Vesna
»Aus dem Weg, Mönch«, wies ich einen der Priester an, als sich dieser am Eingang in unseren Weg stellen wollte. Sein Gesicht wirkte feindselig. Meine Anmaßung grämte ihn, aber er wagte es nicht, zu widersprechen. Er glitt wie ein Gespenst aus der Tür, nicht jedoch, ohne Tharin eines zornigen Blickes zu würdigen. Besser er gewöhnte sich schnell daran. »Wo ist der Junge?«
Wortlos wies der Priester den Gang hinunter. »Tharin kennt den Weg.« Seine Stimme sprühte Funken.
Ich sah Tharin schlucken. Der unverhohlene Hass seiner Verbündeten erschreckte ihn nicht. Damit schien er gerechnet zu haben, als er Eyndor zur Flucht verhelfen wollte. Er verletzte ihn. In dieser Brust schlug ein sehr sensibles Herz. In meiner nur ein Felsen.
Tharin schritt den Gang hinunter. Kein weiteres Mal versuchte einer der Mönche und Priester, uns den Weg zu verstellen. Dass ich ein erhobenes Schwert auf meinen Gefangenen richtete, stimmte sie milde. Offenbar gingen sie davon aus, dass Tharin die Sonne ohnehin nicht untergehen sehen würde.
Er führte mich vor eine Tür und blieb stehen. Hinter der Tür hörten wir Stimmen, die leise miteinander sprachen und es brauchte nur ein Raunen, damit ich Anders erkennen konnte. Zum ersten Mal ließ ich das Schwert sinken und schob es zurück in die Scheide. Mit Tharin wurde ich auch ohne Waffe fertig.
»Anders?«, rief ich durch die Tür und klopfte einmal fest dagegen.
»Verschwinde.«
Ich runzelte die Stirn und warf Tharin einen fragenden Blick zu. Daraufhin schoss dieser vor, warf sich mit dem ganzen Gewicht auf die Klinke und stellte fest, dass die Tür verschlossen war. Ich schob ihn beiseite und tat es ihm gleich. Durch meine Finger hindurch spürte ich die Magie eines Banns, der deutlich Anders Signatur aufwies. Die Tür war durch einen Zauber verschlossen.
Und das bedeutete keinesfalls etwas Gutes.
Die letzten Fetzen Hoffnung, die in mir hausten, verschwanden in Dunkelheit.
»Anders?«, fragte ich leise und klopfte abermals, während das irrsinnige Pochen meines Herzens wieder anschwoll. »Du solltest mich einlassen. Ich habe etwas gesehen.«
»Mich interessiert nicht, was du gesehen hast«, drang seine Stimme durch die Tür. Leise, tief. Etwas Dunkles klang in jeder Silbe.
Ein Kloß aus Angst und Sorge schob sich meine Kehle hinauf und ließ meinen Mund trocken und meine Lippen spröde werden. »Ich meine es ernst. Ich hatte eine Vision. Lass mich verhindern, dass du einen Fehler begehst.« Stille. Dann Schritte. Ich legte meine Hände auf die Tür, presste meine Schläfe gegen sie. »Komm schon, was ich sah, war wichtig. Es war-«
»Das Ende der Welt, ich weiß.« Wie durch einen magiegetriebenen Impuls spürte ich, wie sich seine Hände auf die andere Seite der Tür legten. »Aber ich fürchte, ich kann es diesmal nicht verhindern.«
»Mach auf und wir werden weitersehen.«
Der Impuls verebbte.
Ich schaute zu Tharin hin. Angst machte sich in mir breit. »Anders?«
Er zog sich zurück. Diese Gewissheit wuchs in mir wie ein Geschwür. Nie zuvor hatte er mich ausgesperrt, mir seine Pläne vorenthalten oder mich abgewiesen. Und nun tat er alles auf einmal. Wer ihn kannte, wusste, dass uns etwas Düsteres bevorstand. Wenn Anders aufgab, wenn er keinen Ausweg wusste, stand die Zeit still und niemand war mehr sicher. Vor Isay. Vor den Schatten. Dem Sterben. Dem Ende.
Wenn der Krähenprinz unseren Weltenhüter tötete, waren wir verdammt.
»Tu.. das einfach nicht«, flehte ich leise. Meine Nägel scharrten über die Tür. Das war alles, was ich hörte. Keinen Anders, keinen Eyndor, nur mein klopfendes Herz und das Kratzen meiner Nägel auf Holz. »Anders?«
Plötzlich stand Tharin so dicht neben mir, dass ich seinen Atem auf meiner Wange fühlte. »Was tun wir?«, raunte er mir zu.
»Die Tür ist verschlossen. Er wird uns nicht hereinlassen. Nicht, solange wir-«
Plötzlich riss es uns von den Füßen. Ein Schrei ertönte. Ein Licht, so hell, wie flüssiger Sonnenschein, schoss unter dem Türspalt hindurch und durch das Schlüsselloch hinaus auf den Korridor. Gefolgt von einer unerträglich großen Hitze und dem Gefühl, auf einem brennenden Stern zu tanzen. Tharin und ich gingen haltsuchend zu Boden. Es riss uns von den Füßen. Der ganze Tempel bebte. Von den gewaltigen Decken rieselte Staub. Das Licht dauerte nur einen Moment lang an, aber es schien stark genug, jeden einzelnen Schatten, der es wagte, in der Nähe zu sein, auszuhöhlen, bis er verschwunden war.
