Tharin
In meinem Kopf explodierten die Stimmen. ›Das hättest du nicht zulassen dürfen, Tharin!‹, schrien sie mich in ihrer himmlischen Mehrstimmigkeit an. Zu sanft für eine Rüge, zu zart, um sie als Drohung wahrzunehmen. Aber genau das waren ihre Worte. Drohungen.
Andhera würde brennen.
Der Krieg kam mit dem Wind, über die See und steckte alles in Flammen. Und ich hatte versäumt, ihn aufzuhalten. Tharin, der untalentierte Mönch, der Unscheinbare, der schlechteste Seher, den Andhera je hervorgebracht hatte. Und nun? Saß ich vor einer Kriegerin des Schwarzen Engels auf einem Pferd, mit gefesselten Händen und getrennt von dem Jungen, den ich schützen wollte.
Mein Kopf ruckte herum. Der Krähenprinz drückte den Jungen an sich. Sein Körper war in eine raue Decke gewickelt. Nur das Gesicht lugte heraus und schimmerte im Mondlicht wie Perlmutt. Seine Augen waren müde. Immer wieder flackerten ihm die Lider und sanken herab. Die Erschöpfung nagte an ihm.
Ich hätte derjenige sein sollen, der mit ihm ritt und bei ihm war. Nicht er. Nicht das Monster, das Andhera in den Untergang treiben würde.
Hass bauschte sich in mir zu einer Welle auf.
Vollkommen unmöglich, ihn zu besiegen. Nicht jetzt. Nicht morgen. Niemals.
Vesna packte mich grob im Nacken und lenkte meine Aufmerksamkeit von den beiden fort, zurück nach vorn, auf den Pfad, der vor uns lag. Ihre Berührung war grob, aber sie genügte für eine kurzzeitige Ablenkung.
Ihre Hände, die vor meiner Brust die Zügel hielten, steckten wieder in weichen, schwarzen Lederhandschuhen, die erst unterhalb des Ärmels endeten, um vor jeglicher Berührung geschützt zu sein. Mit gerunzelter Stirn folgte ich dem Lauf ihres Armes und überlegte kurz, ob ich sie wohl überwältigen konnte, wenn ich ihr den Handschuh fortzog und die grauenhaften Bilder unserer brennenden Welt abermals in ihren Kopf pflanzte. Vorausgesetzt, es funktionierte mehr als einmal.
Doch dann verwarf ich den Gedanken. Sie hatten Eyndor. Und ich hatte gewesen, wie er zu Boden gegangen war und gespürt, dass der Krähenprinz ihm irgendetwas Furchterregendes angetan hatte. So lange ich nicht wusste, was, würde ich bleiben müssen.
»Wie kannst du ihn nicht hassen, für das, was geschehen ist?«, raunte ich ihr zu, die Zähne so fest aufeinander gepresst, dass meine Kiefer schmerzten.
»Was ist deiner Meinung nach geschehen?«
»Du hast genau gesehen, was er getan hat. Das Weltenherz ist zerstört.«
Wir beiden hatten es in seiner Hand zerbrechen sehen.
»Er wird uns sagen, was er getan hat«, entschied Vesna, »wenn es an der Zeit ist. Dem Jungen geht es gut. Dir geht es gut. Niemand wird euch töten, im Reich der dunklen Träume. Ihr seid sicher. Für einen Mönch bist du ziemlich undankbar, Tharin.«
Undankbar? Ich biss die Zähne fester zusammen. Hatte sie vergessen, dass das Handeln des Krähenprinzen uns langfristig einen grauenhaften Tod bescheren sollte?
