Es ist schon eigenartig. Die Jahreszeiten sind ein solch fester Bestandteil im Leben, dass man kaum noch wahrnimmt, wie viel Einfluss sie haben. Auf das Wetter, natürlich. Auf die Feiertage und Festlichkeiten, logisch. Sowieso ist alles nicht mehr so wie früher, als es im Winter noch richtig viel Schnee und im Sommer richtig viel Sonne gab. Die Erderwärmung, der Klimawandel und zu jeder Jahreszeit gibt es genügend Möglichkeiten, bestimmte Thematiken zu vermarkten, immerhin leben wir im Kapitalismus. Darüber kann ich nur noch schmunzeln, denn ich bin alt.
Die Kinder, die lachend an mir vorbei rennen, müssen noch viel mehr ertragen. Ich werde vielleicht nicht mehr so viel mitbekommen von all den Katastrophen, die auf uns warten. Freudig strahlend springen die zwei Mädchen in die Pfützen am Wegesrand. Sie haben bunte Gummistiefel an, da macht das gar nicht aus. Der eisige Wind kann ihnen nichts anhaben mit den gefütterten Jacken, den Schals und Mützen, die vielleicht die Oma noch selbst gestrickt hat. Mein zynisches Schmunzeln aus Mitleid mit den Menschen auf dieser Welt wird weicher, sanfter, bis einfach nur ein wohlwollendes Lächeln auf meinen Lippen bleibt. Es ist schön, die kleinen Menschen wenigstens noch glücklich zu sehen.
Schon kurz darauf erreicht uns ein junger Mann, der nicht so zufrieden mit seiner Situation scheint. Er hat es eilig, braust mit seinem Fahrrad und einer teuren Regenjacke heran. Seine Klingel dröhnt in meinen Ohren, ich bleibe stehen. Er rauscht an mir vorbei und weil die Mädchen nicht rechtzeitig reagieren, flucht er laut, klingelt nochmals sehr heftig und fährt rasant in einem Schlenker um die Kinder herum. Mitten durch einen Laubhaufen, den die Landschaftsgärtner der Gemeinde auf dem Gras neben dem Kiesweg zusammengepfercht haben. Erschrocken schauen die Mädchen ihm hinterher, um sie herum flattern bunte Blätter, die der Radfahrer in seinem Tempo aufgewirbelt hat.
Als ich mich erkundige, ob bei den beiden alles in Ordnung ist, nicken sie sofort, schauen mich brav aus großen Augen an, so als wollten sie Respekt zeigen, weil die Eltern ihnen das bei alten Leuten so beigebracht haben. Mein Lächeln wird gütig, ich merke, wie befreiend es ist, wenn sich die Muskeln so entspannen, dass sich die tiefen Furchen auf meiner Stirn glätten und sich die Sorgenfalten in Lachfältchen verwandeln. Sie wünschen mir noch einen schönen Tag, ich wünsche ihnen weiterhin viel Spaß. Eines der Kinder hat wohl etwas auf dem Boden entdeckt und hält ihren Fund triumphierend in die Luft. Es ist eine Kastanie. Eine von unzählig vielen hier, doch das Mädchen erklärt mir, dass diese hier besonders schön sei. Ich stimme ihr zu, sie strahlt über das ganze Gesicht und drückt mir die Kastanie in die Hand. Ich soll sie behalten, es ist ein Geschenk.
Die Mädchen winken zum Abschied, dann springen sie vergnügt weiter ihres Weges. Ich betrachte noch einige Momente die Kastanie in meiner Hand und setze meinen Weg fort. Je weiter ich dem Verlauf der Straße folge, desto schmaler wird sie, bis ich nur noch auf einem Trampelpfad durch die dunkler werdende Kulisse des Parks stapfe. Noch ist es gar nicht so spät, doch die Tage werden kürzer und man sehnt sich nach einem flackernden Kamin, nach einer Tasse Tee auf dem Sofa, eingekuschelt in Wolldecken und auf Kissen gebettet. Auch ich bin müde, doch ich laufe weiter. Je ruhiger die Umgebung wird, desto lauter höre ich mich selbst. Die Motorengeräusche auf den sonst so stark befahrenen Straßen der Stadt dringen kaum mehr durch die Büsche und Bäume hindurch. Nach ein paar letzten Glockenschlägen schweigt auch der Kirchturm. Meine Schritte knacken im Unterholz, ich höre meinen Atem schnaufen und das Wasser im Bachlauf neben dem Weg fröhlich plätschern.
