Als die Sonne aufging, waren Camilla und Jo bereits unterwegs.
Das Airboard glitt schnell und mühelos über den Wellen dahin, Camillas Umhang wehte wie eine Fahne hinter ihnen her.
Jo stand hinter der älteren und hielt sich mit der rechten Hand an deren Arm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Camilla dagegen lachte übermütig in den Fahrtwind.
Sie hatten für heute einen Plan gefasst. Das hieß, Camilla hatte Jo ihren alten Plan erklärt. Als sie Jo gerettet hatte, war sie nicht zufällig in der Stadt gewesen.
Deshalb umklammerte Jo mit der linken Hand einen silbernen Aktenkoffer. Den hatte Camilla aus einer Fabrik gestohlen, und er war mit Plakaten gefüllt, die ein Freund für sie gedruckt hatte. Ihr Vorhaben war Wahnsinn, das hatte Jo mehrmals betont. Allerdings in einem bewunderndem Tonfall.
Camilla stellte die Füße um und kurvte eine verspielte Schlangenlinie. Jos Griff wurde fester. „Pass bloß auf!“ rief sie erschrocken.
Camilla drehte sich halb zu ihr um – ganz konnte sie nicht, weil ihr Arm von Jo wie in einem Schraubstock festgehalten wurde. „Beruhig dich. Ich lass dich schon nicht fallen.“
Jo schenkte ihr dafür einen misstrauischen Blick. Camilla grinste. „Wie alt bist du, fünf? Hab ein bisschen Vertrauen.“
„Siebzehn.“ schmollte Jo. „Und jetzt guck nach vorne.“
Camilla drehte sich tatsächlich nach vorne und hörte sogar auf, Schlangenlinien zu fahren. Jo konnte ihr Glück kaum fassen, bis sie bemerkte, dass sie sich der Stadt näherten. Ihr spielerischer Streit war auf später verschoben.
Camilla tauchte geschickt in die engen Gassen des Hafenbereiches ein. Sie verringerte die Geschwindigkeit und schwebte geräuschlos über dem nassen Pflaster. Nur wenige Menschen waren um diese Uhrzeit unterwegs, Bäcker und Hafenarbeiter, die zur Arbeit gingen, und Hafenarbeiterinnen, die von ihrer Arbeit zurückkehrten. Ab und zu lag jemand in Decken gehüllt auf den Stufen eines Geschäftes oder in der Dunkelheit unter einer Brücke.
Jo versuchte, nicht hinzusehen, doch die Menschen zogen ihre Blicke immer wieder aufs Neue an. Sie zitterte unwillkürlich.
Aus einer Kneipe drang noch Gesang, als sie vorbei flogen. Jo fuhr zusammen, als mit lautem Splittern etwas hinter ihnen aus dem Fenster geflogen kam. Camilla drehte sich wieder halb nach hinten, und auch Jo wagte einen Blick über die Schulter. Auf der Straße lag ein Barhocker in einem Scherbenhaufen, doch die Stimmen in der Kneipe wurden lauter und wütender.
Camilla ließ das Airboard schneller fliegen, und die Kneipe blieb hinter ihnen zurück.
Dann erreichten sie endlich das Ziel des Ausflugs – die Schule.
Camilla ließ das Airboard aufsteigen und umkreiste das flache, langgezogene Gebäude einmal vorsichtig. Dann flog sie ein paar Meter näher und zog einen weiteren Kreis. Ihre ganze Körpersprache drückte Wachsamkeit aus. Jo hielt sich an ihrem Arm fest und versuchte, möglichst unsichtbar zu sein.
Schließlich war auch die dritte Runde abgeschlossen, und noch immer hatte sich in der Schule nichts gerührt. Camilla brachte das Airboard nah an ein geöffnetes Fenster im zweiten Stock.
