Sie trug einen Traum von einem Kleid. Das enge Oberteil schillerte wie silberne Fischschuppen und wurde an der Hüfte abrupt aufgewirbelt von schlingernden Wellen aus Tüll, die sich abwärts um ihre Beine ergossen.
Hätte nur noch gefehlt, dass weiße Plüschbommeln auf ihren Schuhen saßen, um Gischt zu symbolisieren.
Ranoia hob einen Fuß und lugte über den überladenen Rock nach unten, um zu überprüfen, ob die flachen Schuhe noch immer schlicht und undekoriert waren. Dann stampfte sie mit dem Fuß zurück auf das dreckige Pflaster. Es war stockdunkel. Einer der Nachtwächter hatte erst vor wenigen Minuten ihren Standort passiert und sie war überaus pünktlich. Und trotzdem begann sie schon von einem Fuß auf den anderen zu treten. Musste eine Beschäftigung für ihre Hände suchen und beschloss, sich trotz der lauen Temperaturen, den Pelz über die Schultern zu werfen. Kurz erwiderte sie den toten Glasblick des Silberfuchses, als der Kopf in ihr Blickfeld glitt, dann schleuderte sie ihn sich über den Rücken.
„Entschuldige, aber das war nicht meine Idee“, grummelte sie in sich hinein und zupfte das Fell zurecht. Es fühlte sich glatt und tot an. Und Ranoia schauderte jetzt nur noch mehr.
Wo blieb diese verwünschte Kutsche!?
Hier im Darunkelviertel herumzustehen, an einer der verrottetsten Ecken, die die Stadt zu bieten hatte, war auch ohne glitzernden Leuchtfirlefanz um den Körper, nicht gerade zuträglich. Egal ob sie nun jung oder alt, Frau oder Mann, dick oder dünn war. Sie strich sich über die ausgebeulten Hüften. Zupfte an den Ärmeln, weil sie nicht mal mit den Fingern darunter kam, um sich zu kratzen. Gott, wie das juckte.
Dann traf sie eine Entscheidung: Sie würde bis zehn zählen und dann die Straße zurückrennen, so schnell ihre Beine sie trugen und gegen die Tür hämmern, aus der sie vor wenigen Minuten getreten war. Sich dieses Kleid vom Körper reißen und...
Genau in diesem Moment zerschlug das Geräusch klappernder Hufe ihren Plan und ihre Gedanken. Sie seufzte ungewollt. Aus Erleichterung und Wut. Ihre Hände wanderten zu ihrer Taille, die Ellbogen spreizten sich ab wie spitze Schildbuckel.
Die Pferde kamen in Sicht. Allesamt waren grau, ebenso wie die Kleidung des Fahrers und die Kutsche selbst. Nur das Wappen der Torrstedter durchbrach mit kräftigen Farben das Einerlei. Die Tür sprang viel zu nah an ihrer Nase auf und Rainoia wich zurück.
„Guten Abend, holde Barone...“, begann Lore und wedelte mit seinem breitkrempigen Hut durch die Nachtluft. Er pfiff leise und ließ den Hut zurück auf den Kopf gleiten, während er sich mit der anderen Hand festhielt und sich aus der Kutsche lehnte.
„Die Baronesse wird dir aber nicht gerecht. Da haben sie ja eine Bäuerin in eine Prinzessin verwandelt“, lobte er überschwänglich und lachte. Dann machte er eine einladende Geste ins Innere.
Ranoias getrübte Stimmung wurde von einem Unwetter abgelöst, dass sich in ihrem Gesicht verhakte und durch keine Schauspielerei mehr zu vertreiben war. So sehr sie sich bemühte, das adlige Lächeln, das sie für den heutigen Abend geübt hatte, ließ sich nicht hervorzaubern. Zu hartnäckig blieb die Möglichkeit, Lore die Hand wegzuschlagen, damit er vornüber in den Rinnendreck fiel. Das hätte sein ewig charmant grinsendes Gesicht wenigstens seinem Charakter angepasst.
Doch Ranoia tat, was sie gelernt hatte und riss sich zusammen. Statt einer Antwort, machte sie einen Sprung und überwand den Abstand zwischen Bordstein und Einstieg. Allein ihr Schwung stieß den überraschten Lore zurück und ließ ihn unrühmlich auf dem Boden plumpsen.
Jetzt war es Ranoia die sich ihm Rahmen der Kutschentür hielt und sich nach vorn beugte. Das Schauspielen funktionierte wieder. Mit besorgter Miene beugte sie sich über den fluchenden Charmeur und reichte ihm eine Hand. „Oh, wie ungeschickt für eine Baronesse oder Prinzessin“, säuselte sie und zog die Hand überrascht zurück, um sie sich vor den Mund zu schlagen. „Oh, aber von einer Bäuerin war das zu erwarten, nicht wahr?“
Zufrieden beobachtete sie, wie er sich ungelenk im engen Raum der Kutschkabine aufrappelte und seinen Hut verlor. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und seine Weste war verrutscht.
Er nuschelte eine Beleidigung die irgendetwas mit Rindern und Rüben zutun hatte, aber Ranoia hörte nicht mehr hin, sondern klappte die Tür zu und ließ sich grinsend auf eine Bank fallen.
Ein Ruf und die Kutsche machte einen Ruck nach vorn. Das Geräusch von Hufen auf Steinen erfüllte die Nacht. Und Lore plumpste ihr gegenüber auf die harte Sitzgelegenheit.
