Prompt von 2015
"Warum der Kaffee immer kalt wurde"
Professor Doktor Hans Hugo Hagenbeck war vor wenigen Wochen fünfundsechzig Jahre alt geworden.
Die Feier war schön gewesen, gemütlicher als der sechzigste Geburtstag, in kleinerem Kreise, aber dafür umso lustiger.
Er dachte nicht im Traum daran, in Rente zu gehen, seitdem er hier im Klinikum arbeitete. Und das waren immerhin schon über dreißig Jahre! Fast vierzig. Wie unheimlich! Er musste ganz schön alt sein, wenn er schon so lange hier arbeitete, aber es waren sehr schöne Jahre gewesen, in denen er viele interessante Menschen kennen lernen durfte - Mitarbeiter wie Patienten. In denen er anderen geholfen hatte, aber auch selbst an seinen Aufgaben wachsen und gedeihen konnte, um selbst ein vollkommenerer und erfahrenerer Mensch zu werden.
Ganz lernte man natürlich nie aus - aber war nicht gerade das, was das Dasein ausmachte?
So sinnierte er vor sich hin, als er an diesem Morgen in seinem Büro seine üblichen vier Stücke Zucker in den schwarzen Kaffee rührte. Der Löffel stieß immer wieder klirrend an den Rand und jedes Mal musste Dr. Hagenbeck lächeln. Er mochte das Geräusch.
Die morgendliche Idylle im Klinikum bestand wie jeden Tag aus dem Lärm des Zulieferwagens, der Essen, frische Wäsche und sonstige Güter von den jeweiligen Hauptumschlagplätzen zu jeder einzelnen Station brachte. Das gefiel Dr. Hagenbeck so sehr an dieser Klinik.
Es war kein großer Gebäudekomplex aus kaltem Stahl und unpersönlichen Fensterfronten, sondern ein weitläufiges Parkgelände. Und jede Station war ein eigenes, gemütliches Häuschen. Gemütlich eingerichtet, mit Terrasse und Zugang zum Parkgelände, das wie ein einziger Garten für alle Häuschen funktionierte. Traumhaft schön, wie er fand.
In diesen beinahe vierzig Jahren hatte er hier vieles erlebt. Und jeden Morgen verbrannte er sich die Zunge am Kaffee, als er den ersten Schluck trank, weil er es einfach nicht abwarten konnte. Man lernte eben doch nicht aus allen Fehlern.
Gewissenhaft stellte er die Tasse zur Seite und ging sorgfältig die Unterlagen für diesen Tag durch. Er war mittlerweile Chefarzt der Station zwanzig - die schönste Station, wie er fand. Sie lag weit außen im Gelände, in der Nähe vom Tiergehege und mit Blick auf den nahegelegenen Teich, hinter dem der Wald begann.
Es war ein langer Weg bis an diesen Schreibtisch gewesen, aber er war glücklich mit seiner Karriere. Es hatte Stolpersteine und schlechtere Zeiten gegeben, aber rückblickend würde er alles wieder genauso machen und keine Erfahrung missen wollen. Und die morgendlichen Stunden hier waren entspannender als so mancher Abend auf dem heimischen Sofa. Frisch nach dem Aufstehen war er am konzentriertesten. Eine sonderbare Gabe, die seine Frau zur Weißglut brachte.
Glücklicherweise verschwand er dann schon früh zur Arbeit, sodass sie sich noch ein Stündchen hinlegen konnte.
Während die Patienten frühstückten begann Dr. Hagenbeck mit seinem Papierkram. Danach, wenn die ersten Therapien begannen, war die Übergabe mit dem Pflegepersonal und den anderen Ärzten und Psychologen an der Reihe. Anschließend war entweder Visite oder Dr. Hagenbeck hatte Zeit, mit seinen Patienten persönlich zu sprechen; darauf legte er sehr großen Wert!
Wie sollte er über jemanden urteilen und dessen Schicksal bestimmen, den er nicht kannte? Doch die Maschinerie der Klinik ließ ihm dennoch viel zu wenig Zeit, um sich um jeden so zu kümmern, wie er es gern gehabt hätte. Manchmal fühlte er sich wie in Ketten, als wären ihm die Hände gebunden, weil die Bürokratie so unmenschlich war und die Klinik einfach nicht die Kapazitäten hatte, allen gerecht zu werden. Das ärgerte ihn oft.
Mittags war es wichtig, dass er ins Kasino ging, um mit den anderen hohen Tieren zu speisen. Er würde viel lieber ein Mettbrötchen am Schreibtisch herunterschlingen und dann mit den Patienten einen Spaziergang machen, aber es wurde von ihm verlangt, dass er dort mit den anderen Ärzten fachsimpelte und gepflegte Konversation betrieb.
Oftmals rief danach gleich wieder die Übergabe, dann wieder der Papierkram, und wenn er abends nach Hause kam und sich zu seiner Frau auf das Sofa setzte, hatte er das Gefühl, noch immer zu nichts gekommen zu sein. Sich den Problemen seiner Schützlinge nicht genug angenommen zu haben, einfach keine Zeit und Gelegenheit dafür gehabt zu haben.
Und das nahm er mit bis in den Feierabend, wo er sich beim Fernsehen grämte und sich erst von seiner Frau besänftigen lassen musste. Er konnte die Welt ja nicht an einem einzigen Tag verändern.
Aber am nächsten Morgen war er immer wieder guter Dinge und fuhr gern zur Arbeit - mit dem Rad. Denn er wohnte sogar in einem kleinen Mietshaus auf dem Klinikgelände, um es nicht so weit zu haben. So sah ein ungefährer Tag in seinem Leben aus. Aber dieser hier fing gerade erst an.
Und als Herr Dr. Hagenbeck nach der Durchsicht seiner wichtigsten Papiere die Tasse das nächste Mal zur Hand nahm und an ihr nippte, verzog er das Gesicht.
Natürlich war der Kaffee längst kalt. Wie jeden Morgen. Eigentlich wäre es einfache Physik, zu erklären, wieso das passierte. Aber Dr. Hagenbeck fiel einfach immer und immer wieder auf diesen Trick der Natur herein.
Zuerst war der Kaffee zu heiß, dann vergaß er ihn und schließlich war er zu kalt. Das lag zum einen an der Menge an Arbeit, die er hatte. Zum anderen aber auch daran, dass er morgens gern einmal verträumt aus dem Fenster blickte; gerade zu dieser schönen Jahreszeit, in der die Rosensträucher vor seinem Fenster in vollster Blüte standen.
Ja, da verlor er sich schon mal gern in Träumereien von einer besseren Welt und schmolz im Anblick dieser Pracht dahin.
Und so kam es, dass Dr. Hagenbeck jeden Morgen kalten Kaffee trank und trotzdem eine verbrannte Zunge hatte.