Anders
Als der Morgen graute, war der Kerub bereits auf den Beinen. Ruhelos und suchend irrte er durch die unbewohnten Korridore seiner viel zu großen Festung. Durch die beschlagenen Fenster drängte Sonnenlicht herein.
In der Nacht hatte er wieder und wieder versucht, Vesna aufzuspüren. Nicht, um in ihr Schicksal einzugreifen. So vermessen war er nicht. Aber um zu wissen, ob es ihr gutging und ob sie bereits ihr Ziel gefunden hatten. Und immer dann, wenn er glaubte, sie in dem Gewirr aus Seelen innerhalb dieser Welt ausfindig gemacht zu haben, löste sie sich wieder auf und rann wie Sand durch seine Finger. Schließlich gab er auf und akzeptierte, dass ihre Geschichte nicht mehr in seinen Händen lag.
Eine Macht, viel größer als er, hatte sich eingeschaltet und einen Keil zwischen sie getrieben. Und obwohl seine Befürchtungen erdrückend waren, hoffte ein Teil von ihm inständig, dass sie zurückkommen würde.
Er positionierte sich mit verschränkten Armen vor einem der Turmfenster und spähte hinaus in die Morgensonne. Dass es um das Schloss herum hell geworden war und die Sonne es wagte, einen wunderschönen Tag mit tiefblauem Himmel anzukündigen, erschien ihm angesichts seiner Lage wie reiner Hohn.
Dort draußen lauerten mehr Feinde als Freunde, mehr Verräter als Verbündete. Das ganze Weltgefüge blickte zu ihm auf und jeden Tag, den er untätig verstreichen ließ, wurden die Stimmen wütender und lauter. Er musste etwas tun.
»Ich wüsste da etwas«, erhob sich eine Stimme hinter ihm. Sie klang fein und weich, weiblich und alt, wie Sternensand.
Anders schloss die Augen und seufzte. »Ich habe nicht so früh mit dir gerechnet«, murmelte er, bevor er sich umwandte und grimmig nach der weißen Katze suchte. Er fand sie in einem der Bücherregale hinter sich. »Was willst du?«
»Was du willst«, antwortete sie keck. »Was alle wollen. Etwas bewegen. Und etwas klarstellen.«
Anders betrachtete sie ungehalten. Er kannte seine Grenzen und wusste, selbst wenn es ihm gelänge, sie rauszuwerfen, würde es danach nur umso schlimmer werden.
»Du hast den Jungen zu dir geholt. Und seine Gabe in dich aufgenommen.« Die Augen der Katze blinzelten abwechselnd. Ihr giftgrüner Schimmer trug Gefahr in sich. »Wir haben dir verboten, es auch nur in Betracht zu ziehen. Sein Schicksal war deine Strafe. Du hast unseren Befehl missachtet und dich über das Schicksal hinweggesetzt.« Mit einem Satz war sie aus dem regal gesprungen und strich spöttisch um seine Beine. »Dein Handeln hat Konsequenzen.«
Anders verzog grimmig das Gesicht. »Der Junge ist unschuldig. Ein Kind mit Zukunft. Und diese Aufgabe war von jeher mir zugedacht. Ich bin der, der Unschuldige in Gefahr gebracht hat, und ich werde sie retten.«
»Diese Entscheidung lag nicht in deiner Hand. Selbst wenn du recht hast.« Die Katze schnaubte, aber es erinnerte eher an ein Wehklagen. »Anders, du musst dich an die Regeln halten. Du kannst sie nicht biegen, wie es dir gefällt. Auch du darfst dich den Göttern nicht widersetzen. Nicht noch einmal.«
»Also bist du hier, um mich zu bestrafen.«
Die Katze wandte den Blick von ihm ab. »Wenn du nicht bereit bist, es ungeschehen zu machen, und ich hoffe inständig, dass du es nicht bist, ja. Dann bin ich hier, um dich im Namen des Skarjetals für deinen Ungehorsam zu bestrafen.«Anders horchte auf. Schnurrend strich ihm die Katze abermals um die Beine. »Ich stehe auf deiner Seite«, erinnerte sie ihn. »Ich habe immer zu dir gehalten, egal, wie schwer du es mir gemacht hast. Und ich weigere mich, dich aufzugeben. Aber die anderen Götter sind zahlreich und wütend. Sie haben mich überstimmt. Alles, was sie mir zugestanden haben ist, die Art deiner Strafe auszuwählen.«
»Egal was es ist, ich werde es ertragen.«
Langsam ging der Kerub zwei Schritte zurück und ließ sich auf einen unbequem harten und durchgesessenen Sessel nieder. Sofort sprang die Katze auf seinen Schoß. Er hob die Hand und fuhr ihr mit den Fingern über den Rücken.
