Kennt ihr diesen Typ Mädchen?
Einfach alles sitzt an der richtigen Stelle. Die Beine lang, der Po nicht zu dick, animefigurengroße Augen in klarstem Grün. Herzförmiges Gesicht und niedliche Nase. Eine üppige Haarmähne mit Naturwellen. Aber keine Locken! Das wäre zu frech. Nein, alles an ihr ist gefällig. Das ist sowieso das beste Wort, um sie zusammenzufassen. Gefällig. Sie gefällt sich, sie gefällt anderen. Und überall wo sie auftaucht sieht man sie neidisch, bewundernd, oder einfach nur fasziniert an. Und dabei hat sie es nicht einmal nötig sich aufzubrezeln wie die Make-Up-Horde, die meint, dadurch ihre Vorteile hervorzuheben.
Aber bleiben wir bei unserer gefälligen, grünäugigen Barbie. Nennen wir sie... wie wärs mit Marie? Sie hat gefühlt monatlich einen neuen Freund, ein dutzend Verehrer und ungezählte Neider. Und natürlich taucht sie auf jeder Party auf und stiehlt, ohne es zu wollen (haha), sogar der Gastgeberin die Show. Und außerdem ist es unverständlich, wieso niemand bemerkt, dass sie eigentlich strohdumm ist. Alle fallen auf sie rein, bis auf eine!
So, wer von euch hat jetzt noch nicht gekotzt?
Dann lasst euch sagen: Sie ist kein antagonistischer Buchcharakter, der in jedem romantischen Jugendroman auftaucht. Nein. Sie ist real.
Ich bin's. Ich bin Marie.
Hi.
Ich bin keine Person, ich bin ein Typ. Laufe mir ständig beim Lesen über den Weg. Okay, mit gewissen Abwandlungen. Mal blond, mal blauäugig, mal übertrieben geschminkt, mal heimtückisch. Vielleicht sogar mal einsichtig. Aber ich entdecke mich niemals als Hauptrolle. Deshalb schreibe ich jetzt selbst.
Das hat auch meine Psychiaterin mir geraten: Schrei es raus, mal es raus, schreib es raus... tu irgendwas um die Gefühle herauszulassen, aber friss sie nicht in dich hinein.
Und da ich ja gefällig bin, schreibe ich das hier jetzt. Obwohl mir andere Dinge viel besser helfen, Gefühle herauszulassen. Sex zum Beispiel. Oder etwas zerschmeißen. Oder tanzen. Letzteres ist überhaupt der Grund, warum ich auf den Partys auftauche. Zum Tanzen. Hab ich meiner Psychiaterin auch gesagt.
Findet ihr nicht auch, dass tanzen ist wie ausbrechen? Man macht ein paar Schritte und verschmilzt mit dem Rhythmus. Der Körper fließt einfach in die Musik und hebt einen heraus aus der Welt. In eine neue, in der nur noch der Klang wichtig ist und die Bewegung. Und alles zusammen ist Freiheit.
Das war eine sehr coole Begründung, fand ich. Aber leider hat sie mir nicht ganz geglaubt. Und leider hatte ich an diesem Nachmittag einen echt beschissenen Morgen hinter mir. Wieder mal Schluss gemacht. Er mit mir. So ist es immer. Ich weiß nicht mal mehr seinen Namen. Weiß nur, dass ich nicht mal geweint habe, weil ich es zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr anders erwartete. Trotzdem gab es damals wie heute immer noch einen Rest Hoffnung, der an diesem Morgen mit einer stupiden WhatsApp Nachricht zerstampft wurde.
Ich vermisste nicht ihn. Ich war auf Entzug. Sofort. Und das brachte mich dazu, zu viel zu reden. Weil die Tante auf dem Drehstuhl die einzige war, die zuhörte. So eine Scheiße.
Jedenfalls erzählte ich ihr in dieser Umnachtung tatsächlich, was der zweite Grund war, feiern zu gehen. Die Kerle. Ja klar. Ihr seid nicht überrascht.
Ich nehme das was ich brauche auch von Mädchen, aber von ihnen bekomme ich es fast nie. Kein Wunder, dass ich nur die eine Freundin habe und die kaum sehe.
Es ist dieser eine Moment, ab dem alles gelaufen ist, von dem ab ich gefangen bin und kein Verstand und keine Moral der Welt mich mehr davon abhalten kann, mehr zu bekommen. Dieser Moment, in dem es aufglimmt in ihren Augen. Das Ich will dich.
Ich bekomme Gänsehaut.
Am Anfang habe ich noch aussortiert, nach dem Lustmolch-Ichwilldich und dem tieferen Faszination-Ichwilldich. Aber letztere hab ich mittlerweile alle verheizt. Und seit ich weiß, wie es ist, damit zu leben, kann ich nicht mehr ohne. Also ignoriere ich den Lustmolch Beigeschmack. Blende die Gier aus. Und lasse mich hineinfallen.
