„Warum hast du auch nicht auf mich gehört, Harry?", fragte Hermine, während sie mit einem nassen Tuch Harrys Gesicht abtupfte. Ein leises Keuchen glitt über seine Lippen, als sie seinen rechten Nasenflügel streifte.
Kopfschüttelnd nahm sie ihre Hand weg. „Du solltest wirklich in den Krankenflügel. Ich kann leider keine gebrochenen Nasen heilen."
In Harrys Kopf war jedoch nur Draco. Er hoffte, dass der Slytherin eine ordentliche Erklärung hierfür hatte und zeitgleich verspürte er das Bedürfnis in seinen Armen zu liegen. Was definierte Draco mit „später"?
Nach dem Abendessen oder vor dem Zubettgehen? Es war eine lange Zeitspanne und Harry wusste nicht, wann er nun dort hingehen sollte. Aus Angst ihn nicht anzutreffen, beschloss er direkt nach dem Abendessen zum Raum der Wünsche zu gehen.
„Wir werden dich jetzt in den Krankenflügel bringen. Los steh auf, Harry", forderte Hermine und nahm gleichzeitig einen seiner Arme, um ihn dabei zu unterstützen. Ohne auf Harrys Kommentare und Beschwerden zu achten, schleppten sie ihn hinaus.
Die Treppen nahmen eine Menge Zeit in Anspruch. Harry ging ziemlich langsam und hing weiter seinen Gedanken nach. Der Gedanke an Malfoy ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Hermine hetzte ihn weiter.
Im Krankflügel angekommen, verfrachtete sie Harry augenblicklich in ein Bett und verschwand. Es konnte Minuten dauern oder Sekunden, bis Hermine mit Madame Pomfrey wieder kommen würde. Er musterte die weiße Bettdecke und versuchte den pochenden Schmerz in seiner Nase zu vergessen.
„Potter...?"
Ruckartig wand er seinen Kopf nach links und stöhnte kurz darauf schmerzvoll auf.
„Was willst du hier, Malfoy?!"
„Ich will nur sicher gehen, ob du nachher in den Raum der Wünsche kommst."
„Das habe ich dir bereits vorhin schon zugesagt. Verschwinde jetzt, bevor dich jemand sieht."
Die Worte brachte Harry nur sehr mühsam heraus. Am liebsten würde er Draco zu sich herunter ziehen und seine Nähe genießen, wie auch in der letzten Nacht. Stattdessen musste er jetzt mitansehen, wie dieser mit gesenktem Kopf den Krankenflügel verließ. Gerade noch rechtzeitig, denn genau in dem Moment kam Hermine in Begleitung der Heilerin wieder hinein.
„Gebrochene Nase, also? So so...", murmelte sie und zog mit einer flüssigen Bewegung einen Hocker an Harrys Bett heran. „Dann lassen sie mal sehen, Mr. Potter."
Ohne auf Zustimmung des Zauberers zu warte betrachtete sie eingehend Harrys Nase. Anschließend zog sie ihren Zauberstab hervor und richtete ihn auf seine Nase. Er schluckte und musste automatisch daran denken, wie Professor Lockhart im zweiten Jahr seinen Arm heilen wollte, das Resultat jedoch war, dass seine Knochen verschwunden waren. Er hatte wirklich Angst und kniff seine Augen zusammen. „Episkey" nahm er nur am Rand war. Er spürte einen kurzen, stechenden Schmerz im Nasenbein und im nächsten Moment war aller Schmerz wie vergessen. „Wie neu", hörte er die Heilerin murmeln. Harry öffnete vorsichtig seine Augen und lächelte schief. Dass Hermine ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen hatte, registrierte er nicht. Seine Gedanken hingen an dem Blonden, ganz egal was um ihn herum passierte.
„Danke", murmelte Harry und setzte sich auf. Schwungvoll richtete er sich auf seine Füße auf und steuerte zielstrebig den Ausgang des Krankenflügels an. „Ich muss dann jetzt auch m-"
„Oh nein! Du wirst nirgendwo hingehen, Harry! Zum einen beginnt jetzt das Abendessen und zum anderen kannst du deine Freundin auch später noch sehen!"
Freundin... wie das klang. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie Hermine und Ron reagieren würden, wenn er ihnen offenbarte, dass es ein Junge war, geschweige denn die Tatsache, welcher Junge es war.
