„Was hast du getan?“ fragte Camilla. Ihre Stimme wurde schrill vor Angst. Jo wich noch weiter zurück, dabei hatte sie doch hier die Waffe.
Camilla sprang auf und griff mit beiden Händen nach dem Mädchen, um sie zu schütteln.
„Woher hast du den Dolch? Wer bist du?“
Jo zog den Dolch jetzt hervor und hielt ihn schützend vor sich. Camillas Blick wanderte über die silberne Klinge. Sie betrachtete den bläulichen Griff und die aufwendigen Verzierungen.
Oberstadt-Arbeit. Solche Dolche gab es nirgendwo in den Slums der Armen.
„Es tut mir leid!“ rief Jo. In ihren großen Augen glitzerten verräterische Tränen.
„Was ist wirklich passiert, als ich dich gerettet habe? Du hast nicht versucht, in die Oberstadt zu gelangen, richtig?“ Camilla verstand es mit einem Schlag: „Du bist geflohen! Du kommst aus der Oberstadt!“
„Bitte! Ich wollte es dir sagen! Ich-!“
„Ich habe dir vertraut!“ brüllte Camilla wie ein verletzter Tiger. Sie stieß Jo von sich. „Ich habe dich gerettet und beschützt! Du bist eine Lügnerin!“
Jo stolperte in die Mitte der Höhle. Sie hatte den Dolch immer noch umklammert, und sie wich weiter vor Camilla zurück.
„Es tut mir so leid!“ presste das Mädchen hervor, dann drehte sie sich um und floh aus der Höhle.
Camilla fluchte hinter ihr her, folgte ihr – doch Jo war auf den Klippen nirgendwo zu sehen. Einen Moment dachte Camilla, das Mädchen habe sich ins Meer gestürzt, der Gedanke machte ihr trotz aller Wut Angst. Doch dann sah sie Jo, wie sie die Felsen hinauf kletterte. An Händen und Füßen hatte sie durchsichtige Saugnäpfe. Camilla wusste nicht, wo Jo die Geräte zuvor versteckt hatte, doch bei der Oberstadt-Technologie kannte sie sich nicht gut aus. Spione aus den reichen Städten besaßen alle möglichen Spielereien.
Rasend vor Wut hetzte sie zurück in die Höhle und griff nach ihrer Schockpistole. Wieder draußen auf den Klippen schoss sie mehrere Schüsse auf die fliehende Jo ab, doch jedoch alle verfehlten. Im nächsten Moment zog sich das Mädchen auch schon in Sicherheit.
Camilla stieß einen lauten Schrei aus. Sie war reingefallen! Schon wieder hatte man sie hereingelegt, und sie lernte einfach nicht dazu!
Sie sank auf den Klippen auf die Knie und stieß die Fäuste in den Boden. Das durfte doch nicht wahr sein!
Und sie hatte sich Gedanken über ihre Gefühle gemacht! Als ob es keine anderen Probleme für sie gäbe!
Sie spürte zu ihren Erschrecken Tränen auf ihren Wangen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, jemandem vertrauen zu können. Sie hatte es glauben wollen. Sie hatte so gerne an ein wenig Glück glauben wollen.
Lüge! Alles war nur eine Lüge! Vermutlich war Jo damals auch nicht vor den Polizisten geflohen. Viel eher war es ein Trick gewesen, eine inszenierte Verfolgungsjagd. Nur um sie, Camilla, endlich zu fangen.
Was Jo gesagt hatte, stimmte. Camilla war die einzige Widerstandskämpferin, die der Oberstadt wirklich gefährlich werden könnte. Sie war nicht bestechlich. Und das war ihr Fehler.
„Ich sollte das Geld kassieren und endlich aufgeben!“ brüllte sie in den Regen. Dicke Tropfen fielen ihr ins Gesicht.
Wie hatte es Jo bei diesem Wetter nur geschafft, nicht von den Felsen zu fallen? Und warum zur Hölle sollte es sie kümmern?
Camilla stieß einen weiteren, wortlosen Schrei aus. Dann rief sie: „Ich habe dir vertraut!“
Ihre Worte wurden von einem lauten Donnern verschluckt. Camilla sah auf das aufgewühlte Meer und spürte den Wind,d er an ihren Haaren zerrte.
Wie hatte sie Jo nur vertrauen können? Wieso glaubte sie immer noch, dass es so etwas wie Freundschaft geben konnte? Oder gar Liebe?
Das waren alles nur Wörter. Sie war zu arm, um sich etwas derartiges leisten zu können. Liebe war etwas für die Reichen.
Endlich stand Camilla auf und schleppte sich in ihre Höhle zurück. Sie ließ den Eingang offen, ignorierte ihre nasse Kleidung und blieb schließlich auf dem Boden in der Mitte der Höhle liegen. Sie war bereit, aufzugeben. Es gab nichts mehr, dass sie antrieb.
Wen wollte sie denn überhaupt retten? Die Unterstadt? Oder vielleicht doch eher sich selbst? Sie war so müde. Niemand half ihr, niemand kämpfte an ihrer Seite. Niemand belohnte sie.
Es war ein verzweifelter Kampf, und selbst diejenigen, für die sie kämpfte, schienen sich nicht um sie zu kümmern.
Sie war allein.