GREGOR
Wütend starre ich auf den Monitor.
Das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder?
Sie sagt einfach ab und schiebt ihren Freund vor? Von dem ich weiß, dass er nicht existiert?
Was ist mit ihr los? Ist sie einfach nur unsicher, oder steckt mehr dahinter?
Abermals lese ich de Text durch. Wie gefühlt 100 Male zuvor.
Nein, ich werde daraus nicht schlau.
Frustriert schließe ich das Fenster mit ihrer Mail und betrachte die neusten Bilder von ihr. Sie stammen von gestern Abend bzw. heute früh.
Auf den ersten Blick erkennt man nichts Ungewöhnliches.
Da ich Viktoria jedoch schon sehr lange beobachte, ist mir ihre Körpersprache recht gut vertraut. Einem Fremden würde es vermutlich nicht auffallen – aber sie wirkt angespannt und die übliche Leichtigkeit fehlt. Kein Lachen in ihrem Gesicht, keine funkelnden Augen.
Ich könnte natürlich abwarten, ob sich das wieder legt, ehe ich eingreife – aber ihre Absage zwingt mich zum Handeln.
Für was lasse ich sie eigentlich überwachen, wenn ihre Beobachter solche Dinge nicht mitkriegen?
Knurrend greife ich zum Telefon
Kaum höre ich die Stimme meines Gesprächspartners, lege ich los: „Ich möchte einen ausführlichen Bericht, was Frau Helmstett seit gestern früh alles getan hat. Detailliert!“
Normalerweise reicht mir eine kurze tägliche Zusammenfassung. Da sie ihre Nachricht jedoch heute früh abgeschickt hat und sie auf den Bildern von gestern früh so wie immer wirkt, muss in der Zwischenzeit etwas geschehen sein.
Etwas, was sie veranlasst hat, mir abzusagen.
Zumindest hoffe ich, dass es so ist.
Die Möglichkeit, dass sie erst gestern erfahren hat, dass sie mich auf meiner Leserreise begleiten soll und mich trotz aller Gefühle nicht sehen will, schiebe ich energisch von mir. Es muss einfach andere Gründe haben.
„Das ist an sich kein Problem“, höre ich den Beschatter sagen. „Nur fürchte ich, da gibt es nicht viel zu berichten.“
„Wie jetzt? Das darf doch nicht wahr sein! Wofür zahle ich Sie eigentlich!“, schreie ich ins Telefon.
Zugegeben, ich reagiere viel zu emotional. Nicht nur, dass ich hier herumbrülle, sondern mich hat der Vampir auch noch voll im Griff. Meine Augen glühen, die Zähne sind lang und Krallen umfassen das kleine Gerät.
Mein Gesprächspartner kann meinen Zorn deutlich hören und sicher auch spüren.
„Hören Sie, Herr Graf,“, widerspricht er, „wir haben genau nach Ihren Anweisungen gehandelt. Wir konnten nichts Ungewöhnliches entdecken. Ihr Tag lief ab wie immer.“
Kann oder will er es nicht sehen?
„Irgendetwas ist geschehen, was Ihnen entgangen ist. Ich erwarte, dass Sie der Sache unverzüglich nachgehen und mir Bericht erstatten. Ist das klar?“
„Ja, Herr Graf.“
Er hört sich nicht besonders begeistert an. Was mir aber relativ egal ist.
„Ich würde Ihnen raten, damit nicht allzu lange zu warten, sondern mir bald Ergebnisse zu liefern!“, schnauze ich weiter und gebe ihm keine weitere Gelegenheit, etwas darauf zu antworten. Stattdessen drücke ich einfach den roten Knopf und unterbreche damit das Gespräch.
Normalerweise habe ich meine dunkle Seite besser im Griff. Aber wenn es um Viktoria geht, gelingt mir das nicht immer. Manchmal frage ich mich wirklich, wer hier wen gebissen hat. Ich bin ihr nicht weniger verfallen wie sie mir.
Ich zwinge mich, ruhiger zu werden und atme einige Male tief ein und aus. Nur langsam zieht sich der Vampir wieder in meinen Körper zurück.
Am besten wäre es, sofort nach Deutschland zu reisen und mit ihr zu reden.
Ich seufze. Weshalb kann ich nur nicht fliegen, wie es man meiner Art nachsagt?
Nun ja, das wäre auch recht gefährlich. In der modernen Zeit könnte man dies sicher nicht lange geheim halten, wenn fliegende Gestalten in Menschengestalt am Himmel herumflattern würden.
Interessant ist jedoch, dass es selbst unter uns Vampiren darüber unterschiedliche Meinungen gibt. Angeblich soll es früher einige von uns gegeben haben, die nicht nur fliegen konnten, sondern wahre Luftakrobaten gewesen sein sollen. Dazu kommen die Gerüchte, die immer wieder mal aufflammen. Gerüchte, es gäbe sie doch – Untote mit Flügeln; mal frei schwingend wie etwa bei Drachen in Sagen oder Märchen; mal mit den Armen verbunden, so dass einem hier automatisch Assoziationen mit Fledermäusen kommen.
So oder so – ich selbst kenne keinen, der dies kann, inklusive mich selbst. Also kann ich nicht einfach schnell zu ihr nach Deutschland herüberfliegen, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Natürlich bliebe mir immer noch die Möglichkeit, sie anzurufen oder eine Mail zu schicken. Aber angesichts ihrer Absage erscheint mir das zu wenig.
So wenig es mir passt, ich werde erst mal abwarten müssen, ob die Detektive vor Ort in Deutschland etwas herausfinden können, bevor ich tätig werden kann.