Er hatte jedoch nicht den Mut, Hermine jetzt zu widersprechen, und ging schweigend neben ihr her. Sie gingen die Treppe hinunter. Und bei jedem Zauberer musste Harry an Dracos Kuss heute Morgen denken. Daran, wie sehr er diese Berührung und Draco vermisste. Als er in der großen Halle ankam, wurde es nur noch schwieriger. Vor allem, weil er Draco dort sitzen sah, neben seinem Freund Blaise. Er unterdrückte ein Seufzen und senkte seinen Kopf, ehe er Draco weiterhin anstarren konnte. Das würde bloß Verdacht erwecken. Aus diesem Grund setzte er sich auch mit dem Rücken zu Draco. Dennoch spürte er seine Anwesenheit. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen. Als er sie wieder öffnete, spürte er Rons Blick. Jedoch sagte sein rothaariger Freund nichts. Bevor Harry etwas sagen konnte, bemerkte er, wie Professor McGonagall sich setzte und Dumbledore sich erhob. In einer seidigen Bewegung strich er seinen Umhang glatt und hob seine Hände, damit Ruhe in der Halle einkehrte. Augenblicklich trat das Schweigen ein.
„Ich begrüße euch für das neue Schuljahr und alle neuen Schüler in Hogwarts. Tatsächlich haben wir erneut einen Zuwachs in unserer Lehrerschaft bekommen. Wie ihr sicherlich wisst, hat Professor Umbridge uns verlassen. Dieses Jahr wird Professor Snape Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten. Dafür wird Professor Slughorn der Lehrer für Zaubertränke sein."
Nach diesen Worten erhob sich ein etwas älterer Mann mit kahlem Kopf. Er hatte eine sehr üppige Figur. Harry bemerkte den lila Samtumhang. Er hob kurz seine Hand und winkte kurz, ehe er sich wieder setzte. Harry kannte ihn bereits, da er Professor Slughorn mit Dumbledore zu Hause besucht hatte.
„Nach dem Abendmahl bitte ich alle Neuankömmlinge, den Vertrauensschülern ihres Hauses zu ihren Gemeinschaftsräumen zu folgen, euer Gepäck wurde bereits dorthin gebracht. Dann lasst das Mahl beginnen", rief Dumbledore in die Schülermenge und im nächsten Moment war jeder Schülertisch reich gedeckt. Harry bemerkte, wie Ron gierig nach einer Hähnchenkeule griff. Dennoch bedachte er Harry weiterhin mit einem wütenden Blick und dabei wusste Harry nicht einmal, warum Ron genau sauer war. Er hatte doch nichts getan. Harry nahm sich nur eine Hähnchenkeule und aß sie, ohne auf seine Freunde zu achten. Hermine war momentan die Einzige, die auf Harrys Seite stand. „Er kriegt sich schon wieder ein", flüsterte sie und bedachte den Rothaarigen ebenfalls mit einem grimmigen Blick. Harry reagierte darauf aber nicht. So schnell er konnte, hatte er seine Hähnchenkeule aufgegessen und schweigend blieb er sitzen, solange bis die ersten Schüler aufstanden. Erst dann stand er ebenfalls auf, verabschiedete sich von seinen beiden besten Freunden und machte sich auf den Weg in den siebten Stock.
„Du bist zu spät, Potter", hörte er die raue Stimme des Blonden.
„Und du hast mir die Nase gebrochen", entgegnete Harry und gesellte sich zu ihm. Er spürte Dracos abschätzigen Blick auf sich und ging dreimal an der Wand auf und ab, ehe die Tür erschien.
Er steuerte darauf zu und öffnete die riesige Tür mit einer flüssigen Bewegung. Ohne auf Draco zu achten, trat er hinein.
Sein Blick glitt durch den Raum, musterte das gut ausgestatte Zimmer und staunte. Der Raum strahlte eine angenehme Atmosphäre aus, war mit Pflanzen dekoriert und sogar ein riesiges Bett stand an der linken Wand. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke und erleuchtete den Raum hell. Es gab hier sogar ein Bücherregal und eine bequeme Couch, die genügend Platz für beide schaffte. Sein Blick glitt zu dem Hängesessel, der von der Decke baumelte. Zielstrebig ging er darauf zu und setzte sich dort hinein. Von dort aus hatte er das gesamte Zimmer im Überblick.
„Ist das ein Verschwindekabinett?"
Harry zuckte merklich zusammen und drehte sich langsam, mit verengten Augen, zu Draco herum. „Keine Ahnung", war seine knappe Antwort. Ehe er weiter Dracos Fragen beantworten musste, ging er zielstrebig zu dem Bücherregal und ließ seinen Blick über die verschiedenen Buchtitel schweifen.
