VIKTORIA
Ich bin zu früh.
Und furchtbar nervös! Was soll ich nur tun?
Bezüglich Gregor habe ich widersprüchliche Gefühle. Ihn nicht wiedersehen zu wollen, wäre eine glatte Lüge. Ich muss ehrlich zu mir selbst sein – ich habe ihn vermisst – sehr sogar. Und dieses Telefongespräch, wieder seine Stimme zu hören, es ging mir viel zu sehr unter die Haut.
Gleichzeitig habe ich Angst vor der Begegnung.
Ein Grund ist natürlich die mysteriöse Warnung, die ich von diesem Typen bekommen habe. Aber Gregor zu treffen, um ihm abzusagen, dagegen kann doch keiner etwas haben, oder?
Aber das ist nicht alles. Mein Herz flattert, wenn ich an den Grafen denken. Mit ihm zusammenzutreffen, wird mir nicht unbedingt guttun. Kurzzeitig werde ich glücklich sein- aber bald wird der Mann wieder in Italien sein und ich werde leiden. Anfangs habe ich diese Sehnsucht gar nicht so gespürt. In den letzten Wochen habe ich zu oft an den Herrn von Wattenstein gedacht.
Dass ich den Schriftsteller vermisst habe, konnte ich bisher gut verdrängen – bis diese unselige Idee der Lesereise aufkam. Mit mir als Begleitperson.
Ich darf mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, ihm abzusagen.
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich in die Zielstraße einbiege und das kleine Nachtcafé zu meiner Linken auftaucht.
Hier haben sie bis früh morgens geöffnet und es gibt nicht nur Kaffee und Tee und die üblichen Getränke, sondern auch Kuchen und kleine Speisen. Ich habe es mir extra einen Tag vorher angeschaut, nachdem ich es im Internet gefunden hatte und war von der stilvollen Einrichtung sehr angetan. Ebenso ist die Atmosphäre passend – gemütlich, ohne zu gemütlich zu sein.
Genau das Richtige.
Ich habe sogar Glück und finde einen Platz direkt vor dem Gebäude.
Seufzend schalte ich den Motor ab und blicke zum Café hinüber. Es wird mir nicht helfen, Zeit zu schinden.
Entschlossen steige ich aus. Wenn ich es überdenke, bringt mir das sogar einen kleinen Vorteil. So kann ich schon mal innen Platz nehmen und den Grafen beim Eintreten beobachten.
Ein guter Einfall!
Zufrieden steure ich auf mein Ziel zu. Ich bin kurz vor der Türe, als ich eine mir bekannte Stimme vernehme.
„Vik… toria“
Erschrocken drehe ich mich in die Richtung des Sprechers. Wo kommt ER so plötzlich her? Gerade noch wähnte ich mich alleine, da erscheint er wie aus heiterem Himmel.
Ich schlucke mehrmals, bis ich einen Satz herausbringe. Oder genauer gesagt, ein Wort.
„Gregor!“
„Viktoria! Wie freue ich mich, Sie zu sehen.“
Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen, als er rasch nähertritt und mir die Hand entgegenstreckt.
Verdammt! Mein Herz flattert. Wie soll ich aus dieser Nummer jemals wieder herauskommen?
Der Graf hat sich nicht verändert. Er sieht aus, wie ich ihn in Erinnerung habe und auch die Zeichnung, die er mir geschenkt hatte, zeigt. Weder Zeichen des Alterns noch eine neue Falte kann ich in seinem Gesicht entdecken. Wache Augen fokussieren mich an. Dem rosigen Teint nach scheint es ihm gut zu gehen.
Er trägt seine Haare immer noch lang und wieder hat er sie zusammengebunden, wie an unserem ersten Treffen. Ein hochwertiges Hemd, dessen dunkelrote Farbe ihm außergewöhnlich gut steht, bedeckt seinen Oberkörper. Dazu einen schwarzen Sakko, dunkle Edeljeans und passende und garantiert teure Schuhe.
Die Hand zittert ein wenig, als ich sie ihm entgegenstrecke. Seine schlanken Finger umfassen die meinen. Gregors Augen lassen mich nicht los, als er die Hand zum Mund führt und einen Kuss andeutet.
Wie konnte ich das nur vergessen! Ein Gentleman durch und durch.
„Herr Graf! Ich…“
„Gregor, liebste Viktoria“, verbessert er mich mit leichtem Tadel.
„Natürlich! Verzeihen Sie bitte.“ Ich räusperte mich kurz, um Zeit zu gewinnen. „Sollen wir reingehen?“
„Ihr Wunsch ist mir Befehl.“ Er bietet mir seinen Arm an, damit ich mich bei ihm einhaken kann.
Genau wie damals.
Er hat sich wirklich nicht verändert.
Mein Herz blutet bei dem Gedanken, dass dies unser letztes Treffen sein wird.