Tharin
Auf ihre strafenden Worte folgte eine Phase der Stille. Die Dunkelheit schien sich im Unterholz des Waldes weiter zu verdichten.
Ich dachte über ihre Worte nach, über das traurige Schicksal, das sie sich selbst prophezeit hatte und an die Dinge, die sie sich versagt hatte, nur um ihrem Herrn in den Abgrund zu folgen. Denn nichts anderes war ihr verzweifelter Versuche, seine Seele und Andhera zu retten: eine Spirale, die tiefer und tiefer in die Dunkelheit mündete. Ein chaotischer Schlund aus Schwärze. An dessen Ende nur der Tod auf sie wartete. Kein Thron, kein Ansehen, keine Krone, nur das bitterlich einsame Ende einer Frau, die alles richtig machen wollte und dabei zu ihrer eigenen Marionette geworden war.
Aus den Augenwinkeln spähte ich hinüber zu ihr. Sie saß schweigend im Sattel. Ihre Haltung besaß etwas Anmutiges. Nun, da ich ihre Herkunft kannte, wirkte es königlich auf mich.
Sie war es schließlich, die das Schweigen brach. »Was ist mit deiner Familie?«
»Sie haben mich zu den Mönchen geschickt, als die Träume begannen.«
»Wie alt warst du?«
»Kaum älter als Eyndor.« Die Erinnerung schmerzte bis heute. Mein Zuhause, meine Eltern, mein Leben, mein Glück - alles war mir von heute auf morgen entrissen worden. »Die Priester nahmen mich auf und die Bilder verschwanden. Ich hatte beinahe zehn Jahre lang nicht eine einzige Vision. Ich glaubte schon daran, dass ich mir die Ersten nur eingebildet hätte. Und dann kamen die Stimmen. Und mit ihnen auch die Angst. Ich weiß, dass alles mit dem Tag beginnt, an dem Eyndor nicht länger der Träger des Weltenherzens ist.«
»Ich verstehe deine Sorge. Aber du kennst ihn nicht. Der Krähenprinz ist nicht so, wie du glaubst. Die Kreatur, die Isay geholfen hat, Andhera zu verwüsten, existiert nicht mehr. Ihm liegt viel daran, seine Schuld abzutragen. Ganz gleich, wie lang es dauern wird. Er kämpft gegen Isay. Noch ist es ein stiller Krieg. Aber Isays Heer wächst Tag für Tag. Durch die vielen kleinen Risse, die sich aufgetan haben, schlüpfen Dämonen und Schattenwesen hindurch und irren umher. Isay konnte viele von ihnen für sich gewinnen. Und Anders hat bereits Unzählige getötet. Und egal, wie viele er auslöscht, es werden immer mehr.«
In ihrer ganzen Stärke klang sie plötzlich ein wenig verloren. Beinahe wie ein echter, fühlender Mensch.
In ihren verklärten Blick trat Sorge, so tief und unergründlich, wie die Weiten des Meeres.
Ich seufzte. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Aber du lebst«, erinnerte sie mich. Und dieses Argument konnte ich nicht widerlegen. Der Schwarze Engel hatte mich und mein Leben verschont. Und Eyndor. »Deine eigenen Tempelbrüder hätten dich dem Tode überlassen.«
Und auch das stimmte.
»Es wird bald hell. Wir werden den Tag über reiten«, sagte sie. »Unser Proviant wird kaum bis morgen reichen. Deshalb werden wir heute essen und morgen Abend hoffentlich schon in deiner Heimat speisen.«
»Und du wirst im Anschluss sofort den Rückweg antreten?«
Vesna nickte. »Vier Tage«, erinnerte sie mich. »Und ich breche nie mein Wort.«
»Habe ich auch nicht erwartet.«
Ein Lächeln, klein und schüchtern, überzog ihr Gesicht. Es machte sie jünger, menschlicher. Die kriegerische Härte verschwand für einen Moment und ließ das Antlitz einer jungen, aber nach wie vor starken Frau durchblitzen, die auf eine faszinierend ernste Weise schön war. Unter dem Harnisch aus Leder verbarg sich eine erstaunlich ansehnliche Frau. Ob sie das wusste?
Ob ihr Herr wusste, welchen Diamanten er durch den Dreck schleifte, bis auch die letzten Kanten abgeschmirgelt waren? Vermutlich nicht. Sonst hätte er sie niemals gehenlassen.
Wir schwiegen. Über und durchbrachen Fetzen von Licht die dunklen Wolken. Wie Säulen aus Licht stoben Sonnenstrahlen durch das nächtliche Schwarz. Der neue Tag drängte sich mit aller Macht , und ehe wir die Pferde das erste Mal am Fuße eines kleinen Sees trinken ließen, war es Tag geworden. Über uns riss die Wolkendecke entzwei. Der Himmel färbte sich blau und strahlend.
