Sack fallen und Rowan ballte die Hände zu Fäusten. Wut brandete in ihm auf, kalt und eisern und so stark wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es kümmerte ihn nicht mehr, dass der Attentäter, der das Messer in Remy gelassen hatte, eine Axt hervorzog und es ein hartes Stück Arbeit werden würde, mit einem Schwert gegen eine solche Waffe anzukommen. Es kümmerte Rowan nicht einmal mehr, selbst umzukommen, wenn er dabei nur diesen stinkenden Mistkerl mit in den Abgrund riss.
»Kommt, Prinzlein. Ihr habt sicher noch nie in Eurem Leben einen richtigen Kampf bestritten!« Der Fremde machte eine einladende Geste und mit einem Aufschrei stürzte sich Rowan auf ihn. Überrascht von der Energie, machte der Attentäter einen Schritt zurück und schenkte dem Prinzen damit unbeabsichtigt den ersten Schlag, der die Panzerschiene an seinem Unterarm zerbrechen ließ und sich bis ins Fleisch grub. Es begann, noch mehr nach Blut zu riechen. Doch der Meuchler war gut in dem, was er tat und schon bald merkte Rowan, wie er an seine Grenzen stieß. Blessuren, Kratzer und Schnitte sammelten sich mehr und mehr auf seinem Leib und die Kraft verließ ihn schneller als er angenommen hatte. Es stimmte, einen solchen Kampf hatte selbst der schwert- und turniererprobte Rowan noch nie bestreiten müssen. Noch nie war es um Leben oder Tod gegangen.
»Sagt Eurem schillernden Dasein Lebewohl!«, schnarrte der Meuchelmörder, als der Prinz auf dem rutschigen Gras den Halt verlor und auf den Rücken fiel. Dabei glitt ihm der Griff seines Schwertes aus den Händen und es schlitterte davon. Der Angreifer trat es weiter weg, aus der Reichweite Rowans, bevor er sich mit einem finsteren Grinsen über den erschöpften und blutenden Prinzen beugte.
»Ich entbiete Euch meine besten Grüße von unserem König!«
»Ihr seid ... ein Scheusal!«
»Man tut, was man kann. Und nun ...«, weiter kam der Fremde jedoch nicht. Seine Rede brach gurgelnd ab und heiß klatschte sein Blut auf Rowan, der erschrocken zurückwich.
Remy, blutend und kreidebleich im Gesicht, hatte das Messer, das ihn selbst verletzt hatte, aus der Wunde gezogen und der Meuchler war so konzentriert auf den bevorstehenden Mord an Rowan gewesen, dass er ihn nicht hatte kommen hören. Der junge Dieb hatte ohne zu zögern die Klinge tief in den Hals des Attentäters gerammt.
»Ich mag ... ein Trallier sein, aber ich gehöre ... nur mir. Arschloch!«, presste der Junge hervor, bevor ihn die Kraft verließ und er auf die Knie sackte. Rowan, zutiefst erleichtert, dass Remy noch nicht tot war, richtete sich schnell auf und packte die Axt des schwer verletzten Angreifers. Der röchelte und purer Unglaube stand in seinem Gesicht. Er hatte versagt.
»Noch ein letztes Wort?« Rowans in der Dunkelheit schwarze Augen sprühten eiskalten Hass und angewidert wischte er sich das Blut des Mörders aus dem Gesicht. Es ließ den Prinzen wie einen Wahnsinnigen aussehen.
»Für ... den König!«
»Fahr zur Hölle!« Rowan holte mit der Axt aus und die war so scharf, dass ein Hieb genügte, um den Kopf des fremden Mannes sauber von den Schultern zu trennen. Remy würgte und erbrach sich heftig und auch Rowan ließ mit zittrigen Fingern die Waffe fallen. Er hatte so etwas zuvor noch niemals getan, noch nie einen Menschen getötet. Ihm drehte sich der Magen um, doch er behielt den Inhalt drin. Zu erleichtert war er, dass sie davon gekommen waren.
»Rowan«, murmelte Remy und der Prinz fiel vor ihm auf die Knie.
»Lass mich das sehen. Oh, bei Solem.« Rowan keuchte, denn das Herz in der Brust schien ihm zu groß zu sein. Er packte Remy im Nacken und zog ihn an sich, umarmte ihn und sein ganzer Leib begann zu zittern. Nicht auszudenken, wenn der Junge heute Nacht getötet worden wäre.
»Es tut weh«, nuschelte Remy, doch auch er zitterte.
»Ja ... Himmel, ja. Ich kümmere mich darum. Komm, ich stütze dich. Verdammt, ich dachte, er hätte dich getötet.«
Remy schmunzelte, doch seine Gesichtsfarbe war noch immer käsig und fleckig. Nichts von seiner trallischen Bräune war mehr da, doch dieses Mal war das keinem Unwetter, keiner Angst geschuldet, sondern dem Verlust des vielen Blutes, das sich in seiner Kleidung gesammelt hatte.
»Vielleicht ... kommt das noch.«
»Nein! Sag’ das nicht. Du hast das gut gemacht.« Rowan trug Remy halb in die Hütte, seine eigenen Wunden dabei völlig ignorierend. Keine davon war so schlimm wie die Verletzung des Diebes, der ächzend auf dem Lager niedersank, auf dem Rowan bis vor einiger Zeit noch geschlafen hatte. Man konnte sogar noch etwas Restwärme spüren.
Mit sanften Fingern half der Prinz dem Verletzten aus den Kleidern und warf das alte, blutgetränkte Hemd direkt ins Feuer. Den Mantel würde er reinigen, doch das war jetzt nicht wichtig. Matt und zitternd lag Remy schließlich auf der Zeltplane. Die Stichverletzung war tief und blutig, aber zum Glück doch nur eine Fleischwunde. Das minderte jedoch nicht ihren Schmerz und der Junge, sich furchtbar an die andere einschneidende Verletzung in seinem Leben erinnernd, hatte die Augen voller Tränen.
»Ich kümmere mich um dich. Du wirst nicht sterben, okay?«
»Ich halte Euch auf.«
»Du hast mir das Leben gerettet. Jetzt bin ich dran.« Rowan strich Remy die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und deckte ihn mit seiner Decke zu, bevor er aufstand, um Wasser zu holen. Er musste die Verletzung waschen und verbinden. Er dankte Solem, dass sie genug Arzneien, Verbände und Kräuter dabei hatten. Mit einem letzten Blick auf den leise wimmernden und vor Schmerz zitternden Jungen nahm er den Eimer und verließ die Mühle. Um den Körper ihres Angreifers würde er sich kümmern, sobald der wichtige Teil erledigt und Remy eingeschlafen war.