»Wieso vertraust du ihm? Er ist ein Monster.«
»Auf meinen Reisen mit ihm habe ich Monster gesehen.« Die Kriegerin schmunzelte, amüsiert über meine Unwissenheit. »Glaub mir, es gibt schlimmere Ungeheuer als ihn. Heute. Vielleicht war das nicht immer so. Aber inzwischen ist es wahr. Isay ist dort draußen. Es gibt keine größere Gefahr als ihn. Und er,« sie deutete ein Nicken in Richtung ihres Herrn an, »ist der, der ihn aufhalten wird.«
»Und wie, ohne das Weltenherz?«
»Ich weiß nicht, was du gesehen hast.« Mit einem Schlag wirkte die Kriegerin wie ausgewechselt. Frust machte ihre Worte bitter und Härte ließ sie die Schultern straffen. »Aber ich sah diese Waffe nicht zerbrechen. Alles, was ich sehen konnte, war, wie er es aus dem Jungen nahm und in den Händen hielt. Anders mag vieles sein, aber nicht dumm oder unbedacht.«
»Was also haben wir gesehen?«
»Einen Zauberer, der eine Waffe, von der die ganze Welt weiß, an einem Ort versteckt hat, den niemand kennt, und an dem man sie zuletzt vermuten würde.«
In meinem Kopf rauschten Gedanken. »Versteckt? Du meinst..«
Ich hörte, wie sie nickte, weil ihre Haare raschelten. »Ich habe das Licht gesehen, das den Jungen verließ und in ihn hineinfloss. Und du hast es auch gesehen. Und wir beide wissen, was es bedeutet.«
»Dass Andheras größte Hoffnung jetzt in den Händen eines mordenden, magischen Irren liegt.«
Diesmal schmunzelte sie nicht, oder nickte, oder lachte. Vesna blieb stumm und schaute nach vorn. Was wir gesehen hatten, dort in dem Zimmer, war so echt, wie das Feuer in unseren Köpfen. Teil einer verbotenen Prophezeiung. Teil des nahenden Untergangs.
»Wie hast du das eigentlich gemacht?«, fragte ich sie, mehr um meine Sorge zu überspielen, als aus tatsächlichem Interesse. In diesem Moment konnte ich nichts für Eyndor tun, also beschränkte ich mich darauf, Wissen über den Feind anzuhäufen. Und Vesna schien es sehr bereitwillig geben zu wollen.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, entgegnete sie verdrossen.
»Du hast mich berührt und die Stimmen gehört. Bist du eine Magierin, wie er? Bist du deshalb seine erste Wahl?«
»Ich besitze keine magischen Kräfte.«
Aber seine treueste Seele zu sein, leugnete sie nicht.
»Dann trägst du das zweite Auge in dir? Bist du eine Seherin?«
»Ich bin auch keine Seherin.«
»Aber du konntest sie hören, die Stimmen. Und die Feuer sehen. Und als er dich bat, ihn zu berühren, hast du sie wieder gesehen. Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Ich kann die Schicksalsfäden jeder Kreatur sehen, die ich berühre. Deshalb trage ich diese Handschuhe und lebe abgeschieden und einsam an seiner Seite im schwarzen Schloss. Er und ich, wir sind Verdammte, die es nur in Einsamkeit aushalten können. Aber wir sind keine Ungeheuer. Er«, sie deutete mit einer behandschuhten Hand zu dem Krähenprinzen und Eyndor hinüber, »ist alles, was Isay davon abhält, Andhera in ein Feuermeer zu verwandeln und mit Dunkelheit zu überziehen. Du und alle Anderen sollten ihm auf Knien danken, dass er an eurer Seite ist.«
»Und was ist mit den Geschichten? Hat er nicht unschuldige Sterbliche töten lassen und selbst gemordet? Ist es nicht wahr, dass er und Isay zusammen einst diese Schreckensherrschaft begründeten?«
Vesna zischte wütend. »Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst.«
»Und du vertraust einer Kreatur, die seinem schlimmsten Feind in Grausamkeit und Argwohn in nichts nachsteht und diese vielleicht noch übertreffen kann.«
»Du irrst dich.«
»Dann beweise es«, verlangte ich mit einem Funken Hoffnung im Herzen. »Lasst den Jungen und mich gehen. Wenn der Krähenprinz nun über das Weltenherz verfügt, braucht ihr uns nicht mehr. Wir werden euch nur eine Last sein.«
