Die Blätterkronen der Bäume rauschten im Wind.
Viola hatte den Kopf in den Nacken gelegt und ließ ihr Gesicht vom durchscheinenden Licht besprenkeln. Dann schloss sie die Augen. Und erkannte ihren Irrtum.
Es waren nicht die belaubten Zweige, es waren Flügel, die rauschten. Riesige, ledrige Schwingen, die langsam auf und ab schlugen. Dann krachte es. Zweige brachen unter dem Flügelschlag entzwei und donnerten zu Boden. Wind peitschte Violas Haare durcheinander, so dass sie den Arm hob und das Gesicht beschirmte. Dann setzten die Krallen auf und der Drache warf seine Schwingen ein letztes Mal nach oben, um sie dann zusammenzufalten. Sein Kopf bewegte sich schlangenartig zu Viola herum, seine Augen fanden ihre Gestalt. Er blinzelte nicht. Legte nur den langen Hals auf den Boden und seinen Kopf direkt vor ihren Füßen ab. Schon wollte Viola erleichtert lächeln, doch Baruch hatte, wie immer, extra für sie, noch eine Gemeinheit auf Lager. Ohne Vorwarnung prustete er eine Ladung heißen Dampf aus seinen Nüstern, direkt in Violas Gesicht. Rauch stach in ihre Augen und sie begann zu husten. Ein Lachen erklang.
"Ihr seid so witzig", kommentierte die kichernde Stimme und Viola wedelte den Qualm beiseite, um endlich einen Blick auf sie zu erhaschen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Auf diesen Moment hatte sie so lange gewartet. Sie konnte gar nicht anders, als heftig zu winken.
"Stella!"
Da war sie. In eine Lederrüstung und grünen Stoff gekleidet. Die Haare nur grob mit einem Band aus der Stirn gebunden, derbe Stiefel an den Füßen und die Arme voller Tattoos. Drachenzähmerin. Mutfischerin. Prinzessin des Horizonts. Ihre Schwester.
Ein Kloß steckte in Violas Kehle fest und schien sich aufzublähen, je näher ihre Schwester kam. Sie tänzelte über den breiten Hals des Drachen und sprang auf Höhe des Nackens einfach zu Boden. Ihre behandschuhte Hand glitt über seine Schuppen, als sie sein Gesicht passierte und auf Viola zutrat.
"Stella", hauchte Viola und ein Kratzen schabte über ihre Kehle. Der Name fühlte sich alt und verstaubt an in ihrem Mund. Ihr Gesicht, leuchtend vor Tatendrang, hatte etwas Verwaschenes. Vielleicht, weil es vor Dreck starrte? Es war egal. Dies war der schönste Anblick seit Wochen.
"Ich bin so froh, dass du da bist. Ich habe...", begann Viola, als ihre Schwester den Kopf schüttelte.
"Keine Zeit, Schwesterherz. Der Moosgraf ist ein ungeduldiger Mann. Wir müssen uns beeilen."
Damit wirbelte sie herum und rannte los.
Einen Moment sah Viola hier nur hinterher. Ihre Beine schwer wie Beton, ihr Kopf leergefegt. Blut rauschte in ihren Ohren und verdrängte die Erinnerung an die Stimme ihrer Schwester.
Es war Baruch, der sie erlöste. Ein Grollen aus seiner Kehle, ließ sie zusammenzucken. Und ihre Muskeln schienen befreit. Sie raste los. Der wehende blonde Zopf ihrer Schwester war das letzte, was sie von ihr zwischen Laub und Unterholz erkennen konnte. Sie musste sie einholen.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie keuchte. Schweiß trat ihr aus den Poren und jedes Mal wenn sie schrie: "Stella! Bleib stehen!", klang es heiserer.
Mit einem Mal griff Dunkelheit um sich. Nur, dass sie nicht vom Himmel auf sie niederfiel, sondern vom Boden ausbreitete, jeden ihrer Schritte empfing, als ginge sie von ihr selbst aus. Hektisch suchte sie nach den blonden Haaren. Lauschte nach einem Lachen. Laub stob unter ihren Schritten auf, während sie wie ein gejagtes Reh vorwärts hetzte. Vorwärts, seitwärts. Im Kreis?
"Stella!"
Sie hörte das Quietschen von Bremsen. Die Hupe. Wieder und wieder.
Und dann brach sie durch den Waldrand, direkt über der Straße. Die heute ruhig und verlassen dalag. Viola blinzelte. Ließ sich die Böschung hinabrutschen, genau wie an jenem Tag, als Stella, die Drachenzähmerin vor ihr geflohen war. Vor Viola Schattentochter.
Sie kauerte sich an den von Moos überwucherten Straßenrand. Ihre Finger tasteten über das Holz des Kreuzes. Es war noch so neu und doch streckte sich das weiche Moos bereits danach aus.
Violas Tränen versickerten darin.
Verdammte Fantasie.
Prompt: Rauschen