„Verpiss dich endlich...“, murrte Sina und zog die Knie unters Kinn. Ihre Augen starrten durch die Glasscheibe vor ihr hindurch. Tropfen prallten unablässig dagegen, sickerten in Rinnsalen am Glas hinab, überlagerten sich und ließen den Sommer verschwimmen.
„Ach scheiße. Scheiße, scheiße...“
„Dein Wortschatz ist heute ja sehr abwechslungsreich“, kommentierte eine vertraute Stimme hinter ihr und sie verdrehte die Augen. Wedelte mit einer Hand zur Seite und knurrte: „Lass mich in Ruhe.“
Doch stattdessen hörte sie, wie sich die schweren Schritte ihres Bruders näherten, bis er neben ihr zum Stehen kam. Finster sah sie von ihrem Platz in ihrem Lieblingssessel auf. Er hatte eine vollbeladene Wäschewanne hin den Händen, die er offenbar gerade abholte, denn die Kleidungsstücke darin waren alle sorgfältig zusammengelegt. Von Mama. Nicht ihm.
„Na, lässt du dich wieder betüddeln?“, provozierte Sina und sah wieder hinaus.
Es war Anfang Juli, verdammt. Juli! Und es schüttete seit drei Tagen wie aus einem nie leer werdenden Klo. Mistwetter war überhaupt kein Ausdruck. Da war es völlig egal, ob es trotzdem stabile 23°C draußen hatte. Und die einzelnen Stunden zwischendrin, in denen es mal trocken war, musste man nutzen, um in irgendein Geschäft zu rasen und etwas zu besorgen. Sommerpartys, Balkonnächte bei Emily und Freibadfeelings adé.
Als die Wäschewanne über den Boden schabte, als Jonas sie abstellte, sah Sina wieder auf. Er war ja immer noch da. Stellte sich gerade viel zu dicht neben sie, verschränkte die Arme und runzelte die Stirn, während er nach draußen sah.
„Was tust du da eigentlich?“, fragte er irgendwann, als Sina sich bereits wieder in den Linien herabrinnenden Wassers verloren hatte. Sie warf die Hände hoch und fuhr zu ihm herum. „Hau doch endlich ab!“
„Ich meine, ich würde es verstehen,wenn du vor deinen lächerlichen Youtube-Channels sitzen, oder dein Zumbagehopse machen würdest. Aber du hast ja nicht mal dein Smartphone vor der Nase? Bist du krank?“
Etwas platzte in Sinas Bauch, wie ein Ballon mit heißem Wasser: „Bist du einfach nur bescheuert oder was? Natürlich hab ich das alles schon gemacht. Ich hab sogar angefangen zu lesen!“, schrie sie und stach mit dem Zeigefinger nach ihm, während ihre zweite Hand nach einem Kissen tastete. „Glaubt man nicht, was? So verzweifelt bin ich. Ich hab die ganze letzte Staffel Game of Thrones geschaut, obwohl ich schon vorher wusste, dass sie scheiße ist. Ich...“
Sie fand das Kissen und schleuderte es in sein Gesicht. Das Grinsen auf seinem Gesicht konnte sie trotzdem noch sehen, bevor das Kissen es verdeckte und er zurücktaumelte. Beinahe wäre er über die Wäsche gestürzt. Beinahe. Schade.
Doch Sina war noch nicht fertig: „Ich hab alles an Ablenkung probiert, was geht, okay?! Aber jetzt hab ich die Schnauze voll. Das Wetter ist ätzend. Und absolut kein Grund für ein Dauergrinsen!“
Mit Schwung war sie auf den Füßen und verpasste ihrem Bruder einen Stoß vor die Brust. Im gleichen Moment knallte das Kissen gegen ihre Stirn. Sie taumelten beide. Sina kreischte auf. Und Jonas stolperte über seine Klamotten. Ebenfalls mit einem erstickten „Whuääääärgh“ ging er zu Boden und landete mit dem Hintern mittendrin. Während Sina gegen die Lehne ihres Sessels prallte und die Hitze in ihrem Kopf sie schwindeln ließ. Oder nur die plötzlich hektischen Bewegungen?
Jedenfalls fühlte sie sich wie ein Wasserkocher ohne Ausschaltautomatik. Brodelnd.
Wenn Jonas jetzt noch einen blöden Ton von sich gab...
Aber als sie ihn wieder ansah, hatte sich ein seltsames Glitzern in seine Augen geschlichen. Das Zeichen für eine Idee. Erinnerungen flackerten in Sina auf. An diesen Blick und eine improvisierte Feuerstelle im Wald. Diesen Blick und einen gemeinsamen Sprung vom zehn Meter Turm im Schwimmbad. Diesen Blick und Eistütenhörnchen auf den Ohren. Inklusive Eis. Dieser Blick war mit tausend und einem Blödsinn verbunden. Mit Streit. Mit Herzrasen und endlosem Gekicher. Und mit Sommer.
„Was?“, fragte sie misstrauisch.
Jonas zuckte die Schultern.
„Ach, das find ich gut“, gab er unschuldig zurück. Sina ging auf ihn zu und stemmte die Hände in die Hüften. Musterte ihn von oben herab: „Was?“
Er ruckelte sich nach vorn und kam auf die Füße. Jetzt war er es, der auf sie herabsehen konnte.
„Na, dass du dich nicht mehr ablenkst, sondern das Problem konfrontierst“, verkündete er und Sina wollte ihn erneut zu Boden stoßen. Nur, dass das nicht noch einmal funktioniert hätte.
„Konfrontiert?“
Er verdrehte die Augen. „Das bedeutete...“
Sie unterbrach ihn: „Ich weiß was das bedeutet du oberschlauer Student.“ Zumindest hatte sie eine ungefähre Ahnung.
„Wie wäre es dann, wenn wir das Problem gemeinsam konfrontieren?“, fragte er und beugte sich verschwörerisch zu ihr herunter.
„Hä?“
Dann fuhr er herum und öffnete mit einem Ruck die Balkontür.
Ehe sie einen Gedanken fassen konnten, war Jonas bereits draußen. Im Regen.
Er entfernte sich kreiselnd vom Haus und und begann dann einen Tanz aufzuführen, während er krächzend „It's Raining Men“ anstimmte. Innerhalb von Sekunden war er klatschnass. Alles klebte. Und er winkte wie ein Eichhörnchen auf Drogen zu ihr hinüber. Bevor er wieder dazu überging „Hallelujah!“, zu grölen.
Sina stand einfach da und konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Warme Luft und Sprühregen trafen sie, während sie schreien wollte. Dummerweise fiel ihr keine einzige Beschimpfung ein. Ihre Gedanken sammelten sich wie der Regen zu Pfützen, zu einem Satz:
Scheiß drauf, es ist Sommer!
Es mochte vielleicht schlauere Sätze auf dieser Welt geben, aber dieser brachte sie zum Lächeln. Und dazu, dass sie sich wenige Sekunden später in der Wiese wiederfand. Sich drehend und die Arme ausgestreckt, von denen bei jeder Pirouette Tröpfchen umherflogen
Prompt: Ablenkung
(Da muss übrigens auch gar nicht davon abgelenkt werden, dass dieser Text zufällig einen Jahreszeitenbezug hat X-D)