»Eine Last, die wir tragen werden«, kam eine Stimme aus dem Nichts. Ich drehte das Gesicht und bemerkte, dass der Kerub sein Pferd so nahe an uns herangelenkt hatte, dass er jedes Wort verstehen konnte. »Euch gehenzulassen, wäre Mord. Ihr würdet sterben, sobald ihr den Wald verlasst. Ich weiß, dass ihr keine Gefahr mehr seid, der Junge weiß es, und vielleicht auch du. Aber jenseits dieses Waldes wird jede Kreatur der Feind des Jungen sein. Jeder Dämon wird nach seiner Seele trachten, jeder Schatten ihm auflauern. Es wird dauern, bis Andhera sein Gesicht vergessen hat. Und was dich betrifft, Mönch.« Er langte hinab und griff etwas. Als das Messer vor meinen Augen aufblitzte, hob ich entsetzt die Hände, um den vermeidlichen Angriff abzuwehren, aber er zielte nicht auf mein Herz oder meinen Kopf. Er schnitt die groben Stricke durch, mit denen sie mich vor den Augen der Mönche und Priester gefesselt hatten. »Du kannst gehen und dich jagen und töten lassen. Du bist ein freier Mann.« Ungläubig starrte Vesna ihn an, doch der Krähenprinz nickte nur grimmig. »Ich gebe dir mein Wort, dass wir dich nicht jagen werden.«
Aus dem Deckenberg vor ihm lugte Eyndor hervor. »Ich will, dass du gehst, Tharin«, sagte er so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. »Ich weiß, wie sehr du es hasst, hinter Mauern eingeschlossen zu sein.«
»Und wer beschützt dich, wenn nicht ich?«
»Du hast mich lange genug bewacht«, fuhr der Junge fort und kämpfte erneut mit der Last seiner schweren Lider. »Jetzt wird Anders auf mich aufpassen. Und Vesna.«
Seine Worte rissen mein blutendes Herz entzwei. »Ich bin dein Freund, Eyndor. Ich kann nicht einfach gehen.«
»Und wenn ich es mir wünsche?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass unsere Pferde stehengeblieben waren. Der Krähenprinz und seine eiskalte Kriegerfreundin schenkten uns einen Augenblick Ruhe, einen kleinen, trostlosen Abschied irgendwo im Nirgendwo. War das ihr Verständnis von Erbarmen oder Gnade?
Ich unterdrückte das Aufkommen von Wut und schaute stur den Kleinen an. »Ist es das, was du willst?«, fragte ich ihn mit all meinem Mut. »Oder ist es das, was er will?«
Ich wies mit einem Nicken auf den Krähenprinzen. Hatte ich den Verstand verloren?
»Ich will es«, gab der Junge zurück. »Für dich. Du könntest tun, was du immer wolltest. Den Hafen besuchen. Oder zurück nach Lumea gehen. Oder irgendwohin, wo dich niemand kennt.«
»Bis Lumea zu Fuß?« Meiner Kehle entwich ein trockenes Lächeln. Nicht nur, dass ich dazu erneut an den Mönchen vorüber müsste, die mich in Stücke reißen würden, nein, ich war auch ohne Pferd und Proviant tot und verhungert, ehe ich das Gebirge erreichte.
Vielsagend drehte Eyndor den Kopf, hob die Hand und brachte den stolzen Krähenprinzen mit einer Geste dazu, sich nach vorne zu neigen, damit er ihm etwas ins Ohr flüstern konnte. Ich schluckte meine Wut hinunter. Zweifelsohne gab es eine Bindung zwischen ihnen. Ob sie schon vor ihrem bizarren Tausch bestanden hatte, wusste ich nicht, aber nun konnte ich sie deutlich sehen.
Während Eyndor flüsterte, starrte der Krähenprinz mich an. Nicht wütend, erschüttert, ernst. Und als Eyndor sich zurückzog und ihn fragend anschaute, zögerte er kurz, ehe er verhalten und ein wenig widerwillig nickte. »Vesna wird dich begleiten.«
»Was?«, fuhr diese zornig auf.
Sofort hob der Krähenprinz die Hand. Eine kleine Geste und sie verstummte sofort. Das Feuer in ihren Augen jedoch loderte heller als zuvor.
»Bei allem Respekt, Anders, ich-«
»Es ist der Wunsch des Jungen«, gab der Kerub entschieden von sich. »So soll es sein. Ihr könnt in zwei Tagen in Lumea sein.« Sein Blick brannte sich in ihren. »Und in fünf bist du wieder bei mir. Beeil dich. Es gibt viel für uns zu tun.«
»Das ist nicht dein Ernst.« Aber Vesnas Stimme klang plötzlich kehlig und trocken. »Du schickst mich fort?«
»Ich schicke dich, um meinen Namen reinzuwaschen. Bring den Mönch nach Hause und er wird niemandem erzählen, was er gesehen hat und gleich zu Beginn Zeuge der Gnade seines neuen Weltenhüters. Ich bitte dich nicht darum, Vesna. Wenn du es nicht tust, tut es ein Anderer, und dich schicke ich zurück zu deiner Mutter. Es ist deine Entscheidung. Aber die Zeit, in der wir zögern durften, ist vorbei.«
Ein eiskaltes Schweigen jaulte wie der Wind zwischen uns. Und dann schwang sich der Krähenprinz von seinem Pferd herab und hievte Eyndor zu Boden. Vesna tat es ihm gleich und stieg ab.