Entgegen kommt mir keiner mehr. Als ich über eine Brücke schlendere, das Bächlein unter mir, sehe ich von weitem einige Häuser. In den Fenstern brennt Licht, drum herum ist es dunkel. Fast kann man die Schemen der Personen in den Räumen ausmachen. Wie ein Schattentheater durch das Zusammenspiel von warmen Lampen und der Nacht, die sich immer weniger Zeit lässt, wenn sie sich anschleicht. Manchmal flackert ein Fenster wie Blitz und Gewitter, aber das ist wohl das grelle, unnatürliche Licht des Fernsehgeräts. Kaum zu glauben, dass ich in ein Fenster schaue und in diesem Fenster schauen die Menschen in ein weiteres Fenster. Ich blicke aus der Welt in ein Haus. Und aus dem Haus blickt der Mensch in die große weite Welt. Doch ist es dieselbe Welt, in der ich hier stehe? Verwunderlich, diese Gedanken, die mich überfallen wie ein Räuber, der mir schon bei Dämmerung auflauert. Ich gehe weiter.
Langsam und mühsam werden meine Schritte. Ich erkunde eine neu angelegte Fläche im Park. Die Laternen beleuchten ein Schild, eine große, lokale Firmengesellschaft spendete viel Geld, um diese Grünflächen zu gestalten. Ein hübscher Brunnen, fast wie im Märchen. Schicke Bänkchen aus Metall, weiß lackiert und doch an manchen Stellen schon zerfressen von der Witterung. Kaum ist der Lack ab, nagt der Rost an den Baumaterialien. Doch im Frühling wird sicherlich wieder eine Vielzahl bunter Blumen blühen. Die Tore aus Metall umrankt von den schönsten Rosen, in den Büschen der Duft von Flieder. Ein Summen und Brummen von allen fleißigen Insekten bei der Arbeit. Jetzt sitzt hier nur eine einsame Krähe auf einem kahlen Ast. Sie krächzt resigniert und flattert davon.
Ein paar Schritte weiter höre ich plötzlich ein Rascheln. Als ich näher komme, ein Kichern und Gemurmel. Bei der nächsten Bank hat sich ein junges Pärchen niedergelassen und herzt sich wie gerade frisch verliebt. Es ist kühl und dunkel, doch kein Lagerfeuer und keine Heizung wärmt so sehr wie solch zärtliche Gefühle. Ich lächelte verträumt, lasse den beiden ihre Privatsphäre und versinke auf dem Weg zurück zum Bächlein tiefer in meinen Gedanken als meine Schuhe im Schlamm. Der Boden ist unwegsam und doch habe ich es so lieber als auf Asphalt zu gehen. Ich klettere mühsam über ein paar Wurzeln, einmal muss ich mit an einem knorrigen Stamm festhalten, um nicht zu stolpern. Doch der Baum ist freundlich genug, mich zu stützen, wenn ich über seine nährende Stütze stolpere.
Es ist dunkel geworden. Ich kann kaum noch sehen. Nebelschwaden steigen wie Schleier vor meinen Augen auf. Oder ist es mein Atem in der kalten Nachtluft? Ich höre das Wasser. Ich höre meinen Herzschlag. Ein paar Enten schnattern verhalten, um die Ruhe der Abendstunden nicht zu stören. Das Plätschern hat sich beruhigt. Sanfte Wellen auf einem kleinen Teich, in den dieser Fluss mündet. Ich lasse mich am Ufer nieder, lehne mich gegen den Stamm einer alten Eiche und schließe zufrieden die Augen. Sehen kann ich ohnehin nicht mehr viel. Hören kann ich so alles umso besser. Ich fühle den weichen Waldboden unter mir, kühl und nass und doch erfrischend und erquicklich. Stelle mir vor, wie der See in Sonnenlicht getaucht vor mir liegt, die jungen Entenküken lernen schwimmen, zwei Schwäne ziehen ihre gemeinsame Bahn, die Libellen summen und zwei Frösche quaken einander ihre Liebe entgegen. Ach, wie es damals war, jung zu sein, es fällt mir wieder ein.
Mein Lächeln wird breiter, offener bis ich ein seltsames Gefühl in meiner Brust spüre, das sich dort unwohl zu fühlen scheint. Es drückt und drängt nach draußen, also lasse ich es frei und ein fröhliches Glucksen wird zu einem befreiten Lachen. Nur kurz, dann lass ich der Natur ihre Stille. Dann gehe ich in mich, entzünde in mir das wärmende Feuer all der schönen Erinnerungen und fliege mit meinen Gedanken über das Wasser, über die Baumwipfel, weit davon.
Der Herbst kann einem Angst einjagen. Melancholie überflutet die Sinne, dunkel, kalt, nass, grau in grau. Doch letzten Endes geht er vorbei. Wie jedes Jahr. Und dann kommt der Winter, in dem sich die Welt schlafen legt, dann geht es von vorn los. Solange bis es wieder Herbst wird. Doch ob ich ihm noch einmal begegnen werde? Falls nicht, so möchte ich doch, dass er mich alten Freund in guter Erinnerung behält.