Vesna
Ich wusste nicht, wer oder wo ich war. Ich sah nur Dunkelheit über mir schimmern und hörte das leise Rauschen von Stille und Bedrohung. Über meinem Gesicht kreiste die Wirklichkeit, wie ein Kaleidoskop aus Farben und Licht. Unscharfe Konturen zeigten eine Kreatur, weit weit über mir.
Ich schloss die Augen und ließ mich treiben. Eine seltsame Schwere lag auf all meinen Gliedern. Ich bewegte zwei Finger. Dann die ganze Hand. Wasser glitt lautlos durch meine Finger hindurch.
Plötzlich riss ich die Augen auf und begann mit Armen und Beinen zu strampeln. Was ich über mir sah, das seltsame Gebilde aus Farben und Lichtern, war die Oberfläche des Sees. Über mir. Ich trieb in den Fluten dahin, unaufhaltsam tief hinab. Die Konturen eines rabenschwarzen Geschöpfes verblassten, als es sich vom Ufer zurückzog.
Meine Muskeln ächzten. Wieso fühlte ich mich so schwach? Wie war ich ins Wasser gekommen und was war geschehen?
Während ich mit Armen und Beinen ruderte, und mich der Oberfläche langsam näherte, platzten Erinnerungen herein: Ein Mann mit einem goldenen Gesicht, Tharin, das Weltenherz, unsere knapp bemessene Reise. Ich erinnerte mich daran, auf den Fremden eingestochen zu haben, und dann nur noch an die Tiefe des Sees.
Mein Schwert lag nicht mehr in meiner Hand.
Mein Kopf durchstieß die Oberfläche und ich rang geräuschvoll nach Luft. In meinen Augen brannten Wassertropfen und Sonnenstrahlen. Hastig blickte ich mich um.
Die Kreatur war noch dort. Nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt kauerte sie über dem bewusstlosen Mönch. Mein Schwert lag neben ihnen im Gras, genau dort, wo ich es gezogen hatte und einsetzen wollte.
Ich musste Tharin zur Hilfe eilen. Anders hatte mich damit beauftragt, ihn nach Hause zu bringen. Am Stück.
Röchelnd kämpfte ich mich zum Ufer hin, bekam Schilfgras und Steine zu fassen und zog mich mit wummerndem Herzen aus den Fluten ins Gras hinauf. Meine Nerven vibrierten. Anspannung hielt jeden meiner Muskeln umschlungen.
Tharin!
»Hey!«
Ich kam auf die Füße, machte ein paar Schritte und ging dort in die Knie, wo mein Schwert lag. Blind tasteten meine Finger durch die hohen Grashalme, bis sie den schmiedeeisernen Griff zu fassen bekamen und umklammerten, als hinge mein Leben davon ab. Und vermutlich war dem auch so.
Die Kreatur fuhr herum. Plötzlich schien ihre Gestalt nicht mehr fest, sondern flüchtig wie Rauch und gänzlich formlos. Der Saum ihrer dunklen Robe floss wie Qualm auseinander, nur um sich schließlich wieder zu einer Form zu vereinigen.
»Geh weg von ihm!« Ich kämpfte mich auf die Füße und hob das Schwert. Von meinen Haaren tropfte das Wasser.
»Und was, wenn nicht?« Unter der Maske meines Gegenübers klang die Stimme ruhig und weich. Der Stahl über seinen Lippen dämpfte die Lautstärke seiner Worte. Ein Mann. Dieses Ding sprach mit samtweicher männlicher Stimme.
Etwas, das vielleicht ein Lachen sein konnte, hämmerte von innen gegen die goldene Maske, die er trug. Das Wesen streckte die Hand vor, und plötzlich lag ein Schwert darin. So wie der Rest seiner Erscheinung geformt aus tiefschwarzem Rauch.
»Wer bist du?«, fragte ich kühl. »Und was?«
Das Wesen hob das Schwert und ließ es auf meines niederrauschen. Die Wucht, die hinter diesem Hieb steckte, ließ meine ganze Klinge beben. »Königstochter«, sagte die säuselnde Stimme. Der Blick des Geschöpfes fuhr mir wie ein Speer durch die Seele. »Du bist am falschen Ort. Ich brauche dich nicht. Nur ihn, wenn er der Richtige ist. Du riskierst dein Leben unnötig, wenn du dich in fremder Leute Belange mischst.«
»Ich bin genau da, wo ich sein soll«, antwortete ich entschieden.