»Vesna, Liebes.« Er hob beide Hände an ihr Gesicht, zog es zu sich und küsste sie auf die Stirn, wie ein Kind. »Fünf Tage sind ein kleines Preis für den Wunsch eines Jungen, der bis vor Stunden das Schicksal der Welt auf seinen Schultern trug. Ich bitte dich, schlag uns diesen Wunsch nicht aus. Ich wüsste niemanden, den ich an deiner Stelle schicken könnte. Es gibt niemanden, dem ich vertraue, wie dir.«
»Ich werde gehen«, sagte sie entschieden. »Und ich schaffe es in vier Tagen zurück. Du hast mein Wort.«
In ihren Augen schimmerte Liebe, in seinen Ehrfurcht. Ich wollte ihre Beziehung verstehen, aber wahrscheinlich war sie zu komplex für mein sterbliches Herz. Also sank ich in die Hocke, breitete die Arme aus und ließ Eyndor Zeit, sich hineinzuwerfen. Den Tränen nahe schmiegte ich mein Gesicht an seine Schulter. »Willst du das wirklich, Kleiner?«
»Ich will, dass du glücklich bist, Tharin.«
In Lumea lag ein Leben vor und hinter mir, von dem ich hinter Tempelmauern stumm geträumt hatte. Tag für Tag. Selbst dann noch, als die Stimmen kamen. Ich wollte, mehr als alles andere, zurück dorthin. Sehen, ob meine Eltern noch lebten, oder meine Schwester. Schauen, ob Evia, die Liebe meines Lebens, noch im Dachstuhl ihrer Eltern wohnte und inzwischen Mann und Kinder hatte. Aber ich traute mich nicht, darum zu bitten. In den letzten Jahren war Eyndor meine Familie gewesen. Und auch wenn ich dort draußen noch eine besaß, er war allein. Sein einziger Freund nun ein gnadenloser Mörder.
»Ich werde wiederkommen«, versprach ich ihm. »Sobald etwas Schnee über die Sache gefallen ist. Ich werde mir Geld besorgen, ein Pferd kaufen und zu dir kommen, wenn du mich brauchst. Du weißt, ich höre dich, wenn du mich brauchst.« Ich tippte mir vielsagend an die Stirn. »Die Stimmen, erinnerst du dich?«
Eyndor nickte. »Ich werde dir keinen Kummer bereiten, Tharin. Ich verspreche es.«
Hinter mir seufzte Vesna schwer, als sie die Zügel ihres Pferdes fester umklammerte.
»Hier«, sagte Anders schließlich und reichte ihr auch die des zweiten Tieres.
»Und ihr?«
»Der Junge ist ein Fliegengewicht. Ich kann ihn tragen und vor Sonnenaufgang im Schloss sein.«
Noch bevor Andhera spürte, dass er das Schicksal betrogen hatte. »Geht jetzt. Abschiede sind keine meiner Stärken.«
»Vier Tage«, prophezeite sie ihm abermals.
Ich ließ Eyndor los und starrte ihm in die Augen. »Versprich mir, dass du immer weglaufen wirst, wenn du in Gefahr bist. Lauf und lauf und lauf und lauf. Immer weiter. Bis ich zu dir komme.«
»Versprochen.«
Als ich mich erhob, drückte mich die Last des Abschieds beinahe wieder hinab. Ich wandte mich Vesna zu. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte dasselbe Unglück wieder, das auch ich empfand. Man stieß uns fort. Wir waren nutzlos geworden.
»Komm, Seher Tharin«, sagte sie geknickt und drückte mir die Zügel des Pferdes in die Hand, das sie zuvor beritten hatte. »Lass uns keine Zeit verlieren.«
Mit einem Gefühl von Beklommenheit schwang ich mich auf den Rücken des Pferdes, und als ich einen Blick zurückwerfen wollte, sah ich nur noch ein paar riesengroße, schwarze Schwingen in den Nachthimmel aufsteigen.