Camilla erzählt:
Ich denke, ich schulde dir auch eine Geschichte. Sieh es als Entschuldigung. Ich hätte dich nicht angreifen sollen.
Ich bin in einer Unterstadt weit entfernt geboren. Hoch im Norden, an der See. Ich weiß von meiner Kindheit eigentlich nur, dass es immer kalt war. Eiskalt. Wir hatten undichte Hütten, das Meer schlug an die Klippen und durchnässte uns selbst in unseren Betten.
Ich bin als siebzehntes Kind meiner Eltern geboren. Viele meiner Geschwister habe ich nie kennen gelernt. Es war kalt in der Unterstand, eng. Krankheiten haben sich rasend schnell verbreitet, es gab wenig zu essen. In solcher Umgebung überleben Säuglinge nur schwer.
Ich musste viel arbeiten. Feuerholz stehlen, Essen beschaffen, das Haus musste ständig ausgebessert werden. Ich lernte früh zu lügen, ich lernte sehr schnell zu rennen. Was ich nicht lernte, war Vertrauen. Als ich sechs war, fiel mir eine Krug Milch um, und mein Vater verjagte mich von Zuhause. Ich zog durch die Gegend. Kurz bevor ich vor Kälte starb, haben mich ein paar Wanderer aufgelesen. Es war ein Wanderzirkus, der ein Schmuggelgeschäft verbarg, und dort lernte ich Maschinen reparieren. Ich wurde eine begabte Technikerin, doch als ich etwa acht war, wurde der Zirkus von anderen Schmugglern überfallen und ich musste fliehen. Aus dieser Zeit habe ich mein Airboard, das ich jedoch schon oft überarbeitet habe
Als nächstes landete ich bei einem Pubbesitzer ein paar Städte weiter. Ich war dort zwei Jahre Bedienung, bis der Besitzer auf die Idee kam, mich als Kindersklavin zu verkaufen. Quasi über Nacht wurde ich eingepackt und fortgeschafft. Eine Steinmiene sollte mein Zuhause sein, doch ich floh, bevor ich zwei Arbeitstage um hatte. Weit kam ich nicht, denn zwei sehr nette Männer nahmen mich auf. Ich merkte erst zu spät, dass sie Nachwuchs-Prostituierte suchten. Ich wurde mit anderen Kindern in ein Lager gebracht, wo man uns ausbilden wollte.
Damals entdeckte ich meine Fähigkeiten als Anführerin. Ich stachelte die Kinder zu einer Rebellion auf, und wir schafften es, die Flucht zu ergreifen. Als Diebesbande schlugen wir uns weiter durch, immer unterwegs nach Süden. Wir dachten uns, dass es dort vielleicht besser wäre. Wir kamen von Stadt zu Stadt, blieben nie lange genug, um uns fassen zu lassen.
Schließlich trafen wir auf Widerstandsgruppen. Wir schlossen uns ihnen an und wurden begeistert aufgenommen.
Allerdings war uns das Glück nicht hold. Die Widerständler wurden entdeckt und ihre Basis von Polizisten ausgebombt. Fast die Hälfte unserer Kindertruppe kam in dem Kampf um, und der Rest schlug sich weiter durch. Wir hatten Hoffnung gefasst und suchten dich nächste Widerstandsgruppe auf. Doch dort wurden wir nur als Soldaten ausgebildet. Man gab uns Waffen und schickte uns in einen Krieg gegen die dortige Oberstadt. Die Zahl der Toten war hoch, und ein Ende des Kampfes war nicht mehr abzusehen. Anfänglich noch begeistert, merkte ich schnell, dass unsere Anführer unfähig waren – oder überhaupt nicht gewinnen wollten.
Ich zog fort, wieder alleine. Ich schloss mich neuen Gruppen an. Fast jede Widerstandsgruppe war korrupt. Sie wurden von der Oberstadt bezahlt. Verdächtige, rebellierende Unterstädter wurden von ihnen aufgesammelt, unter dem Deckmantel eines glorreichen Kampfes. Dann wurden sie unauffällig eliminiert.
Ich brach also vollkommen aus diesen Systemen aus. Zu oft hatten mich Freunde und vermeintliche Verbündete enttäuscht. Zu oft hatte ich meine Hoffnungen verloren.
Ich zog weiter in Richtung Süden. Hier bin ich schließlich geblieben, die größte Stadt im Norden. Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Wie du vielleicht weißt, habe ich damit auch angefangen. Ich habe Flammen verteilt, ich habe die Reichen geschädigt, und das Geld an die Armen gegeben.
Ich denke doch, dass ich etwas bewirkt habe. Vielleicht ist der beste Beweis dafür, dass die Cops so verzweifelt nach mir suchen. Und dass sie mir eine Spionin auf den Hals gehetzt haben.
Ich war es einfach müde. Ich wollte diese Ungerechtigkeiten beenden, will es immer noch. Aber es ist schwer. Ich tue, so viel ich kann, doch es ist nie genug. Ein Mensch alleine kann die Welt nicht ändern, egal, was manche behaupten.
Nun, Jo, das war meine Geschichte. Sie klingt vielleicht grausam, doch ich hatte viel Glück, im Vergleich zu anderen Menschen. In den Unterstädten ist das Leben hart. Aber – wie du vielleicht jetzt sagen würdest – wir sind frei. Wir haben nichts mehr, außer unserer Freiheit, also müssen wir darauf stolz sein.