Content-Warnungen: https://belletristica.com/de/books/29160-content-warnungen/chapter/139652-wie-es-kam-dass-der-sandmann-die-augen-frass
Wie es kam, dass der Sandmann die Augen fraß
Du hast vielleicht schon von dem Schauermärchen gehört, dass der Sandmann die Augen der Schlafenden frisst. Tatsächlich war es aber gar nicht die Schuld des Sandmanns, dass er zu solchen Taten greifen musste. Wie bei jedem Lebewesen sorgten äußere Umstände dafür, dass er sich ändern musste. Schon Darwin wusste um die Notwendigkeit des Selbst-Verlierens und Neu-Erfinden. In seinem dunklen, schaukelnden Zimmer bei Kerzenschein. Mit Tintenvögeln an den Wänden, auf Papyrus gebannt.
In diesem Falle waren die Menschen die äußeren Umstände, die sich änderten. Früher hatte es ihm gereicht sich von den Überresten ihrer Träume zu ernähren. Als den Menschen die Seele noch aus den Augen strahlte, da war er mit der Berufung geboren worden ihnen das Träumen zu ermöglichen. Er gab ihnen die Möglichkeit in der Nacht selbst zu leuchten. In den Stunden, in denen die Sonne und das Licht sie verließen. Auf dass sie die Abermillionen Sterne auf der Erde widerspiegelten. Aus dem einstigen Paradies verbannt, konnten sie nun im Schlafe wieder dorthin zurückkehren. Jede Nacht eine Rückkehr zum Anbeginn ihrer Menschlichkeit.
Wenn sie bei Tageslicht heimfanden, zeugte nur der Sand an ihren Augen von der langen Reise. Der Reisesand als Lebenswährung nährte ihn. Füllte ihn. Erfüllte ihn. Im Gegenzug schickte er sie gerne auf ihre Reise. Wachte bis zu ihrer Rückkehr über sie, um sich dann seinen Lohn zu holen.
Und dann änderten sich die Menschen. Und mit ihnen, ihre Träume. Träume wuchsen und rankten sich bis über die Grenzen des Paradies‘, weit bis in die Unendlichkeit des Nachthimmels hinein. Die Menschen folgten anderen Träumen. Der Sandmann ließ sie. Seine Aufgabe war das Lösen der Seelen. Den ersten Schritt mit ihnen in Richtung Traum gehen, um sie auf den rechten Pfad zu setzen.
Dem funkelnden Sternenpfad in die Weiten des Himmels mussten die Menschen schon selbst folgen. Und was taten schon ein paar Seelen, die sich nach einem eigenen Himmel sehnten? Doch er vergaß er, was später so bekannt sein würde, dass es zur Volksweisheit würde: Du bist, was du isst.
Mit dem Verlaufen der großen Sanduhr, die die kreisenden Wege der Planeten und Sonnen bestimmt, betraten immer weniger Menschen den strahlenden Weg. Nur wenige kehrten mit Staub auf der Seele und Sand in den Augen zurück. Der Sandmann wurde dünner. Mit der erneuten Verweigerung ihres Paradieses löste die Menschheit einen Sturm aus, der im Flügelschlag eines Schmetterlings geboren war.
Hungernd kam der Sandmann über die Häuser. Suchte mit dünnen, zitternden Fingern nach Staubkörnern des einstigen Paradies‘.
Das erste Mal, dass es passierte, war gar nicht seine Absicht. Er war nur so Hungrig. Die Leere des Universums gähnte in seinem Magen. riesig und unaufhaltsam wie ein Schwarzes Loch und unaufhaltsam wie das Schicksal, wenn die Zeit gekommen war. Mit seinen Händen grub er sich in die Haut um die Augen der Menschen. Versenkte seine Finger in den Spalt zwischen Knochenhöhle und Augapfel. Fuhr mit seiner Zunge über das Gesicht, um ein kleines Sandkorn zu erhaschen, zu schmecken. Und schmeckte stattdessen….
etwas Dunkles.
Nicht das helle Leuchten des Paradies‘. Frieden versprechend und warm unter der Haut. Die eigenen Träume der Menschen hatten eine ganz andere Qualität. Dunkel, tiefgehend. Bittere Schokolade und brennendes Tannenholz. Reif, wie eine pralle Frucht, die am verbotenen Baum hängt. Darauf wartend, gepflückt zu werden. Er krallte sich mit seinen Fingern hinein und zog. Riss daran, bis er sie in der Hand hielt. Triefend rot, der tropfende Duft hypnotisierend. Er verschlang sie.
Kaum bemerkbar vom Sandmann, veränderte sich etwas in ihm. Verschob sich, als sich seine lechzende Zunge um die Frucht wand und sie zwischen seinen Zähnen platzte. Kein Mensch träumte seit daher jemals wieder vom Paradies.