Wort: geistlos - 12.11.2019
Am nächsten Tag rief mich meine Großmutter in die Küche und wir aßen zusammen Frühstück. Sie entschuldigte sich für die Tränen. Die ganze Geschichte sei wieder hochgekommen. Diese Geschichte sei nicht einfach zu erzählen. Aus dem Stegreif hätte sie die Geschichte geistlos oder ohne richtigen Inhalt erzählt. Ich setzte mich hin und lauschte ihren Worten.
Meine Großmutter erzählte dann Folgendes: „Ich muss etwas ausholen, damit du weißt, in welchem Umfeld dies alles passierte. Wir waren ursprünglich acht Kinder und gehörten der klassischen Mittelschicht an. Mein Vater also dein Urgroßvater war Pfarrer, Maler und Dichter. Seine Gedichte sind wunderschön. Sie wurden sogar bei einem Verlag gedruckt. Mein älterer Bruder erlitt ein grausames Schicksal und dein Urgroßvater versuchte dies mit Schreiben und Dichten zu verarbeiten. Er starb sprichwörtlich vor Kummer zwei Jahre darauf. Dies ist nochmals eine andere Geschichte. Meine ältere Schwester, Fanny, erhielt zu ihrem zwanzigsten Geburtstag das Familienerbstück mit dem roten Rubinstein. Ein wunderschöner Ring. In diesem christlichen Umfeld wurde sie Missionarsschülerin. Sie war begeistert von der Idee den christlichen Glauben in die Welt hinauszutragen. Sie war hübsch und intelligent.
Mit einem Hut auf dem Kopf und einem schönen beigen Kleid verabschiedete sie sich am 28. September 1929. Sie strahlte vor Zuversicht und freute sich auf ihre Mission und die damit einhergehende Aufgabe. Mit der Staub aufwirbelnden Dampfeisenbahn reiste sie nach Marseille, was damals eine lange Reise war. Dort verbrachte sie den Tag und genoss ihren letzten Tag in Frankreich. Für den nächsten Tag hatte sie eine Überfahrt mit dem Schiff gebucht von Marseille nach Tunis. Dort sollte sie eine Stelle als Missionarin antreten. Da sie über wenig finanzielle Mittel verfügte, buchte sie in der vierten Klasse ihre Schiffsüberfahrt. Oh, ich merke an deinem fragenden Blick, dass ich dies näher erklären muss. Damals gab es vier Klassen bei der Schifffahrt. Die erste Klasse Passagiere schlafen in recht schönen Schlafzimmern. Die zweite Klasse ist bereits viel einfacher, die Passagiere dritter Klasse schlafen mit einem Dach über den Kopf und diejenigen der vierten schutzlos an Deck.
In der Hafenstadt Marseille wollte sie vorher ein bisschen einkaufen, etwas Essen gehen und in einer einfachen Pension übernachten, bevor es am nächsten Tag um 12 Uhr mittags losging. Das Schiff war ein kleines älteres Dampfschiff mit zwei Kamine und dem verheißungsvollen Namen „Grevy“. Nach einem durchdringenden Ton aus dem Schiffshorn legte das Passagierschiff ab und die Passagiere an Bord winkten mit den Händen oder sogar einem Taschentuch. Einige hatten Tränen der Rührung aber auch Abschiedstränen in den Augen. Die Abfahrt eines Schiffes war damals noch ein Ereignis. Es war ein wunderschöner sonniger Tag. An der Reling genoss sie den Blick auf das offene Meer und auf die kleinen Wellen und dem wunderschönen Sonnenuntergang!“
Fortsetzung folgt