»Das weiß ich. Und im Gegensatz zu meinen Brüdern und Schwestern glaube ich an dich und deinen Weg. Ich kenne deine Seele. Und ich werde nichts unversucht lassen, sie zu retten.«
»Wirst du mir eines Tages verraten, weshalb?«
»Irgendwann«, überlegte sie mit schiefgeneigtem Kopf. »Vielleicht.«
Anders sank gegen die Lehne zurück. »Ich bin bereit.«
»Anders, ich-«
Der Kerub schüttelte den Kopf und wischte ihre Bedenken mit einem Wink fort. »Hör auf«, bat er. »Sag mir, was es ist, und ich werde es erdulden. Keine Entschuldigungen. Ich bin der, der das Unheil erst heraufbeschworen hat. Nicht du.«
»Aber ich hätte es verhindern müssen.«Dennoch schüttelte sich die Katze, als wollte sie einen Gedanken loswerden und starrte dem Engel fest in die Augen. »Hör mir zu, Anders. Unabhängig von allem, was ich dir jetzt sage, werde ich immer da sein, wenn du Rat oder Hilfe brauchst. Ich kann mich unmöglich gegen die anderen Götter stellen. Aber ich finde immer einen Weg, dir zu helfen.«
Er nickte. »Ich weiß.«
»Du wirst den Jungen verlieren. Du wirst ihn nicht retten können und es wird keinen Abschied geben. Er wird nach dir rufen und flehen, und du wirst die Hände in den Schoß legen und weghören. Du wirst das Kind opfern für deine Sünden, oder eine Seele wählen, die du mehr liebst, als dich selbst, um seinen Platz einzunehmen.« Ihre Worte klangen verzweifelt und geheimnisvoll. »Wähle klug. Nur einen Namen. Und der Junge bleibt verschont.«
Anders erstarrte. Er sprach kein Wort. Seine Finger krallten sich in die Lehnen. Er starrte die Katze an, als hätte sie einen unverständlichen Witz gemacht. Aber ihre Worte waren unumstößlich und er wusste, dass sie bereits das Beste aus seiner Strafe herausgeholt hatte. Mehr als diese Wahl gestand ihm das Schicksal nicht zu. Nicht nachdem er Andhera in den Untergang geführt hatte.
Die Katze schnurrte leise. »Sag es mir. Der Mensch, den du am meisten liebst oder der, der deine Seele retten kann?«
Die Qual hielt den Kerub fest umschlossen. Er wusste genau, was die Götter von ihm verlangten. Sie waren grausam und hart. Ihre Gesetze unumstößlich. Und er hatte sich bereits zweimal über sie hinweggesetzt. Einmal nach dem Tod seiner Geliebten, als er den Schmerz in Wut gewandelt und ganz Andhera einen so schwarzen Fluch aufgehalst hatte, dass Isay und seine Schattenkrieger auf den Plan getreten waren. Und einmal, als er Eyndor, den die Götter zu seinem Sündenbock erklärt hatten, um seine Gabe erleichtert und ihren Plan durchkreuzt hatte. Diesmal würde es keinen Ausweg geben. Keine Hintertür, keine Rettungsleine.
Wenn er sich diesmal weigerte, zahlte Andhera den Preis für sein Versagen.
Er senkte den Blick. Sein Gesicht blieb ohne jegliches Gefühl. Er schloss sein Herz in einen Panzer aus Stein. »Ich kann weder ein Kind, noch meinen Sohn, opfern und das weißt du. Ihr alle wisst, dass diese Abscheulichkeit die Einzige ist, zu der ich nicht imstande bin.«
»Ja, das weiß ich. Und deshalb musst du mir jetzt den Namen des Menschen nennen, der einen Weg in dein Herz gefunden hat, und ihn loslassen. Für immer.«
Seine geballten Fäuste pulsierten. Anders war ein Mann, der in tausend Leben tausend Fehler begangen hatte, fast immer in dem Glauben, richtig zu handeln. Doch diesmal waren seine Bemühungen erfolglos. Es war falsch und er wusste es. Der Schmerz kroch auf Spinnenbeinen in seinen Verstand. Jemanden im Kampf zu verlieren, hatte er gelernt. Auch, jemanden nicht retten zu können war ihm vertraut. Aber mit dem Aussprechen eines Namens ein ganzes Schicksal zu besiegeln, das war neu.
