Raureif ist eine meteorologische und klimatische Erscheinung, bei der sich bei der Abkühlung die Luftfeuchte an der Erdoberfläche oder auf Pflanzen absetzt. Je nach Dauer der Frosteinwirkung und dem eintretenden Temperaturunterschied wachsen die Eiskristalle höchst unterschiedlich. Bei ausreichender Luftfeuchtigkeit und rasch einsetzenden Frost wachsen wunderschöne lange Eiskristalle, die einerseits kleine Bodepartikel anheben oder die Pflanzen mit einer dichten Schicht von Raureif überziehen. Die Pflanzen- und Tierwelt hat sich an dieses Tageszeitenklima bestens angepasst. Besonders hervorheben möchte ich die Espeletien, die auch Rosettenbäume oder Mönchshauptgewächse genannt werden.
Exkursion in die Paramo. Mit den Studenten der Universidad Nacional de Bogota durfte ich eine Exkursion in diese Klimazone im Jahr 1986 durchführen. Morgens um vier Uhr traf man sich auf dem Campus der Universität in Bogota, um mit einem Bus in die Hochanden zu fahren. Eigentlich ist das nicht weiter aufregend, wenn man von dem Umstand absieht, dass man sich zuvor bei der damals existierenden Terrororganisation FARC einen Passierschein auf dem Uni-Campus für die Exkursion kaufen musste. Dieser kostete zehn Pesos, was etwa einem Euro entspricht. Gut ausgestattet mit Kameras und dem obligatorischen Gastgeschenken und natürlich einem Rucksack voll mit Proviant begann die Tour in die Hochanden. Der Professor und die Professorin leiteten die Exkursion und wie alle anderen Studenten musste ich meine fünfzig Pesos bezahlen, um einen Exkursionsführer zu erhalten. Noch in der tropischen Nacht setzte sich der Bus in Bewegung und fuhr zunächst nach Norden und dann immer höher in die Berge hinauf. Von angenehmen zwanzig Grad sank die Temperatur auf unangenehme Null Grad Celsius. Zwischendurch wurde der Bus einmal vom Militär und einmal von der FARC durchsucht, um sicher zu gehen, dass weder Drogen, Waffen oder unerwünschte Personen im Bus mitfuhren. Es wirkte auf mich widersinnig, dass es in einem Staat mehrere Mächte gab, die für ein erträgliches Maß an Frieden sorgte.
Natürlich war ich als Gringo (abschätziges Wort für blasse und arrogante Amerikaner) zu erkennen und wurde daher besonders gründlich bei den Kontrollen inspiziert. Aber es reichte, wie so oft, wenn man sagte. "Ich bin Deutscher (Aleman). Etwa gegen sechs Uhr gab es den ersten Halt in der Nähe der Laguna Guatavita (Lago El Dorado). Wie üblich drängten sich die Studenten um die Profs und die erklärten alles über die Geologie, die Vegetation und die Besonderheiten des Klimas, sowie der daraus resultierenden Bodenbildung und der Leitpflanzen dieser Klimastufe, die sich Subparamo nannte. Hier wuchsen wunderbare Orchideen, seltene Kolibris surrten zu den Pflanzen, um den Energiehaushalt während der frostigen Nacht auszugleichen. Sämtliche Bäume waren mit Flechten und Moosen dicht überwuchert und skurrile Bilder entstanden in der frostigen Morgendämmerung. Die kolumbianischen Studenten waren längst nicht so gut ausgestattet - wie ich. Sie besaßen keine Klepperjacke, keine richtigen Bergstiefel oder das andere Gedöns, was europäische Studenten oder Forscher mit sich herumschleppen. Angefangen von der kleinen Lupe, dem Geologenhammer, dem Kompass und einem Mini-Max-Thermometer nebst Probenbehältern. Auch die Rucksäcke, wenn es sie gab waren rustikaler. Marta Calvache, die Professorin erklärte mir nebenher, dass meine Kleidung und Ausrüstung für Aufsehen sorgte und es für die jungen Damen und Herren bereits ein Privileg war, studieren zu dürfen.
Alleine schon meine Fotoausrüstung sorgte für Aufsehen und ich bekam meinen Spitznamen von zwei jungen Damen verpasst. Ich trug Bergschuhe von Meindel, die einen rotbraunen Farbton aufwiesen und daher besonders günstig waren. Mein Spitzname lautete von dem Tag an, "zapato rojo (rote Schuhe)". Nach diesem Haltepunkt in der Wildnis fuhren wir zum "El Sapo", dem damals größten Wassertunnel der Welt mit 64 Kilometern Länge. An dieser Stelle musste ich mein Referat halten. Zur Sicherheit verteilte ich noch eine von Marta Calvache ins spanisch übersetzte Kurzfassung des Vortrages. Ja, so ist das bei Exkursionen, jeder hält einen kleinen Vortrag und bekommt dafür eine Note. Zum Glück konnte ich die Unterlagen von Hochtief abgreifen, die diesen Tunnel erbaut hatten. Ich erklärte also in einem schaurigen Spanisch alles über den Tunnelbau, die Probleme und die Notwendigkeit des gigantischen Wasserversorgungstunnels, der Bogota mit Trinkwasser versorgte. Fabio Colminares der zweite Professor stellte mich nun den einheimischen Studenten vor. Erstmals blickte ich in die Gesichter der anderen Studentinnen und Studenten. Vielen Studenten froren, weil sie zumeist nicht wussten, was Schnee und Frost bedeutete. Von diesem Moment an, war ich aber auch das Ziel mancher Anmache, da damals noch Deutsche als zivilisierte Menschen galten und Männer aus diesem fernen Land hoch im Kurs bei der Damenwelt standen.
