Sie wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Ihre Hand lag noch immer auf der Türklinke. Gänsehaut prickelte über ihre Fingerspitzen den Arm hinauf. Und über die Schulter den Rücken hinunter. Valerie schauderte.
Einen Moment überlegte sie, die Tür ins Schloss zu ziehen, aber das könnte ein verräterisches Geräusch verursachen und sie außerdem bei ihrer Rückkehr aufhalten. Sie nickte zufrieden. Die Tür blieb angelehnt.
Dann schlich sie vorwärts. Ihre bloßen Füße vorsichtig absetzend. Es dauerte quälend lange, bis sie endlich den oberen Absatz der Treppe erreicht hatte. Aufatmend griff sie nach dem Geländer, spähte den nächtlichen Flur entlang und versuchte die Türen zu erkennen. Kaum möglich. Und dennoch hatte sie im Kopf ein genaues Bild. Glänzender Stahl und elektronische Schlösser. Hastig strich sie sich über die nackten Arme. Alles kribbelte.
Gerade als sie den Fuß auf die erste Stufe schob, hörte sie es: Ein dumpfer Aufprall. Etwas klickte über den Boden. Krallen!
Violet riss den Kopf herum, doch ihre Augen durchbrachen die Finsternis nicht. Die Schritte kamen näher. Pfotenschritte. Und obwohl es kein Licht gab, dass sie zum erglühen bringen konnte, wusste sie mit einem Mal, dass Raubtieraugen auf ihr ruhten.
Einen Schrei unterdrückend, raste sie los. Wetzte die Stufen hinab, verfing sich in ihrem langen Nachthemd und stolperte die letzten Stufen hinab. Valerie verlor das Gleichgewicht, knallte gegen die Wand und fiel vornüber. Nur ihren schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass sie keuchend auf den Händen landete.
Verdammt! Verdammt!
Sie verharrte reglos. Lauschte nach oben.
Zehn Sekunden. Zwanzig. Angestrengt zählte sie weiter. Aber alles blieb ruhig.
Kurz überlegte sie, umzukehren. Das ganze Vorhaben aufzugeben und zurück ins Bett zu schleichen, brav zu schlummern wie Nico und Lina. Aber ihr Bauchgefühl zog sie wieder auf die Füße und lenkte ihren Blick nach rechts.
Sie war bereits so nah. Auch diese Tür war nur ein Schemen, aber sie wusste, was dahinter lag. Der Tresorraum.
Valerie atmete einmal tief ein und aus, warf einen letzten Blick nach oben und huschte vorwärts.
Natürlich besaß auch dieser Zugang ein elektronisches Schloss. Sie musste nur den richtigen Zahlencode eingeben. Valerie schloss die Augen und legte eine Hand auf das Schloss. Sie musste nur tief in sich hinein horchen, in das Gerät hineinhorchen und dann...
Sie drückte die Klinke herunter.
Knackend glitt die Tür zur Seite.
Sobald der Spalt breit genug war, quetschte sich Valerie hindurch und tapste voraus tastend zum Tresor. Als sie die kühle Metalloberfläche gegen ihre Finger stieß, grinste sie siegessicher. Wieder schloss sie die Augen und konzentrierte sich. Die Zahlenkombination würde zu ihr kommen.
Lächelnd schob sie die Finger in Vertiefung im Rahmen und zog.
Mit einem Zischen klappte die Tür ihr entgegen. Licht blendete ihre Augen.
Ohne zu zögern griff Valerie zu.
Mit einem Mal flammte Licht auf, tauchte den Raum kalte Helligkeit und Valerie zuckte erschrocken zurück. Sie wirbelte herum, unfähig etwas zu rufen. Zu sagen. Denn ihr Mund war gänzlich mit dem riesigen Bissen Fleischwurst verstopft, den sie gerade abgebissen hatte.
„Was treibst du denn hier mitten in der Nacht, Miss Heimlichkeit?“, fragte ihr Papa.
Sie kaute und schluckte und schob vorsichtig die Fleischwurst in ihrer Hand zurück in den Kühlschrank.
„Na? Was ist?“, grinste ihr Vater verschlafen.
Sie grinste zurück.
Miss Heimlichkeit. Das gefiel ihr.
Prompt: Heimlichkeit