Er stöhnte. »Du weißt, wen ich wählen muss. Tu es einfach und hör auf, mich zu quälen. Was ich tat, tat ich für Andhera und seine Bewohner.«
»Ich wünschte, ich könnte. Aber ich kann nicht. Du musst den Namen aussprechen und ein Schicksal mit deiner Stimme verdammen. So will es der Pakt, den wir hier und heute schließen. Es tut mir so leid für dich. Ich weiß, wie gern du sie hast.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich weiß, es tut weh. Ich spüre die Schmach in dir. Echtes, aufrichtiges Gefühl. Halt daran fest, wenn dich der Dämon heimsucht. Es muss schmerzen. Schließlich ist es eine Strafe. Du wirst toben und wüten. Du wirst Dummheiten begehen. Du warst nie gut darin, jemanden zu verlieren. Aber am Ende gewinnst du einen Sohn und die Chance, dass er den Mann aus dir macht, der du immer sein wolltest.«
Eine heiße Übelkeitswelle rauschte über den Kerub hinweg. Er schlug die linke Faust auf die Lehne und presste seine Stirn an die rechte. Der Schmerz in ihm drin ließ ihn Sterne sehen. Flammenfunken, die vor seiner Netzhaut tanzten.
»Es tut mir so leid«, murmelte die Katze aufrichtig.
Anders konnte nicht atmen. Der Name steckte ihm in der Kehle, der Schmerz brannte in Form unsichtbarer Tränen in seinen Augen. Er rang sich einen Atemzug ab. Seine Seele hüllte sich in Eis und Stein. Ganz ähnlich wie damals, als er Kateryna verloren hatte.
»Vesna«, würgte er hervor und es kostete ihn so viel Kraft, dass er beinahe vom Sessel und vornüber auf alle Viere gefallen wäre. Er schob die Katze mühelos von seinem Schoß, erhob sich und stürzte zum Fenster hin. Als er den Sims zu fassen bekam, musste er sich mit seinem ganzen Gewicht darauf stützen. Mit der rechten Hand hieb er gegen die Wand. Putz rieselte auf ihn hinab. Er schloss die Lider. »Und jetzt, geh«, verlangte er seinem Schmerz erlegen. »Geh, bitte.«
»Dies ist nicht das Ende. Dies ist der Anfang einer neuen, einer großen Geschichte.«
»Ich sagte, bitte geh.«
Die Katze schaute ihn für einen Augenblick lang mit großen Augen an und dann ging sie. Schweigend und lautlos, wie ein Schatten, der nie wirklich war.
Anders keuchte. Er verlor den Halt und fiel auf die Knie. Seine Schläfe prallte hart gegen die unnachgiebige Wand aus rauem, schwarzem Stein. Der Schmerz betäubte ihn für einen Moment. Ein dumpfes Pochen verzehrte sein Elend.
»Eines noch«, teilte ihre Stimme die Stille. »Sag ihm nicht, wer er ist. Nicht heute, nicht morgen. Sag ihm nicht mehr, als er wissen muss. Deine Wahrheit bringt ihn in Gefahr.«
»Ich weiß.« Anders hob den Blick.
Sie war fort. Jetzt wusste er, wieso er ihren Schicksalsfaden nicht mehr verfolgen konnte. Weil er ihr nicht helfen durfte. Niemals wieder. Weil er die treuste Seele seines Lebens ins Verderben geschickt hatte, und im Stich ließ.
Seine Eingeweide pressten sich zusammen. »Bitte verzeih mir«, flüsterte er in die Stille seines eigenen wütenden Herzschlages und zum Fenster hinaus. Worte, die sie unbedingt hören musste, die er aber niemals sagen durfte. Niemals wieder.
Und alles nur, weil er versucht hatte, das von ihm heraufbeschworene Unrecht ein kleines Stück zu sühnen.