Mir stockte der Atem. In meinem Kopf manifestierte sich eine grauenhafte Wahrheit. Das Licht, das wir gesehen hatten, übertraf jeden irdischen Glanz, zu dem Magie fähig war. Es war mehr. Viel mehr. Etwas Älteres, Großes, etwas, das schon da war, lange ehe es Andhera und die Sterblichkeit gab. Das Weltenherz.
»Nicht doch«, hörte ich Tharin an meiner Seite murmeln. Er stammelte wirre Worte vor sich hin, während er sich mühsam an der Wand entlangzog und aufrichtete. Gerade da verebbte das Licht.
Hinter der Tür ging etwas geräuschvoll zu Boden. Der Schrei klang noch in meinen Ohren nach und erst jetzt, erst nachdem Totenstille uns einlullte, wie ein Wiegenlied, wurde mir bewusst, dass es nicht der Schrei eines Kindes gewesen war.
»Anders!«, brüllte ich aus voller Kehle, sprang auf die Füße und rüttelte abermals an der Klinke.
Diesmal gab sie nach. Knirschend schwang die Tür nach innen auf und enthüllte einen dunklen Raum, den ursprünglich Fackelschein hätte erhellen sollen. Er besaß kein Fenster und das blasse Mondlicht jaulte mit dem Wind vor verschlossenen Toren. Es war finster im Inneren. Unnatürlich dunkel und wärmer, als es hätte sein dürfen. Und doch war es nicht nahtlos lichtlos. Etwas glomm in den Untiefen des Raumes auf, wie ein Schein. Etwas, das Anders in den Händen hielt, und das sich unter seinen Fingern langsam auflöste, und zerfiel. Ein Ball aus Licht, aus wunderschönem, herzerwärmendem Sonnenschein zersplitterte unter seiner Hand, die er fest an seine Brust gepresst hielt.
Er hob das leichenblasse Antlitz zu mir hin und ich sah, wie das Licht durch seinen Körper dämmerte, wie einzelne Blutstropfen, die sich in glasklarem Wasser verloren. Es floss durch seine Adern, sickerte in seine Haut und bahnte sich einen Weg hin zu seinem Herzen, um dort still und stumm vor sich hinzusterben.
Er keuchte. In seinen Augen flammte es. Sonnenstrahlen umtanzten seine Iris wie die Flammen aus meiner Vision. Ich starrte ihn mit offenem Mund an und war unfähig, das Gesehene zu begreifen oder auch nur ansatzweise zu verarbeiten.
Und als Tharin an mir vorbeiraste und sich vor den niedergestreckten Kleiderhaufen warf, der eben noch ein stehender Junge gewesen sein mochte, begann es schmerzhaft in meinen Ohren zu klirren. Aneinanderschlagende Scherben wie jene, die aus den Fingern des Kerubs zu Boden schellten und sich auflösten, dämmten alle anderen Geräusche um uns herum ein. Nur mein Atem rauschte wie ein Sturm in meinen Ohren.
Ich konnte nicht sehen. Lichtflecken auf meiner Netzhaut blendeten mich. Der Schmerz stach heiß in meine Augen, in meine Seele. Ein Teil von mir starb, als der Kerub allmählich in die Knie glitt. Seine Hände suchten Halt auf dem kalten Stein und fanden ihn, und er ging dennoch zu Boden.
Ich warf mich neben ihn, packte seine Schultern und setzte ihn auf. Meine Hände umschlossen sein Gesicht wie einen Schatz, den es vor dem Rest der Welt zu verbergen galt. Mit einem gequälten Grinsen auf den Lippen starrte er mich an, nur einen Atemzug von der Ohnmacht entfernt.
»Was hast du getan?«, flüsterte ich ihm zu.
Er öffnete die Lippen, aber er war zu müde, um zu sprechen. Jedes Luftholen kostete ihn beinahe mehr Kraft, als er besaß.
Ich drehte den Kopf ein Stück, spähte aus den Augenwinkeln zu Tharin hin, der den reglosen Jungenkörper in seine Arme gehievt hatte und verzweifelt nach dem Puls am Hals des Kindes suchte.
»Er lebt«, hörte ich ihn sagen und alles Weitere ging in einem leisen, aber verboten dunklen Kichern unter, das aus Anders Brust hervorkroch.
»Dachtest du«, keuchte er erschöpft, »ich würde ein unschuldiges Kind töten?« Er hob die Arme und griff nach meinen Fingern, umklammerte sie und in seiner Berührung ging meine Welt verloren. »Sag mir, was du jetzt siehst.«
Und zum ersten Mal sah ich tatsächlich sein Schicksal. Die Flammen aus meiner vorigen Vision kehrten wütend zurück. Ihre Hitze versenkte meine Haut, meine Haare, meine Sinne. Ich starb in einem Inferno aus Tod und Feuer und sah wie durch einen dämmrigen Schleier hindurch, wie Anders, nur wenige Meter vor mir, lichterloh in Flammen stand.
»Was hast du getan?«, schrie ich ihm unter Schmerzen entgegen, aber er lächelte nur. Lächelte ein zufriedenes, leidliches kleines Lächeln und sagte: »Das Richtige.«