Im Saal traf er auf unzählige andere wunderschöne Menschen in feinsten Gewändern. Sie alle liefen unbeholfen auf ihren modischen Absätzen herum. Selbst Radu konnte bei einigen nicht klar entscheiden, ob sie Frauen oder Männer waren. Lose standen sie beisammen, flüsterten miteinander, warfen gelegentlich einen Blick zu den Gärten, doch an jedem Ein- und Ausgang standen bewaffnete Krieger. Ein paar Dienstboten reichten Erfrischungen dar und es kamen immer mehr Leute hinzu. Noch ein paar hübsche, junge Menschen, viele adelig, manche Sklaven, wie Radu bald herausgehört hatte. Doch auch andere Besucher kehrten ein, nahmen Platz in den großen Kissenburgen, auf den Bänken, an den Tischen. Es waren prächtig gewandete Leute: Edelleute. Kaufleute aus fernen Ländern, zu erkennen an ihren unpassend wirkenden Kleidern. Gelehrte mit Roben und Hüten spazierten herein und viele weitere Gäste. Mit ihnen mehrten sich die Gerüchte. Radu wusste bald nicht mehr was er glauben sollte: Handelte es sich bei dem fürchterlichen, neuen Herrscher nun um einen sehr klugen, strategisch allen Feinden überlegenen Eroberer, der gerecht war und auf seine weisen Ratgeber hörte und viel Wert auf Poesie und Künste legte? Oder handelte es sich doch um einen makaberen Dämon, dessen Blutdurst ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht hatte und der raubte und mordete und die Köpfe seiner Gegner aufspießen ließ, und die ihrer Kinder auf silbernen Tabletts darbieten? Und warum war Radu hier?
Als der Herrscher endlich eintraf, war Radu noch immer keinen Deut schlauer. Er wusste nur, dass es sich bei dem Herrscher um niemand „Neues“ handelte, der den ehemaligen Herrscher ermordet hatte, um sich des Thrones zu bemächtigen. Es handelte sich um einen seiner Söhne, den er speziell ausbilden hatte lassen und der nun zu einem besonders geeigneten Nachfolger herangewachsen war. Soweit die Theorie.
Alle wurden nun dem Mann vorgeführt, vor dem sie alle so die Pantoffeln voll hatten. Und als Radu an der Reihe war, seinen Platz in der Schlange verließ, als sein Name aufgerufen wurde, da bemerkte er, dass der junge Mann, gerade erst volljährig geworden womöglich, ziemlich menschlich gelangweilt aussah für einen Herrn mit so viel Ruf. Mit einem Ruf der so dick und voll geschwollen war, dass er platzte. Und was war der Mann in Wahrheit, jemand der sich hier weg wünschte. Radu sank brav vor ihm und seinem Diwan zu Boden. Der Stoff raschelte. Radu hoffte es würde das Pochen seines Herzens überdecken. Der Blick des Herrschers maß ihn kurz und zeigte einen Funken Interesse, doch er nickte nur und wartete auf den nächsten Namen.
„Mein Herr?“
Gefühlt alle Blicke richteten sich auf Radu. Wer wagte es zu sprechen? Den Herrscher anzureden, ohne Aufforderung? Aufstehen und zur Seite abgehen, so lief das hier. Eine Wache kam vor und ergriff Radu am Arm und zischte warnend: „Scht.“
Radu blinzelte erst die Wache, die ihn auf die Füße zog und dann den Herrscher an. Der Herrscher lächelte amüsiert.
Radu befreite seinen Arm und Ärmel und fiel schnell wieder auf die Knie. Er versuchte es einfach noch mal: „Mein Herr, würdet Ihr mich anhören?“
Der Herr lehnte sich vor: „Habe ich dich aufgefordert zu sprechen?“ Es klang wie eine Fangfrage.
Radu überlegte nicht lange: „Euer Blick, Herr, ihr habt es mit Eurem Blick getan.“
Nun lachten nicht nur der Herrscher, sondern auch ein oder zwei seiner Ratgeber.
„Würdet Ihr mich anhören? Bitte.“ Radu hob den Kopf.
Der Herr hob die Hand generös: „Du bist frech, aber nicht unhöflich: Rede, mein Schöner.“
Radu lächelte, senkte aber seine Stimme, als er bat: „Ich möchte nicht ‚nach Hause‘ geschickt werden, Herr. Bitte, darf ich hier bleiben?“ Als er Luft holte und noch mehr sagen wollte, in der Sorge, er könnte unterbrochen werden, unterbrach der Herrscher ihn laut.
„Weggeschickt?“ Er richtete sich auf und setzte seine Füße, die in lächerlich abgenutzten Sandalen steckten und alles andere als prunkvoll waren vor Radus Nase auf den mit einem Mosaik gefliesten Boden. „Wer versucht dich fortzuschicken?“ Der Mann sah sich auffällig zornig im Raum um. „Nenn mir seinen Namen.“ Er lehnte sich zur Seite und umschloss mit einer Hand den Knauf seines Dolches am Gürtel. „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand hinter meinem Rücken“-
Bevor er aussprechen konnte und Radu jemand unglücklich machte versehentlich, korrigierte Radu mit beiden Armen in der Luft wedelnd: „Das heisst ich bin nicht hier, weil Ihr heute die Absicht habt mich fortzuschicken?“
Der Herrscher stockte. Aber nicht weil er unterbrochen worden war. Sondern weil er den jungen Schönling mit großen Augen anstarrte und dann einfach aufstand. Er reichte ihm die Hand: „Radu? Nicht wahr?“
Der junge Mann nickte.
„Radu, ich will dich gewiss nicht fortschicken.“
Erleichtert ergriff er die Hand des Herrschers.