Das Airboard trieb in langsamem Tempo flach über den Wiesen dahin.
Camilla und Jo hatten es sich auf dem Brett halbwegs bequem gemacht. Camilla saß hinten und ließ die Beine baumeln, Jo hockte vor ihr, die Füße hatte sie auf dem letzten Rest Brett vor sich abgestellt und die Knie vor die Brust gezogen. Sie lehnte an Camilla, die das Board steuerte.
Sie waren endlich aufgebrochen, in Richtung Süden. Das Licht der Sonne schien ihnen seitlich in die Gesichter und warf lange Schatten auf den Boden unter ihnen. Es war schon wieder Abend, der letzte Abend, wie sie es sich vorgenommen hatte, diesseits der Mauer.
Der Boden unter ihnen war rötlich-schwarz gesprenkelt von der sinkenden Sonne. Doch vor ihnen, nicht mehr unmittelbar am Horizont, war die scharfe, schwarze Linie der Mauer aufgetaucht. Die ersten Feuer der Wachen erglühten auf den Mauern und atmeten Funken zu den erwachenden Sternen.
Aufregung hatte von den beiden Mädchen Besitz ergriffen. Ihre Herzen schlugen höher und schneller, es war endlich so weit!
Jo hatte Camillas rechte Hand umklammert. Camilla hielt das jüngere Mädchen in einem starken Arm. Ihr Ziel war ihnen so nah, dass sie bereits das idyllische Leben auf der anderen Seite sehen konnten. Auf dem langem Hinweg hatten sich Jo und Camilla dieses Leben genauestens ausgemalt:
Eine kleine Hütte würden sie haben, mit Strohdach und kleine Fenster mit Blumenkästen. Es würde ein einstöckiges Holzhaus sein, selbst gebaut, denn immer hin gab es jenseits der Mauer keine Städte. Vermutlich würden die Flüchtlinge dort kleine Dörfer gebildet haben.
Ihr kleines Holzhaus jedenfalls würde einen Blumenkarten haben, und nicht weit entfernt gäbe es einen kleinen Stall, in dem sie Hühner halten würden, und eine Ziege. Einmal in der Woche würden sie bis in das nahe Dorf wandern, selbstgeerntete Früchte und selbstgemachten Käse gegen Brot und Getränke tauschen, und sonst die meiste Zeit von dem Leben, was der Wald ihnen bieten würde. Pilze, Früchte, Wildtiere.
Der Traum war so stark, dass Jo bereits die Hütte vor sich sah, an einem kleinen Bachlauf gelegen, und Camilla bereits den süßen Wildhonig schmeckte, den sie finden würden. Nur noch die Mauer lag zwischen ihnen, bewacht von Polizisten. Doch die Wächter sollten nur verhindern, dass die Ausgewanderten aus der Wildnis zurückkehrten. Sie würden sich nicht sehr bemühen, zwei Kinder aufzuhalten, die die Wildnis betreten wollten.
Dennoch ließ Camilla das Airboard langsamer werden und näherte sich im Schutz eines kleinen Wäldchens der dunklen Mauer. Jo zitterte leicht vor Aufregung. Camilla spürte die gleiche Nervösität.
Sie würden endlich frei sein! Endlich entkommen, für immer.
Doch dazu durften sie keinen Fehler machen. Wenn die Wachen Camilla erkannten, würde man sie vielleicht bis in die Wildnis verfolgen.
Es drängte beide Mädchen dazu, höher zu fliegen und einen ersten Blick auf ihre Zukunft zu werfen. Die Mauer ragte viele Meter hoch und erstreckte sich, so weit das Auge sehen konnte, in einer fast geraden Linie über das Land.
Hinter einer großen Eiche, dem letzten Baum vor der Mauer, hielt Camilla das Airboard schließlich ganz an. Kleine Waldtiere raschelten im Laub um sie herum. Ein Käuzchen rief, etwas flatterte fast lautlos in der Nähe vorbei.
Die beiden Mädchen lehnten sich leicht vor und beobachteten die Bewegung auf der Mauer. Wachen liefen dort auf und ab, marschierten im Gleichschritt vorbei. Im Abstand vor etwa zwanzig Metern folgte Wache auf Wache, zwei Reihen, die einander entgegen liefen. Anscheinend mussten die Menschen die ganze Länge der Mauer in einem sehr engem Oval ablaufen, am Ende der Mauer, irgendwo weit außer Sicht, drehten sie um und marschierten zurück.
Hin und her. Die ganze Nacht. Im gleichen Tempo.
Camillas suchte in den Reihen der Männer nach einer Lücke. Eine schwere Panzeruniform nach der nächsten kam vorbei. Fast schon wie Maschinen, währen nicht die kleinen Gesten von Langeweile, Müdigkeit oder Kälte gewesen. Hier ein Husten, dort ein Zittern.
„Was tun wir?“, fragte Jo leise.
Seit Stunden hatten sie geschwiegen, doch jetzt war der Moment gekommen. Sie waren bis hierher gelangt, sie konnten nicht umkehren.
„Da hinten!“, flüsterte Camilla und deutete auf eine Stelle vielleicht hundert Meter entfernt. Jo strengte die Augen an: Dort war eine Lücke in der festen Reihe der Bewaffneten. Als wären den Wachen die Männer ausgegangen fehlten dort fünf oder sechs Wachen in der Reihe, die näher an Camilla und Jo lag. Eine Unterbesetzung: Das war ihre Chance!
„Wir warten, bis sie hier sind. Dann fliegen wir, so schnell es geht, hinüber und verschwinden in der Wildnis!“, sagte Camilla.
Jo nickte und kaute auf ihrer Unterlippe.
Nur noch ein bisschen warten...