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Refugium
Irgendwo sind ein Ort, den man nicht so leicht findet. Viele haben das Bedürfnis dort hin zu gehen. Spüren eine Sehnsucht nach dem „anderswo“. Ein Gebet nach Rettung, der Wunsch nach einen Zufluchtsort. Wo man sich nicht zitternd unter dem Tisch verstecken muss. Unter der Bettdecke vergraben. Wo einen die auflauernden, jagenden Monster nicht finden können. Wo die sanften Hände einer liebenden Person unter den Tisch reichen und einen hervor ziehen ins warme Sonnenlicht. Wo die Albtraumschatten von gelbem Licht in die Zimmerecken verjagt werden, um sich dort aufzulösen. Bei ihnen brauchst du deine schützende Bettdecke nicht mehr. Lass die flauschige Wolle los, in die du deine kleinen Hände gegraben hast, bis die Knöchel weiß aus dem dunklen Stoff hervorstechen. (lass los.)
„Lass uns irgendwo anders hingehen, Schatz.“
Irgendwo haben schon viele solcher Sätze gehört. Von liebenden, romantischen Pärchen. Aber die wissen, wo ihr Ziel ist. Irgendwo an der Westküste mit strahlendem Wetter und Eiskugeln in der Waffel. Irgendwo am Strand mit warmem Sand zwischen den Zehen und kalten Wellen, die die Knöchel umspülen. Irgendwo auf dem Feld, wo sanfte, hitzige und feuchte Zärtlichkeiten ausgetauscht werden.
Aber es sind die Verzweifelten, die Ängstlichen, die sich an sie wenden. Die den Ruf von Irgendwo hören und mit ihrem eigenen Flehen erwidern.
„Hilf mir. Rette mich. Bring mich weg von hier. Egal wohin. Nur irgendwo anders hin.“
Wer wären Irgendwo nur, wenn sie auf die gewisperten, teils lispelnden Hilferufe nicht reagieren würden? (komm. komm näher.) Sie ihnen nicht den Weg mit einer Karte zeigen würden?
Wie im Schlaf taumeln sie Richtung Irgendwo. Eingewickelt in ihre Decken gucken nur kleine, nackte Füße unten raus. Tap, tap, tap. die Decke bis über den Kopf gezogen. Ein sicherer Kokon. Nach ihrer Ankunft werden sie sich auch in etwas anderes verwandeln. Aufblühen wie es ihnen vorher nicht möglich gewesen ist. Kleine Irrlichter, die ihre Flügel in der Dunkelheit ausbreiten. Motten, die ein Licht suchen und Irgendwo (UNS) finden.
Hier wird es ihnen gut gehen. Irgendwo kümmern sich um sie. Nehmen sie (in uns) auf. Hier wird es immer einen Platz für andere (mehr) geben.
Und manchmal, nur manchmal, (immer) denken Irgendwo an all die Plätze zurück, von denen sie kamen. Die abgewrackten, kalten Wohnungen mit den Nadeln auf den Böden und dem Geschrei in den Wänden. Die geschmackvollen und herausgeputzten Häuser mit den warmen Farben, in denen die Kälte nur in den Herzen steckt und sich das Blut schamvoll selbst von den Rasierklingen wäscht.
Dann streichen sie durch die Häuser, Wohnungen, Flure, türmen lauernd in Türrahmen und kauern neben den Betten der Zurückgebliebenen. Vor-denen-Gerannten. Und sehnen sich trotz allem zurück. Ein Kind fürchtet nicht die Eltern, aber liebt sie. Ein Kind fürchtet die Eltern und liebt sie. Also lassen Irgendwo etwas zurück. Ein Souvenir neben der zerschlissenen Couch, zwischen den leeren Flaschen und Dosen. Ein Souvenir auf dem Nachttisch, neben der modernen Lampe. Wo es wisperlaut vor sich hintropft. Eine Art (Nach)Ruf von Irgendwo, könnte man sagen.