Ein schöner, ein gnädiger, sanfter Tag. Mit erhobener Hand schirmte ich meine Augen gegen die Helligkeit ab und überflog das Gelände. Wenn man sich in dieser Gegend bewegte, stand man nahezu immer am Fuße irgendeines Berges. So auch wir. Der Jetesh, der größte Berg des Massivs, das wir überqueren oder umrunden mussten, warf einen langen, spitzen Schatten über das Tal.
»Wir reiten zwischen den Bergen hindurch«, sagte Vesna, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. Sie hatte sich in die Hocke sinken lassen, um die in ihren Satteltaschen befindlichen Wasserschläuche aufzufüllen. »Für den Weg über die Gipfel fehlt uns schlichtweg die Zeit.«
Schließlich hing ihr die Zeit im Nacken. Und mich verfolgte ein Dämon.
Wieder ließ ich mich zu einem Gedanken an Eyndor hinreißen. Was hatte der Krähenprinz ihm erzählt, dass er so bereitwillig seine Gabe abgegeben hatte? Hatte er ihm Freiheiten versprochen? Macht? Oder reichte die schnöde Aussicht auf ein Leben, das alle Kinder haben sollten aus, seine Überzeugungen zu verraten?
Von unserem ersten gemeinsamen Tage an, hatte Eyndor begriffen, wie wichtig er war. Er wusste, dass er das Weltenherz mit aller Macht beschützen, und von Kreaturen wie dem Krähenprinz fernhalten musste. Die Erziehung der Mönche und Priester war hart und gnadenlos. Ihre Gebote und Regeln waren keine Richtlinien, sondern Gesetz. Wer sie brach, wurde verstoßen, weggesperrt oder Schlimmeres.
Und auch sie waren sehr bereitwillig gewesen, Eyndor herauszugeben, sollte der Schwarze Engel nach ihm verlangen. Es schien beinahe, als hätte Andhera vergessen, was Isay und er ihr angetan hatten.
Ich nicht. Ich seufzte tief. Ich würde niemals vergessen, was ich als Kind gesehen hatte. Feuer, Tod und das Ende von allem.
»Tharin?«
Ich drehte mich zu Vesna herum und bemerkte, wie sie stirnrunzelnd auf einen Punkt hinter mir blickte. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, weshalb. Einer der Priester stand wenige hundert Meter entfernt zwischen den Felsen. Er trug eine lange Robe von so tiefem Schwarz, dass diese keinerlei Licht mehr zu reflektieren schien. Als wäre diese Farbe selbst aus dem Ursprung des Kosmos zur Erde gefallen und nichts, was Menschenhände hätten schaffen können. Unter einer weiten Kapuze lugte ein Gesicht hervor, das keine sterblichen Züge beherbergte. Es war starr, golden und schimmerte wie Metall.
»Ist das ein Freund von dir?«
Aber ich glaubte an ihrer stockenden Art bereits erkennen zu können, dass sie selbst nicht davon ausging, dass ich ihre Frage bejahen würde. Ich hatte die seltsame, schattenhafte Kreatur, die dort wie in die Wirklichkeit gemalt stand, noch nie in meinem Leben gesehen. Sie war mit Sicherheit kein Priester und kein Mönch, denn etwas Verwerflichtes haftete ihr an. Etwas, das grotesk missgestaltet erschien und in mir augenblicklich ein Gefühl von Abscheu und Ekel weckte.
Etwas Kaltes kroch mir den Nacken hinauf.
Vesnas Blick berührte mich fragend. »Tharin?«
»Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
Die fremdartige Kreatur hob die Hand. Fünf leichenblasse, spindeldürre Finger hoben sich in unsere Richtung und wie aus dem Nichts bauschte sich der sanfte Bergwind zum Sturm auf.
Ich hob beide Arme, um mein Gesicht zu schützen, bevor ich mich umdrehte - und geradewegs in das goldschimmernde Antlitz des Geschöpfes blickte.
Hinter kunstvoll gehämmerten Schlitzen stierten feurige, bernsteinfarbene Augen hervor.
Ich öffnete den Mund, wollte nach Vesna schreien, als der Fremde seine blasse Hand hob und in mein Gesicht drückte.
Heißer, feuriger Schmerz schoss durch meine Nervenbahnen, wie ein unerträgliches Gift. All meine Pforten öffneten sich dem Impuls von.. Magie. Ich stöhnte auf, sah, wie Vesna das Schwert zog und nach dem Wesen hieb, und schon verlor sich jeder Funken Wirklichkeit in einem Orkan aus Feuer und Asche.