Großer Fehler das zu erzählen. Dr. Strauber stürzte sich darauf wie ein toupierter Geier (diesen Vergleich verdankt sie sich selbst, mit dieser Frisur). Es war so ein herrlich rundes Bild. Alles so logisch. Von meiner Geburt an, der Ablehnung und Abgabe meiner Eltern, übers Kinderheim bis zu den höchstens jährlich wechselnden Pflegefamilien, (ich hab mir echt Mühe gegeben, ja?!) deren Namen meinem Gedächtnis entfallen sind. Entfallen wurden. Ups. Na ja, bis auf die letzten, aber lassen wir das.
Jedenfalls malte sie ein wunderbares Bild meines Lebens aus Ablehnung und Alleinlassens vor Augen, das hervorragend zu meinem jetzigen Verhalten passte. Gott, war das alles so zusammenpassend wie der Stecker in die Dose. Und, meine Güte, wie einfach, dass ich da nicht selber drauf gekommen bin?
Ehrlich gesagt, war ich entsetzt, dass ich es nie so in einen Kreislauf gesetzt hatte. Alles in konkrete Verbindung gebracht. Ja, ich gebe es ja zu, mir ging ein Licht auf. Und wie ich schon sagte: Ich war verzweifelt an diesem Tag und hätte alles genommen, was mir Heilung versprach. Aber die Wahrheit ist, dass blöde Sprichwörter wie „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“ eben nur das sind: Blöd und Geschwätz.
Ich hatte einen Sonnenaufgang von Erkenntnis und verließ euphorisch grinsend das Gebäude. Aber es verging ein Tag und zwei und drei. Eine Woche. Und dann saß ich wieder bei ihr und als sie mich fragte, wie es mir denn heute ginge, schwieg ich. Sie fragte es, als hätte sich etwas verändern müssen. Doch in Wahrheit wusste ich zwar jetzt, wieso ich tat was ich tat. Reagierte wie ich reagierte. Aber es hatte mir in keinem Fall geholfen. Ich brauchte die Blicke immer noch. Die Worte. Die Berührungen. Es zerriss mich beinahe. Denn ohne jemand, der mich damit fütterte, blieb nur ein Loch im Bauch. Von dem ich nicht zugeben wollte, dass es an der Stelle saß, an der andere vermutlich ein gesundes Herz besaßen.
Ich fühlte mich wie Lara Croft, der man gerade gesagt hatte, dass sie nur eine Figur in einem Spiel war. Programmiert und ohne jede Selbstbestimmung. Das Wissen darum änderte nichts. Sie würde immer noch ferngesteuert dem Spieler ausgeliefert sein, denn sie war nur Figur, nicht Programmierer. Und auch ich folgte noch immer meinem Überlebensprogramm und spielte das Spiel der Spieler.
Von da an ging ich nicht mehr zu Dr. Strauber. Ich redete mit Percy, meinem Kater. Und Ella, meiner einzigen Freundin. Die 200 km weit weg wohnte. Internet sei Dank. Und mit den Jungs, die mich wollten. Die gab es immer. Eben so lange, bis zum fünften, sechsten Date. Spätestens da wurde auch dem Dümmsten klar, dass ich weder eine Hohlbirne, noch eine Partyqueen noch eine Nymphomanin war. Und, Überraschung, so wie ihr am Anfang, sahen sie eines davon alle in mir. Und etwas anderes, etwas mehr Ich, wollten sie nicht.
Was das ganze Drama jetzt soll? Achso, ich sollte ja schreiben um etwas rauszulassen. Diesen Rat von Dr. Strauber hab ich aus der Versenkung hervorgeholt, weil es jetzt wirklich etwas zum Rauslassen gibt.
Ich würde jetzt gerne die Geschichte von dem einen Jungen erzählen, der mich liebte wie ich war und mein Herz heilte. Und wenn sie nicht gestorben... und so weiter. Wirklich. Würde ich gern. Wäre aber gelogen. Ach und, bevor ihr euch falschen Erwartungen hingebt: Es wird auch keine Geschichte, in der ich entdecke, dass irgendeine Superkraft an all meinen Problemen schuld ist, oder sich alles dadurch klärt, dass ein fieser Fluch auf mir lastete, der, einmal gebrochen, mich als Prinzessin Wonneproppen zurücklässt.
Stattdessen wird es die Geschichte von meiner Flucht. Von dem Kater auf dem Beifahrersitz. Von Unfällen. Vom Jungen, der mich nicht mal mit der Zange angefasst hätte, weil er mich für den Teufel in Person hielt. Und natürlich von Irma.
Prompt: Flucht