Obwohl er noch heute Morgen neben Draco gelegen hatte und Draco derjenige gewesen war, der ihm am Gleis geküsst hatte, herrschte jetzt eine ziemlich angespannte Stimmung. Und Harry? Er war einfach überfordert mit der Situation und Dracos Laune, er hatte keine Ahnung, was er tun oder sagen sollte, ohne dass der Slytherin wütend werden würde. Er konzentrierte sich auf die Bücher, hörte aber dennoch die Schritte, die hinter ihn traten. Kurz darauf spürte er Dracos Hände, die sich sanft an seine Taille legten und das Kinn, welches er auf Harrys Schulter abstützte.
„Es tut mir Leid mit deiner Nase...", flüsterte er. „Aber ich musste das tun... wir beide dürfen auf keinen Fall aufflieg-"
„Du meinst, dass du auf keinen Fall auffliegen darfst. Das ist ein Unterschied, Malfoy!"
Der Slytherin nickte und stritt nicht länger mit Harry darüber, stattdessen schlang er seine Arme um Harrys Taille und zog ihn bestimmend näher. „Weißt du, Potter...? Ich hasse die Diskussion zwar mit dir und dich kann ich auch nicht sonderlich leiden..., aber ich werde dich diese Nacht wirklich vermissen."
Überrascht von den Worten, die gerade aus dem Mund des Slytherins gekommen waren, drehte er sich in der Umarmung um. Draco trat einen Schritt zurück, ließ seine Taille aber nicht los. Er schaute in die grauen Augen seines früheren Feindes.
„Du kannst mich also nicht sonderlich leiden", erwiderte Harry und wandte dabei seinen Blick nicht ab. Also Draco leicht nickte, trat Harry einen Schritt zurück.
„Ich kann dich auch nicht sonderlich leiden. Aber ich lieg dann mit dieser Person nicht im Bett und küsse sie nicht, um ihr im nächsten Moment zu sagen, dass ich sie nicht leiden kann", erwiderte Harry erstaunlich ruhig, weshalb Draco einen Schritt zurückwich. Er wusste, dass Harry sehr temperamentvoll war und seine Wut normalerweise nicht zurückhielt. Das hier drückte nur aus, wie verletzt er eigentlich war.
„So meinte ich das nicht, Po- Harry", beeilte der Blonde sich zu sagen, blieb dabei jedoch auf sicherer Distanz. „Nicht?! Wie denn dann, Malfoy? Erklär es mir! Ich habe jedenfalls keine Lust, im ersten Moment von meinem Feind geküsst zu werden und mir anschließend anzuhören, wie wenig er mich eigentlich leiden kann. Ich stehe nicht einmal auf Männer und-"
„Erzähl mir nicht, dass du auf Frauen stehst! So wie du geküsst hast, war das kein erster Kuss."
„Das tut hier überhaupt nichts zur Sache, wie ich sexuell eingestellt bin und wie ich geküsst habe! Ich bin jedenfalls nicht hier, um zu streiten! Also entweder kommst du jetzt endlich einmal zum Punkt oder ich verschwinde!"
„Dann geh", zischte Draco, fügte jedoch in einem beinahe ängstlichen Tonfall hinzu: „Für immer?"
Bei dieser Fragestellung verharrte Harry und blickte erneut zu dem Slytherin, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein. Ich muss nur erst einmal herunter kommen. Helfen werde ich dir trotzdem noch."
Nach diesen Worten ging Harry zielstrebig zu der großen Tür. Das letzte, was er hörte, war Dracos gemurmeltes: „Gute Nacht, Harry."
Harrys Hand lag bereits auf dem Türknauf, als er eine vertraute Stimme hörte. Er verharrte in der Bewegung. Erschrocken drehte er sich zu Draco um und starrte ihn an. „Sieht so aus, als würden wir noch eine Weile zusammen hier rumsitzen müssen... Mr Filch ist dort draußen..."
„Dann geh, wenn er weg ist! Wird ja schon nicht so lange dauern!"
Harry reagierte nicht auf seine Aussage. Er ging zu der Couch und ließ sich darauf sinken. Im Augenwinkel bemerkte er, wie Draco Anstalten machte zu ihm zu kommen. Aber er schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt... ich muss wirklich runterkommen... und nachdenken...", nuschelte der Gryffindor heiser. „Worüber musst du denn nachdenken?", fragte Draco spöttisch.
„Darüber, wie's weitergehen soll! Ich kann dich nämlich leiden, Malfoy!"