Dem Feind niemals zeigen, dass man verunsichert ist, oder erstaunt, oder gar ängstlich. Das hatte Anders mich als Erstes gelehrt. Mehr als meine Entschlusskraft stand nicht zwischen dem Ungeheuer und uns.
»Und wo ist das?«, flüsterte der Fremde melodisch. Seine Worte klangen beinahe wie ein Singsang.
Neben Tharin. Diese Antwort schoss mir wie ein Blitz durch die Gedanken. Dort, wo mein Schicksal mich hingeführt hatte, wo Anders mich haben wollte. Genau dort, wo ich hingehörte. Die Erkenntnis war überwältigend. Plötzlich fühlte es sich nicht mehr unbehaglich an, so weit vom Krähenprinzen fort zu sein. Mein Platz war hier. Genau hier. An diesen Punkt hatten mich alle Schicksalsfäden laufen lassen. An Tharins Seite. Wieso, wusste ich nicht. Aber es fühlte sich wertvoll und richtig an.
Mein Blick verriet mich wohl, denn die Augen unter der Maske folgten mir zur bewusstlosen Gestalt des Mönchs hin. Ein Lächeln überschattete sein Gesicht, das nur zu erahnen war. Einzig seine Augen verrieten das boshafte Grinsen. »Du folgst deinem eigenen Tod, Prinzessin.«
»Ich bin keine Prinzessin.«
Nie zuvor hatte ich diese Bezeichnung so entschieden abgestritten. Niemals hatte sie sich falscher angehört. Ich war eine Kriegerin. Tharins Beschützerin. So entschlossen, als wäre ich es immer schon gewesen.
»Sein Tod wird dein Tod sein.« Das Goldgesicht wies mit dem Schwert auf Tharin hinab. »Der Tod Andheras. Das ist, was euch erwartet.« Unter seiner Macht zogen dunkle Wolken auf und hüllten den Himmel in tiefe Schwärze. »Ich kann es dir zeigen.«
Und so sanft, wie seine Worte in mein Ohr krochen, holte mich die Vision ab, die er meinen Gedanken einimpfte. Die Flammen, das Feuer, der Tod - nichts davon war neu. Und doch bot seine Vision einen neuen, erschreckenden Hintergrund. Ich sah Anders. Und er lebte. An einen Pfahl gekettet, kniend, mit aufgespreizten Schwingen, während die Welt um ihn brannte.
›Dieses Feuer ist die einzige Waffe, die das Böse fernhält und Schatten in Licht umkehrt.‹ Zischelnde Stimmen, wie jene, die ich durch Tharins Berührung wahrgenommen hatte, krochen durch meine Gedanken wie ineinander verschlungene Schlangen. ›Du musst es beschützen. Ihn beschützen.‹
Ob die Stimmen nun Tharin oder Anders meinten, wusste ich nicht. Es war auch nicht wichtig, denn um den Einen zu beschützen, musste ich auch dem Anderen den Rücken stärken. Wir waren alle in diese Schicksalspfade verworren. Jeder von uns spielte seine Rolle. Ob wir wollten oder nicht.
Die Flammen verschwanden aus meinen Gedanken. Ich sah nur noch Anders brennende Schwingen auf meiner Netzhaut nachglühen. Dann ging sie im Gold verloren. Im goldenen Antlitz meines Gegenübers.
»Geh weg von ihm«, wiederholte ich entschieden.»Ich bin die rechte und linke Hand des schwarzen Engels. Du willst mich nicht zum Feind haben, Fremder.«
»Also hast du es gesehen.« Tief und genussvoll atmete mein Gegenüber ein und ließ das Schwert langsam ein Stück sinken. »Das Ende.«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe.«
»Ihn. Fluchbringer, Schwarzflügel, Krähenprinz, Hoffnungsträger - ich kenne mehr Namen, als ihm die Sterblichen bisher gegeben haben. Ich habe, seit er das erste Mal durch meine Gedanken rauschte, unzählige Male in seine Zukunft geblickt. Dich habe ich nie gesehen. Er stirbt allein. Für dich ist kein Platz an seiner Seite vorgesehen. Das Ende der sterblichen Welt ist gekommen. Andhera stirbt. Und mit ihr-«
Plötzlich hielt er inne, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Ich sah, wie seine Augen schmaler, sein Blick strenger wurde, und dann spürte ich es ebenso. Das Knistern in der Erde. Die Schwingungen der flirrenden Luft.
Etwas versetzte die Natur in Aufruhr.
Und plötzlich sah ich auch, was.