Die Meinung der jungen Leute war, dass alle Deutschen einen Mercedes fahren, viel Geld besitzen und ihre Frauen zumeist gut behandeln. Natürlich war es ein Vorurteil, weil sie auch glaubten, wir würden uns von Cola und Hamburgern ernähren und seinen deshalb größer gewachsen und kräftiger. Ja, so denken Menschen, denen tagtäglich irreführende Werbung im Fernsehen gezeigt wird, die das ferne Land nicht kennen. Auch meine passende Kleidung fehlte, da ich diese bayerischen Lederhosen hätte tragen müssen, um sofort als deutscher erkannt zu werden. Dieses mag wohl daran liegen, dass Bavaria Bräu das Land mit Bier und Werbung vermüllte. Dazu gesellte sich noch der Eindruck, den eine deutsche Molkerei verbreitete, dass wir alle in Bergen mit glücklichen Kühen leben würden. Natürlich auch mit dieser merkwürdigen Ledertracht bekleidet. Aber, es muss auch positives berichtet werden. Durch den Konsum von Milch sank der Anteil an Kinderkrankheiten und der Rachitis auf.
Dann endlich nach einer weiteren Etappe erreichten wir die Paramo. Es war kalt, frostig und wunderbare Eiskristalle hüllten die Horstgräser und Espeletien ein. Der Boden war mit diesen fremdartigen weißen Schicht bedeckt, die Raureif heißt. Fabio hatte seine Freunde, mich die Mini-Penitentis erklären zu lassen. Fachtechnisch ist das kein Problem, aber in einem andern Kulturgebiet sowas anstößiges zu erklären ist schon schwieriger. Ich denke, meine unvollkommenen Kenntnisse der spanischen Sprache führten zu mancher Stilblüte, die zu Lachanfällen führten. Aber wie sollte man es besser erklären, als mit dem Ursprungswort?
Es folgten weitere Exkursionspunkte und ich sah eine bezaubernde Landschaft, lernte viel über die Vegetation und bekam genügend Fotomaterial mit den üblichen Namen für die Pflanzen zugetragen. Für mich war es eine Chance, viele Besonderheiten der Natur kennenzulernen und Bildmaterial für die Diplomarbeit sammeln zu können. Nach dem letzten Exkursionspunkt fuhren wir zur Uni in Bogota zurück. Natürlich endete die Exkursion in der Mensa, um dort gemeinsam die Soppa Santo zu essen. Diese besteht zumeist aus Kartoffeln, Gemüse, diversen unbekannten Bohnensorten und an diesem Tag spendete ich zwei Hühner, die etwa einen Euro kosteten. Was mir jedoch mächtig auf den Zeiger ging, war die Anrede, weil alle Studenten dachten, dass deutsche Studenten mehr wüssten und daher als Professor angesprochen werden müssten. Also hielt ich eine verzweifelte Ansprache, um diesen Irrglauben zu bekämpfen. Der Tenor war, dass deutsche weder klüger noch besser seien, weil alle anderen Studenten dieser Welt, die primär das fachliche Rüstzeug erlernten und dabei ihre persönliche Lernmethode entwickeln sollten.
ich denke, dieser Schuss in den Ofen, wird heute noch an der Uni erzählt, weil Fabio und Marta mir natürlich anderes hinterher zutrugen. Ich muss auf die jungen Leute wie ein verrückter Gringo gewirkt haben, weil es für sie unvorstellbar war, dass ein Mitteleuropäer nach Kolumbien fährt, um von dem wunderbaren Tropenklima sehr oft in die Kälte zu reisen, um dort auf Gletschern Messungen zu machen. Noch schlimmer war es, dass ich nicht wusste, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau noch bedeutend größer war, als ich es mir vorstellen konnte. Alleine schon, dass ich einer Studentin die Bustür aufhielt, sprengte deren Vorstellungskraft. Meine merkwürdige Erziehung sorgte dort noch häufiger für Kopfschütteln, weil ein Mann seine Frau nun mal regelmäßig zu vertrimmen hat, wenn sie nicht spurt.
ich gebe zu, kulturell nicht bestmöglich auf die Reise vorbereitet gewesen zu sein und ich gestehe mir ein, dass diese Exkursion in den Raureif für mich hilfreich war, um zu erkennen, welche Berge von Vorurteilen ich in diesem Land zu überwinden hatte, wenn ich mich nicht als Macho verhielte. Ich zog daraus meine Konsequenzen, die vielleicht später einmal an passender Stelle erwähnt werden.