Ich denke, nicht alle wissen was Schattenkinder sind. Schattenkinder sind Geschwister von Kindern, die zumeist unheilbar krank sind. Durch diese Umstände schaffen es die meisten Eltern nicht sich um mehr als um das kranke Kind zu kümmern. Ausgehöhlt von dieser Last vernachlässigen sie sehr oft die Geschwisterkinder, da ihre Emotionen auf das kranke Kind fixiert sind. Die gesunden Kinder verkümmern dabei und tragen oft schwere seelische Schäden davon, weil es ihnen an Liebe und Aufmerksamkeit durch die Eltern mangelt. Hier gibt es eine Organisation, die Schattenkinder an Eltern mit anderen Kindern vermitteln, damit einerseits die Eltern weniger Lasten zu tragen haben und die Kinder zumindest zeitweise von dem Kummer der Eltern eine halbwegs normale Kindheit erleben können.
Unser Urlaub auf Sylt stand an. Bekannte hatten ein Schattenkind mit auf diese Fahrt mitgenommen. Beides Pädagogen - aber sie hatten keine Ahnung von Erziehung, weil sie keine Kinder groß gezogen hatten und eben nur mit Erwachsenen arbeiteten. So kam es, das dieses Schattenkind gerne und oft zu uns gezogen fühlte, weil wir halt ausgelassen mit dem Jungen spielten. Toben ist vielleicht das bessere Wort, denn Pädagogen versuchen oft irgendwelche gelernten Weisheiten an Kindern auszuprobieren, ohne zu wissen, wie Kinder auf diese methodischen Gegebenheiten reagieren. Schon während der Busfahrt setzte sich der sechsjährige Junge, den ich hier Jan nenne, zu uns. Wir spielten mit ihm Karten und spielten die typischen Reisespiele. Natürlich ließen wir Jan gewinnen, denn der Junge hatte bisher kaum Spaß im Leben gehabt. In Sylt angekommen begann das Drama. Wie bringt man ein Kind ins Bett? Zufällig fanden wir in der Herberge ein Knisterbuch und schon begannen die Abenteuer für den Jungen. Nach einer viertel Stunde schlief Jan und die Pädagogen blickten erstaunt zu mir, weil sie nicht wussten, welchen Zauber ich verwendet hatte. Ich riet ihnen, jeden Abend Rituale einzuführen, also Zähneputzen und dann die "Gutenachte Geschichte" vorzulesen. Kinder lieben sowas und wenn man sie gut bewegt hat, dann sind sie mehr als müde, wenn sie ins Bett gehen.
Zwei oder drei Tage schafften es die wohlgesonnenen Aushilfseltern den Jungen zu bespaßen und danach waren sie einfach platt. Irgendwie hatten sie sich ihren Urlaub mit dem Jungen anders vorgestellt. Die Bootstour zu den Robbenbänken, war sicherlich ein Abenteuer, aber nicht Kindgerecht. Dann der Museumsbesuch in dem Museum für Klimawandel und Naturgewalten, Eisdiele, Spaziergang durch Westerland. Jan blieb unzufrieden, weil es eben keine Abenteuer gab. Sie wussten nicht einmal, dass Kinderaugen sehr viele Geschichten erzählen können. Also nahm ich Jan und wir gingen einfach zum Strand und dort konnte er Stundenlang rumbutschern. Wir suchten Muscheln und einigten uns dann darauf am Nachmittag Schatzjäger zu werden, weil wir zufällig sieben Cent auf dem Spielplatz fanden. Andere Teilnehmer des Wandervereins bekamen es mit und plötzlich fand Jan überall Münzen. Angestachelt von diesen ersten erfolgen buddelten wir dann am Strand viele Stunden lang .
Es war herrliches Badewetter und Jan hatte nichts besseres zu tun, als systematisch den Strand nach Münzen abzusuchen. Stundenlang buddelte er in der Umgebung der Strandkörbe, natürlich nur von unbesetzten Strandkörben. Nach und nach förderte er mehr Kupfermünzen ans Tageslicht. Gewissenhaft schaufelte er Sand in ein Sieb und fand immer wieder Münzen. Ich gestehe, ich habe auch ein paar Kupfermünzen geopfert, aber wir stellten fest, dass es doch ein sehr einträgliches Geschäft war, nach Geld zu graben. Viel musste ich mich eigentlich nicht um Jan kümmern, denn er hatte schnell den Bogen raus. Stunde um Stunde grub er im Sand und fand stetig mehr Münzen. Nach zwei Stunden waren es fast fünf Euro und gegen 16 Uhr waren sogar fast acht Euro. Gemeinsam beschlossen wir nun ein Abstecher zur Eisdiele zu machen und uns ein Eis zu gönnen. Jan zahlte mit stolz geschwellter Brust, weil wir inzwischen die Strandpiraten waren. Danach gingen wir zum Spielplatz und legten uns in eine Riesenschaukel um die Pläne für die Nacht zu besprechen. In dieser Nacht wollten wir den Strand unsicher machen und Möwen erschrecken, weil ja jeder weiß, dass Möwen immer auf Schatztruhen sitzen. Danach ging es zum Abendbrot, Jan war bereits geschafft, als er den Salat und das Brot verdrückt hatte.
