Es war wieder Abend. Die Polizisten waren schon längst weitergezogen, ihr Zeppelin in dem schwachen Nebel über den Klippen vor Stunden außer Sicht geraten. Die Sonne ging unter, blutrot und golden leuchteten die Wolken am dunkelblauem Himmel.
Camilla und Jo lagen in dem hohen Gras, das auf den Klippen wuchs. Jo hatte den Kopf auf Camillas Arm gelegt. Einträchtig sahen sie in den Himmel über sich und zählten die ersten Sterne. Die aufziehende Kälte der Nacht störte sie nur wenig.
„Morgen sollten wir fortziehen.“, sagte Camilla ruhig.
Jo kuschelte sich enger an sie, wie ein Kätzchen. „In den Süden?“
„Immer in den Süden!“, grinste Camilla.
Jo seufzte: „Dort ist es besser, nicht wahr?“
„Tausendmal besser.“, bestätigte Camilla. „Irgendwo dort ist die >Mauer<, ein breites, zwanzig Meter hohes Bollwerk. Und dahinter beginnt die Wildnis.“
„Die Wildnis...“, hauchte Jo andächtig. „Wie ist es dort?“
„Es ist wild. Im Krieg wurde das Gebiet fast vollständig zerstört. Strom funktioniert dort nicht. Die wenigen Menschen, die dort leben, hausen wie in der Steinzeit. Dorthin kann uns selbst die Polizei nicht folgen.“
„Dort leben Menschen?“, fragte Jo erstaunt.
Camilla nickte: „Sie waren auf der falschen Seite der Mauer, als das Gebiet abgeriegelt wurde. Jetzt können sie nicht zurück. Es gibt nur die Möglichkeit, von dieser Seite die Mauer zu überqueren. Viele Rebellen haben diesen Weg schon genommen. Es ist riskant, aber die Oberstädte haben nicht allzu viel dagegen, wenn wir für immer in die Wildnis verschwinden.“
Jo schwieg. Es war kein unangenehmes Schweigen. Beide Mädchen lauschten auf den Klang der fernen Wellen.
„Wie weit ist die Mauer?“, fragte Jo schließlich leise.
„Ein paar Tagesreisen.“, erklärte Camilla. „Ich war sogar schon dort. Mit dem Airboard könnten wir innerhalb von 24 Stunden dort sein.“
„So schnell?“ Jo richtete sich auf und warf einen Blick auf Camilla.
Die Ältere blieb, die Hände im Nacken, liegen: „Ja. Das große Problem ist nur, die Mauer irgendwie zu überwinden. Wir brauchen den Schutz der Dunkelheit dafür, und vermutlich einen Plan.“
Jo lächelte jetzt: „Ein Plan? Klingt super!“
Camilla streckte sich ausgiebig: „Und man wird erwarten, dass wir in die Richtung ziehen. Es wird die letzte Hürde vor der Freiheit; und sie wird nicht leicht zu überwinden.“
Jos begeisterter Gesichtsausdruck machte einer besorgten Miene Platz: „Wie stellen wir es also an?“
Camilla zuckte mit den Schultern. Jetzt setzte sie sich auch auf: „Ich habe keine Ahnung. Wir müssen uns irgendwie an schleichen, dann mit dem Airboard rüber und so schnell wie möglich außer Reichweite der Waffen. Ehrlich gesagt, ich habe sowas noch nie versucht. Polizisten entkommen oder Flugblätter verteilen ist ein Klacks dagegen.“
Jo lehnte sich mit dem Rücken gegen Camillas. Sie sah schweigend in den Himmel.
„Erst einmal fliegen wir zur Mauer. Dann sehen wir weiter.“, meinte das Mädchen leise.
Camillas musste grinsen: „Deinen Optimismus möchte ich haben!“
Jo kicherte: „Hol dir doch deinen eigenen!“
Noch ein paar Minuten sahen sie verträumt in den Himmel, bis die Nacht doch zu kalt wurde, um weiter auf dem Boden zu sitzen.
Camilla stand zuerst auf: „Hast du deine Kletternoppen noch? Du könntest das Airboard hochholen, und die Fernbedienung. Dann suchen wir uns für die Nacht ein besseres Versteck.“
Jo nickte, ließ sich von Camilla hoch helfen und zog die Noppen aus ihrer Hosentasche. Die Saugnäpfe wurden auf einen Knopfdruck ausgefahren.
„Hast du noch mehr so kleiner Spielereien?“, fragte Camilla neugierig.
Jo schüttelte den Kopf: „Alles andere war mit Sendern versehen. Sie hätten sofort meine Spur verfolgen können!“
Camilla gab sich mit einem Kopfsenken geschlagen. Gemeinsam schlenderten sie zum Rand der Klippen und Jo befestigte die Noppen sorgfältig an Händen und Füßen.
„Sei vorsichtig.“, sagte Camilla ernst, als sich Jo an den Abstieg machte.
„Immer doch.“, antwortete Jo mit einem Zwinkern.