Nach diesen Offenbarungen saßen Camilla und Jo lange in der Düsternis des versteckten Bunkers. Über ihren Köpfen verklang das Knallen der Maschinengewehre langsam in der Ferne.
Camilla lehnte mit dem Rücken an der kalten Stahlwand. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Ihre Gedanken kreisten um die vielen Menschen, die ihren Weg begleitet und dann oft gewaltsam verlassen hatten.
„Es tut mir leid.“, flüsterte Jo schließlich.
Camilla sah auf: „Was?“
„Alles. Was du erleben musstest. Es muss schrecklich gewesen sein.“
Mit düsterem Blick nickte Camilla. „Aber so geht es vielen. Kaum jemand in den Unterstädten ist nicht schon mehrfach in solchen Situationen gewesen.“
„Ich weiß.“, flüsterte Jo so leise, dass Camilla es kaum gehört hatte.
Die Jüngere rieb sich die Arme mit den Händen: „Ich weiß es nur zu gut. Ich habe ein paar Statistiken dazu gefunden. Viele reiche Menschen in der Oberstadt halten sich ein paar Sklaven im Keller. Manche verdienen sich auch Geld dazu, indem sie Räuberbanden anstellen. Und andere sind heimlich bekannte Drogenhändler.“
Camilla sah das Mädchen an. Jo verzog leicht das Gesicht.
„Die schlimmsten Übel der Unterstädte gründen sich darin, dass ein paar Reiche noch etwas mehr Geld wollen.“ Jo ballte eine Hand zur Faust und öffnete sie sofort wieder: „Ich schäme mich, jemals zu ihnen gehört zu haben!“
Camilla hob erstaunt eine Augenbraue: „Obwohl du dich in kalten, dunklen Bunkern verstecken musst?“
Jo grinste schwach. Sie betrachtete Camillas Gestalt, die in dem schwachen Licht kaum auszumachen war. „Wie du gesagt hast: Wenigstens sind wir frei. Ich habe niemals geglaubt, dass die Freiheit so glorreich ist, wie sie klingt. Und...“ jetzt zögerte sie doch und biss sich auf die Unterlippe. Sie sah Camilla an und fuhr leiser fort: „Und je schlimmer es mir geht, desto deutlicher weiß ich, dass ich noch lebe. Weißt du... in der Oberstadt... Wir zeigen dort keine Gefühle. Hitze, Kälte, Wind – das alles wird durch Klimaanlagen und ähnliches ausgesperrt. Das Leben dort ist immer gleicht, durch die Lampen ist es immer hell, es ist immer laut. Nicht verändert sich dort.“
Jo brach ab und sah auf das Muster des Bodens, auf die kleinen Kreuze, die in regelmäßigem Abstände auf dem Metall aufragten.
Camilla betrachtete Jo. „Das klingt furchtbar.“
Jo nickte. „Das war es. Auf eine andere Art als dein Leben.“
Camilla nickte und gab ein schnaubendes Lachen von sich: „Ich kann alles behaupten, aber nicht, dass es langweilig war!“
Jo grinste zurück: „Also solltest du dich auf keinen Fall beschweren!“ scherzte sie.
Camilla schüttelte lachend den Kopf: „Wirklich, du hast mir die Augen geöffnet, Jo! Wir konnte ich nur glauben, dass eine Kindheit in Armut schlimmer sei als eine im Reichtum?“
Jo senkte den Blick auf Camillas Worte. Aber die Ältere beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Jo sah auf. „Ich wünschte nur, ich hätte dein Leben gehabt!“ flüsterte sie leise. „Dann müsste ich mich für nichts schämen.“
Camilla schüttelte den Kopf: „Schäme dich nicht für das, was du warst. Was zählt, ist, was du heute bist. Was du getan hast.“
Jo wollte den Blick abwenden, doch Camilla fasste ihr Kinn mit einer Hand und zwang das Mädchen sanft dazu, ihr in die Augen zu sehen: „Du bist meine Freundin, Jo. Nichts anderes zählt. Du kämpfst auf meiner Seite, obwohl du in der Oberstadt alles hattest. Du hast das Elend absichtlich gewählt. Niemand, niemand sonst, wäre so stark gewesen!“
Camillas helle Augen hielten Jos Blick fest. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter von einander entfernt. Jo spürte Camillas Atem über ihr Gesicht streifen. Sie blinzelte langsam, ließ die Augen einen Sekundenbruchteil länger geschlossen.
Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, beugte sich Camilla leicht noch ein Stückchen vor.
Ihr ängstlicher Herzschlag hielt sie plötzlich zurück. Sie war viel zu unsicher, so ganz anders als je zuvor. Sie spürte, wie der Moment entglitt, wie die Chance zu verstreichen drohte.
Doch Jo machte eine winzige Bewegung, und im nächsten Moment lagen ihre Lippen aufeinander.
Es war elektrisierend. Camillas spürte eine Welle von Gefühlen über sich hinweg spülen. Die Angst wurde einfach abgewaschen. Es existierte nur noch Jo für sie, und dieser eine Moment.
Die Mädchen tasteten nach den Händen der anderen. Sie schmeckten die andere, erkundeten gegenseitig ihre Münder. Jede Berührung glühte wie ein Feuerwerk. Jos Finger glitten in Camillas Haare, spielten abwesend mit den Locken. Ihr Kuss war verlangend, hungrig. Er trug ein Selbstbewusstsein in sich, das Jo sonst niemals zeigte.
Camillas ließ sich ganz von der Jüngeren führen. Sie hatte keine Erfahrung, und sie bezweifelte, auch, dass Jo viele hatte. Doch fast intuitiv kamen sie näher zusammen. Ihre Herzen schienen im Einklang zu schlagen. Noch nie, in keiner Sekunde ihres Lebens, hatte Camilla etwas ähnliches gespürt.
Ganz vorsichtig streckte sie sich, als würde sie einen Schmetterling fangen wollen, zog Jo in eine Umarmung und ließ die Hände über den schmalen Körper gleiten.
Sie wollte jeden Zentimeter, und sie wollte ihn jetzt. Doch nicht alles auf einmal, sondern genüsslich und langsam, als würden ihnen Jahrhunderte zur Verfügung stehen.