Stunden vergingen, Radu blieb wo er war. Erst konnte er es selbst nicht ganz begreifen. Doch als er hatte gehen wollen, hatte die starke, leicht verschwitzte Hand seine festgehalten und ihn daran gehindert. Und dann hatte er auf dem Diwan gesessen. Vor aller Augen. Einfach so, weil der Herrscher ihn dorthin gesetzt hatte. Und einfach so, hatte er von den Süßigkeiten genommen, die ihm hingehalten worden waren und von dem Tee getrunken, welcher ihm gereicht worden war. Nach einiger Zeit hatte er sich immer noch unwohl gefühlt neben dem Herrscher zu sitzen, doch dann hatte er festgestellt, dass er es irgendwie geschafft hatte, den winzigen Funken Interesse in weit mehr zu verwandeln. Denn jedes Mal wenn der Herr ihn nun ansah, lächelte er kurz und brauchte jedes Mal länger sich wieder abzuwenden und den anderen Gästen zu, die ihm immer noch vorgestellt wurden. Radu kam es vor, als wären es hunderte junger Leute.
Schließlich war aber auch dieser ganze Zeremonienkram vorbei und alle schienen aufzuatmen. Die Fenster wurden weit geöffnet. Die Vorhänge bauschten sich, leider sorgte das schwüle Wetter nicht gerade für Abkühlung. Aber immerhin konnte der ganze gestandene Mief abziehen. Der Herrscher erhob sich und mit ihm, alle die bei ihm gesessen hatten. Außer Radu, der das geheime Zeichen wohl verpasst hatte. Bevor jedoch jemand ihm in die Seite stechen konnte oder wieder am Arm zerren, hielt der Herrscher ihm die Hand hin, er sah ihn nicht einmal an, hielt sie nur mit der Innenfläche nach oben. Radu legte seine Hand hinein und stand auf. Zucker rieselte von seinem Gewand zu Boden. Er war so aufgeregt gewesen, da war etwas hinabgefallen.
„Trinkt, esst“, befahl der Herrscher und streckte sich ein wenig, „geniesst meine Feier.“ Er sah sich um und warf Radu einen kurzen Blick zu: „Amüsiert euch.“ Dann führte er seine Eroberung hinaus. Die Gäste wichen ihnen aus und jetzt, nachdem klar war, dass hier niemand hingerichtet wurde heute, sondern alle nur vorgestellt worden waren, zu welchem Zweck auch immer, durfte auch jeder Besucher frei herumlaufen und die Anlagen erkunden.
„Amüsierst du dich, mein Schöner?“, wollte der Herr von Radu wissen.
Radu lächelte verschmitzt: „Jetzt schon.“ Was die Wahrheit war.
Der Herrscher spazierte weiter und wählte einen Weg entlang vieler Rabatten um einem Teich mit aufwändig gestaltetem Brunnen. Eine Voliere stand in der Nähe, doch sie war geöffnet und die Pfauen spazierten herum, Papageien flatterten hin und her, Finken zwitscherten. Sie wussten, wie Radu, wo sie es gut hatten und kehrten gern zurück in ihren goldenen Käfig, der sie nachts vor den Katzen und Mardern schützte und in dem sie immer etwas zu Fressen bekamen und ihre Jungen aufziehen konnten. Ein sorgenfreies, ein sicheres, ein reiches Leben. Eines, um sich den anderen Dingen widmen zu können. Ein Privileg, welches nicht selbstverständlich war.
Auf ihrem Weg schritten sie nebeneinander her. Radu hatte keine Ahnung, ob der Herr ein Ziel hatte, oder nur spazieren wollte. Doch plötzlich packte Radu den Mann am Arm, zerrte ihn zu sich und hielt ihn somit davon ab weiterzugehen. Der Herrscher stolperte den Schritt unelegant und hielt sich an Radu fest.
"Was soll das?", fragte er dröhnend, jedoch nicht erbost.
Radu sank auf den Boden. Der Weg war mit Steinplatten ausgelegt, viele Hände verrichteten stets Arbeit an ihnen, um kein Unkraut in den Spalten spriessen zu lassen. Doch Radu sank nicht vor dem Herrscher in die Hocke, sondern umschloss die Sandale des Mannes. Dieser sah nun an sich herab und auf seinen Fuß. Er hatte immer noch keine Erklärung erhalten.
Radu hob den Fuß vorsichtig an. Darunter hatte sich eine winzige Schlange versteckt. Sie war einfach über den Weg gehuscht, in einem atemberaubendem Tempo und hatte sich unter den Schuh des Herrschers geflüchtet. In den Schutz, in den Schatten und aus purer Angst, dass die Riesen sie fressen könnten. Radu nahm das Tierchen in beide Hände und kam hoch. Die Schlange bewegte sich in seiner Hand und schließlich wand sie sich um seinen Zeigefinger, einmal, zweimal, länger war sie nicht. Sie züngelte nun auf Augenhöhe mit dem Herrscher und Radu.
"Was ist das?", wollte der Herr wissen.
"Eine Natrix, Herr, eine Natter. Sie ist ungiftig für uns." Er hob die Hand seinem Gegenüber unter die Nase und lächelte die Schlange an. Er fand sie niedlich.
Der Herrscher lächelte nun ebenfalls, allerdings den jungen Mann vor sich an. Seitwärts machte er ein Zeichen, welches von Radu unbemerkt blieb. Ihm drohte von dem Mann keine Gefahr.
Radu entließ die Natter ins Gras neben dem Weg, wo sie unter einen Stein huschte.