„Mach du nur deine Witze. Wenn du den Auftrag heute Abend vermasselst, wird dir das ganz schnell vergehen. Aber wenigstens hab ich dann endlich meine Ruhe vor dir“, schimpfte er vor sich hin und klopfte seinen Hut aus.
Ranoia blickte aus dem Fenster. Das machte keinen Sinn, denn die Vorhänge waren zugezogen, doch sie konnte ihn nicht länger ansehen. Sein perfektes Gesicht, die Lippen, die Augen. Alles an ihm gehorchte dem, was er spielte. Jede Rolle gehörte ihm. Er war älter als sie und hatte die Ausbildung später begonnen. Und jetzt beendeten sie sie gemeinsam. Weil diesem Mistkerl alles leicht fiel. Das Schauspielen, das Lügen, das Merken. Auch das Töten?
Bei der Frage warf sie doch wieder einen Blick hinüber, ärgerte sich sogleich, als er sie ertappte und mit einem Raubtiergrinsen bedachte.
Erneut wandte sie sich ab. Heute Nacht würde sich zeigen, ob sie bereit waren. Ob die Gilde ihre Ausbildung als abgeschlossen ansah und sie aufnehmen würde. Und er brauchte sich natürlich keine Gedanken darüber zu machen. Sie schon. Von wegen Witze.
Ranoia atmete tief ein. Und aus. Konzentrierte sich auf das Heben und Senken ihrer Brust und suchte nach Baronesse Vultine Torrstedter. Die, die sie heute Nacht sein würde. Angestrengt durchforschte sie ihr Gedächtnis nach Vultines Geschichte: Vultine Torrstedter, 237 Monde alt, die verstorbene Mutter hieß Mevalla, sie hat zwei Brüder... äh wie hießen die noch gleich? Vince und Va... Varin. Vultine hat panische Angst vor Pferden, isst gern Datteln, ist schüchtern und sozial unbeholfen. Immer noch unverheiratet, was...
„Na das ging ja schnell“, durchschnitt die nervigste Stimme des Kontinents ihre Gedanken.
„Was?“, blaffte Ranoia zurück ohne nachzudenken. Sie sollte doch den Mund halten. Ihr Kopf sank resigniert gegen die Rückwand. Wieder begann der Stoff unter ihren Armen zu jucken.
„Dass du aufhörst zu grinsen, Prinzessin“, gab Lore zurück und sein seltsamer Tonfall, weckte Ranoias Aufmerksamkeit. Sie senkte den Kopf und verengte die Augen. Es war so verdammt dunkel. Die kleine Lampe an der Decke mit der rußigen Flamme, erschwerte nur das Atmen Licht spendete sie kaum.
„Im Gegensatz zu dir, nehme ich meine Aufgabe ernst“, erwiderte sie und seufzte. Rieb sich vorsichtig mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Wenn sie doch nur jemanden als Partner zugeteilt bekommen hätte, der zuverlässig war. Sich an Pläne hielt. Sie ernst nahm. Oder wenigstens irgendeines davon.
„Ich auch“, verkündete Lore mit tiefschürfendem Ernst. Der genauso gespielt war, wie sein treuer Blick. Alles an ihm. Immer gespielt, dieser verdammte...
Ranoia zischte ihre Wut hinaus: „Na klar. So lange, bis du gewonnen hast und ich als Verliererin dastehe.“
Etwas Dunkles huschte über sein Gesicht und Ranoia verknotete ihre Hände. Hitze staute sich unter den Stofflagen ihres Rockes und ihr Herz stolperte in ihrer Brust, wie die Kutschräder über das Steinpflaster. Wieso dauerte diese Fahrt so elendig lange?
„So siehst du das?“, fragte Lore leise. Leise? Lore war niemals leise. Er war unauffällig. Aber nicht leise. Aber Ranoia beschloss, dieser kleinen Neuigkeit keine Aufmerksamkeit zu schenken, sie konnte, nein sie durfte sich nicht auf ihn konzentrieren. Sondern auf ihre Aufgabe. Wenn sie heute scheiterte, würde sie... Gänsehaut kroch ihren Nacken hinunter. Sie durfte nicht daran denken.
Statt einer Antwort, straffte sie ihren Rücken, setzte sich aufrecht und schloss die Augen. Sie war Baronesse Vultine Torrstedter. Adelig und vornehm. Zurückhaltend und schweigsam. Höflich.
„Baronesse“, kam es ihr über die Lippen und sie schlug die Augen auf. Vultines Augen. „Ich bin Baronesse, nicht Prinzessin. Merk dir das lieber.“
Die Kutschte hielt ruckartig an.
Ranoia sprang auf und griff nach der Tür.
„Hey, Prinzessin!“, raunte Lore. „Du hast noch gar nichts zu meinem Erscheinungsbild gesagt.“
Er stand auf und zog sich den Hut ins Gesicht. „Reicht nicht für einen Prinzen, oder?“ Da war es wieder, das charmante Grinsen, das dich vergessen ließ, dass du eben noch mit ihm gestritten hast. Das dich glauben lassen wollte, er wäre nett. Er stünde auf deiner Seite. Würde... dich... mögen...
„Das reicht nicht mal für einen Spion, der versucht einen Prinzen zu spielen.“
Ranoia stieß die Tür auf.
Und Vultine lächelte erwartungsvoll.
Prompt: Der Spion und die Prinzessin