Ich sah, wie er stolz seine Geldbörse zeigte, die mit mehr als fünf Euro bestückt war. Heimlich stahlen wir uns danach zum Strand, um uns auf die Lauer zu legen. Rasch fanden wir Möwen und Jan war mit Feuereifer dabei die Möwen zu verjagen und überall zu graben. Ja, wir fanden etwas. Mal eine Muschel, mal einen rostigen Granatsplitter aus dem zweiten Weltkrieg. Unser Beutel füllte sich und gerne kuschelte der Junge an mir. Es war sicher nach neun Uhr, als wir mit unseren Schätzen zur Unterkunft zurückkehrten. Binnen fünf Minuten schief der Junge mit seinem Beutel in der Hand ein.
Jan war glücklich, endlich nahm ihn jemand ernst und er konnte ungezwungen toben. Das war alles, was für mich zählte, aber die Pädagogen waren unzufrieden. Ich hätte den Jungen überfordert und falsche Vorbilder gesetzt. Ich hätte ihn nicht oft genug mit Sonnencreme eingeschmiert, denn immerhin hatte der Junge ja Farbe bekommen. Danach folgte der starke Tobak. Ich hätte Nähe zugelassen. In diesem Moment verstand ich die Welt nicht mehr. Was ist daran verkehrt, einen Jungen in den Arm zu nehmen oder zusammen die Dünen runter zu rollen? Was war daran verkehrt Jan an die Hand zu nehmen und ihn um mich herum zu drehen? Was ist daran verkehrt mit dem Jungen in die Nordsee zu gehen, schließlich bin ich ja Rettungsschwimmer. Nein, diese irrelevanten Vorwürfe trafen mich. Ich musste mir ollen Mist anhören, dass Erziehung in strikt festgelegten Bahnen zu verlaufen hatte und negative Lebensläufe in dieser Welt nicht vorzukommen hatten. Piraten waren der Abschaum der Menschheit und daher nicht geeignet für ein Schattenkind. Ich hörte zu, während Jan mit dem Buch in der Hand auf die Geschichte wartetet. Müde war er und glücklich. Ich ignorierte die Pädagogen, denn Jan war Glücklich und müde. Nach kaum einer Seite entschwand Jan in das Traumreich. Zufrieden verließ ich das Zimmer, um mir hernach böse Tiraden anhören zu müssen. Ich wusste, meine drei Kinder fanden diese Fantasiewelten schön und Jan auch, aber für Pädagogen - ohne eigene Kinder - musste ich ein Ungeheuer sein.
Der nächste Tag begann mit einem Streit, Pädagogen schaffen es nun mal alle Menschen gegen sich einzunehmen, wenn sie ihren theoretischen Mist akademisch in die Runde werfen. Ich quittierte den Mist mit Kopfschütteln, den gerade dieser Junge brauchte Zuwendungen und Aufmerksamkeit. Was war an einem kleinen Kinderherzen nicht zu verstehen, wenn man einfach spielte, Abenteuer erlebte und gemeinsam Spaß hatte. Die Krönung der Missverständnisse passierte, als ich nach dem Frühstück ein Spaziergang machte um in List einige Einkäufe zu tätigen. Jan folgte mir und eben nicht den strikten Anweisungen der Pädagogen. Gemeinsam dackelten wir durch das Watt nach List und kauften ein. Zur Mittagszeit brachte ich ihn zurück. Böse Blicke empfingen mich, zwei hysterische Pädagogen empfingen mich, denn trotz ihrer Anweisungen war Jan nicht auf dem Zimmer geblieben sondern war mir gefolgt. Kleine Jungs dürfen keinen Kakau aus Trinktüten trinken und sich nicht ohne Erlaubnis aus den Zimmer entfernen. Ich schüttelte den Kopf. "Wisst ihr eigentlich, dass der Junge glücklich ist."
Diese Frage brachte das Fass zum Überlaufen. Pädagogen können offenbar nicht mit Kritik umgehen und noch weniger mit glücklichen Herzen, zumal ich wusste, dass sie in der Drogenberatung tätig waren. Kurz darauf verschwanden die lieben Pädagogen aus der Unterkunft und gut zehn Tage später erfuhr ich, dass die Schwester von Jan in einem Hospitz entschlafen war. Die Pädagogen traten aus dem Verein aus. Ich erinnere mich gerne an Jan, den diese strahlenden Augen sagten mehr als tausend Worte und Knister war sein Lieblingsbuch geworden. Seit seiner Geburt hatte Jan nie Nähe erfahren und in den Händen der Pädagogen wurde er zu einem Vorzeigeobjekt degradiert. Reife Erwachsene, ohne Kinder wissen offenbar nicht, wie Kinderherzen ticken. Ist es nicht wichtiger, ein Kind so zu nehmen, wie es ist und sich seine Geschichten anzuhören?