Sie drehte sich zu Jo. „Ich bin immer hinter dir.“ flüsterte sie. „Sobald etwas schief läuft, rufst du mich, und wir hauen ab.“
Jo schluckte und nickte dann. Sie hob den Koffer vor die Brust und kletterte mit Camillas Hilfe durch das Fenster. Die ältere würde das Airboard fluchtbereit halten, was deutlich schneller wäre, als erneut auf die Fernbedienung zurückgreifen zu müssen. Allein aus diesem Grund hatte sie Jo mitgenommen.
Im Gebäude öffnete Jo den Koffer und nahm einen Stapel Papiere heraus. Leise huschte sie damit zum Treppenhaus und in das Erdgeschoss. Draußen verfolgte Camilla ihren Weg und hielt das Gebäude im Auge.
Jo nahm den ersten Zettel und klebte ihn direkt an die Tür des Direktorates. Den zweiten ans Lehrerzimmer. Den dritten, vierten und fünften von Innen an den Haupteingang. Die Klebestreifen, die sie verwendete, waren stark genug, um einen Elefanten zu halten. So schnell würde man die Zettel nicht abbekommen. Sie lächelte urplötzlich, und fing dann an zu lachen.
Sie verteilte weiterhin Zettel, an jeden Klassenraum. Auf den Zetteln waren orangene Flammen abgebildet, stilisiert und mit einem harten, schwarzem Kontrast.
Das Symbol des Widerstands.
Es schlug grade halb acht, als Jo in den Klassenraum mit dem offenem Fenster zurück hetzte und die letzten Zettel an der Tafel verteilte. Dann schnappte sie sich den Aktenkoffer und kletterte wieder aus dem Fenster, wo Camilla schon ungeduldig wartete.
„Warum hast du solange gebraucht?“ schimpfte sie und sah dann in den leeren Koffer. „Hast du alle Zettel verbraucht?“
Jo nickte stolz. „Ich habe die Mensa neu tapeziert und ein paar Mathebücher unbrauchbar gemacht. Ganz abgesehen von diesen super-teuren Tafeln.“
Camilla hob beide Augenbrauen. „Nicht schlecht.“ meinte sie beeindruckt.
Dann stieß sie sich von der Schulwand ab und das Airboard flog flüsternd zurück in den Schatten der Hochhäuser.
Diesmal waren die Straßen leerer. Die Morgenpatrouille hatte ihre Runde bereits gemacht, und alle Obdachlosen eingesammelt, derer sie habhaft werden konnte. Während Jo und Camilla über die Straßen flogen, krochen diejenigen, die der Wachsamkeit entgangen waren, grade wieder vorsichtig aus ihren Verstecken, zusammen mit den Arbeitern, deren Tag jetzt begann.
Die beiden Mädchen mit dem Aktenkoffer zogen ein paar neugierige Blicke auf sich, doch keiner merkte sich den Weg, den sie durch die verschlungenen Gassen nahmen. Sie waren immer noch in der Unterstadt, und je weiter sie sich von dem Schulviertel entfernten, desto verfallener wurde die Stadt. Am Hafen und bei der Schule hatte die Oberstadt sich eingesetzt, damit wenigstens die Lieferung der Waren angenehm waren, und die Schulbildung nach ihrem Geschmack. Jo hatte sich beim Anblick der Bücher ein Feuerzeug gewünscht, aber sie durften keinen Alarm auslösen.
Sie griff in die Tasche der Kapuzenjacke und zog das kleine „Lexikon der Hierarchien“ aus der Tasche. Der kleine Band sagte den Menschen der Unterstadt, dass sie an ihrem richtigem Platz waren, und damit glücklich sein sollten.
Jo warf das Buch in einen Müllcontainer, als sie vorbeiflogen. Ihr war schlecht.
Weit hinter ihnen erhob sich ein Sturm der Empörung, als die ersten Lehrer die Schule betraten und die Zettel mit extra-starkem Klebeband entdeckten. Camilla und Jo waren bereits weit außer Sicht- und Hörweite, sonst hätte ihr schadenfrohes Lachen der Preis ihrer Freiheit sein können.