Der Herrscher holte tief Luft, sein Blick glitt zu seinem Bein, welches weit entblößt war. Es zeigte gebräunte Haut. Radu folgte dem Blick, der helle Verband aus Leinen wirkte wie ein Makel. „Dein Bruder war furchtbar. Und als ich dich gerade kennenlernte, dachte ich, nein, hoffte ich du wärest genau das Gegenteil von ihm. Schön von Angesicht und ebenso schön in deinem Herzen.“ Er sah auf, seine Augen blitzten erneut, aber diesmal war darin kein Interesse, nur Wut. „Aber du hast mich getäuscht.“
Radu sah dem Herrn weiter ins Gesicht und wartete auf den Hinrichtungsbefehl.
„Du bist noch schlimmer als er. Du hast mich verführt, mit all dieser Schönheit bist du noch fürchterlicher als er es je sein könnte. Du hast mich hier herausgelockt und versucht mich umzubringen. Aber du bist ein katastrophaler Attentäter, ein lausiger Spion und ein minderwertiger Prinz.“
Es gab nichts, was Radu je Schlimmeres gehört hatte über sich. Mut kehrte in ihn zurück. „Wie bitte?“, entfuhr es ihm und nun hob er trotzig das Kinn. Mehr als sein Leben verlieren konnte er ja nicht mehr. „Ich höre wohl nicht richtig.“ Das sagte seine Mutter sonst immer, wenn er ihr von seinen wilden Phantastereien erzählte und Märchen vorlas. Sie meinte dann immer die Geschichten seien unrealistisch. Was ja auch stimmte: es waren Märchen.
Die Umstehenden senkten die Köpfe, es wagte sich niemand ihn darüber zu belehren, dass es sich nicht gehörte so mit dem Herrscher zu sprechen. Eben jener fuhr jetzt in die Höhe und streckte die Hand aus, er ließ sich seinen Dolch reichen.
Gut, so wollte er es höchst selbst beenden. Radus Augen funkelten gewiss inzwischen ebenso aufgebracht wie die des Herrschers. „Nicht ich habe Euch hier heraus gebracht, Ihr habt mich geführt und mit Verlaub, nicht ich habe Euch versucht anzufassen, Ihr seid mir ungebührlich nahe getreten. Was habt Ihr denn erwartet? Dass ich mich nicht zur Wehr setze, wenn mich irgendjemand einfach“-
Zum ersten Mal hörte er den Herrscher nun seine Stimme erheben. „Ich bin nicht irgendjemand", donnerte dieser.
Sie schwiegen sich an.
Radu nickte nach einer Weile, in der er mehrfach durchgeatmet hatte. Noch hatte ihn der Mann nicht niedergestochen. „Ihr habt Recht, Ihr seid mein Herr und Gebieter.“ Radu sah an ihm herab. Sah das aufgebrachte Atmen. Er sah wie diese orangene Tinktur den Verband durchfärbte. Aber wenigstens war es kein Blut. Er sah wie sein Herrscher fest auf beiden Beinen stand. Es würde ihm wohl kein nachhaltiger Schaden entstehen. Nun keiner wie seiner, tot blieb in der Regel sehr nachhaltig tot. „Ich bin der Pfau an eurem Hof, Herr, der mit euch durch den Garten spaziert. Ich bin der Fink in eurem Käfig, Herr, der nur das Singen und Dichten kennt. Dem nie nach mehr verlangte. Ich bin die Natter unter eurer Sandale, die Schutz sucht in eurem Schatten und zu klein und unbedeutend ist, um euch je ernsthaft zu verletzen, Herr.“ Erst jetzt senkte er den Blick zu eben jenem Schuh. „Ich bin nur Radu, ich bin Irgendjemand.“
Diesmal schienen selbst die Tiere in der Umgebung zu schweigen. Sogar das Plätschern des Brunnens war still geworden.
Radu wagte es den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Er sah, wie der Dolch in der Scheide verschwand und der Herrscher den gesamten Gurt abnahm. „Steh auf.“
Radu tat wie ihm befohlen war. Er schluckte und ließ es diesmal geschehen, dass der Herrscher nah an ihn heran trat und unter seinen Armen hindurch griff. Er spürte die Hände, spürte das Leder und dann einen kräftigen, seinen Bauch einengenden Zug. Er blinzelte heftig.
Der Herrscher trat einen Schritt zurück. „Eine Ohrfeige hätte es auch getan“, knirschte er.
Er verstand noch immer nicht. Als er an sich herab sah, lag um sein schönes Gewand der Dolchgurt. „Herr?“
„Trage ihn stets, Radu. Es soll mir immer eine Erinnerung sein, dass auch ich Benehmen habe. Und dass auch ich mich in Höflichkeit und Zurückhaltung üben muss.“ Er wandte den Kopf dem weisen Mann zu: „Nicht wahr? Das gehört doch zu den Tugenden? Die, über die kein König erhaben ist? Lauteten nicht so die Verse?“
„Ja Hoheit, schön, dass Ihr es behalten habt.“
Radu versuchte den Dolch nicht zu berühren, was schwer war, denn er war unter seinem Ellenbogen platziert. Ein Diener kniete vor ihm nieder und hielt ihm seine Pantoffeln hin.
Was passierte hier gerade?