Der Herrscher hatte nun lange überlegt und geschwiegen, als er sich nun auf eine Bank setzte. Sie war ein Geschenk gewesen und der Mamor stammte aus einem fernen Land. Er fühlte sich trotz der Hitze des Tages kühl an unter Radus Fingern. Er setzte sich ebenfalls und bemerkte, dass etliche Wachen und Diener ihnen gefolgt waren. Doch sie standen in einem höflichen Abstand, meist mit dem Rücken zu ihnen, um ihrem Herren genügend Privatsphäre zu geben.
„Dein Vater“, fing der Herrscher nun an und er klang bemüht ruhig.
„Ja?“ Radu erwartete eine vollständige Frage.
„Und dein Bruder.“
Radu blinzelte und nickte langsam.
„Sowie deine Mutter.“
Radu sah sich um und zog dann ein Bein an, den Fuß aus dem Pantoffel und auf den Stein. Er legte seine Arme darum und lächelte: „Hmmh?“
Der Herrscher sprach gedehnt weiter: „Sie alle waren Geiseln meines Vaters?“
Radu überlegte: „Schätze schon.“
„Du schätzt?“
Nach kurzer, aber sehr sorgfältiger Überlegung ergänzte Radu: „Ich war noch ein kleines Kind, Herr, als ich herkam und mein Vater, als auch mein Bruder wurden wieder nach Hause geschickt.“
„Natürlich, ihnen wurde die Freiheit geschenkt“, sinnierte der Herrscher und legte eine Hand ans Kinn, dann lehnte er sich zurück und warf Radu einen Blick zu. „Und du bist noch hier?“
„Ja. Wie man sieht.“
Der Herrscher blinzelte: „Frech, aber nicht unhöflich“, wiederholte er seine Worte von vorhin und lächelte. „Nun. Warum bist du nicht mit ihnen gegangen?“
Radu legte den Kopf schief, er sah zum Brunnen, entdeckte nicht nur Vögel die darin eintauchten, sondern auch riesige, leuchtende Fische, die auftauchten und dann wieder verschwanden. Er ließ sich mit der Antwort Zeit. Dann summte er verträumt: „Weil ich hier zu Hause bin.“ Das war leichter als sich zu fragen: Ob er je ein Gefangener gewesen war oder ob er je offiziell freigelassen worden war. Und wenn ja, warum sein Bruder bei seinem Abschied nichts davon gesagt hatte.
Der Herrscher nickte und rückte näher. „Das freut mich zu hören. Denn es ist ja auch mein zu Hause, mein Schöner.“
Was dann geschah war ein Reflex. Keine bewusste Handlung, Radu wusste nicht wie ihm geschah. Er war blutjung, fühlte sich von der Aufmerksamkeit geschmeichelt und auch ein wenig von diesem Lächeln und dem Blitzen in den Augen des Herrschers verführt. Doch das dieser so weit ging? Radu hatte nicht einmal gewusst was weit bedeuten würde, bis er es spürte.
Die Hitze des anderen Körpers, trotz der Kleidung und des prächtigen Gewandes wurde spürbar an seiner Seite. Die trainierten Muskeln unter der Kleidung waren angespannt und hart. Das Bein neben seinem Schenkel und dem aufgestellten Fuß war so nah, dass nichts zwischen sie passte. Keine Hand, kein Blatt. Radu sah zuerst auf den Stoff neben sich, dann sah er die Hand kommen. Dieselbe, die ihn geführt hatte aufzustehen und sich neben ihn zu setzen. Eine Hand mit ein paar rauen Stellen in der Innenfläche, einem Tintenfleck am Daumen vom Schreiben und einer Narbe, womöglich vom Schwertkampf. Eine kräftige Hand, mit warmen, langen Fingern. Die nun an dem Knie vorbei griff. Radu hatte sein Bein umfasst und das Kinn darauf abgestützt. Doch nun fuhr er hoch, als die Hand ihn zwischen seinen Beinen berührte. Da war viel Stoff, der ihn schützte, doch die Berührung kam überraschend und er hätte nicht einmal sagen können ob sie willkommen gewesen wäre, hätte er die Absicht verstanden gehabt.
Radu stieß den Arm beiseite, in dem sein Fuß vom Marmor rutschte, er sprang auf, ließ den Pantoffel liegen und packte den Dolchknauf. Dieser ragte heraus, wie ein Symbol. Erst wenige Wimpernschläge später erkannte er, was er tat. Doch ihm erschien es erst einmal als die einzige richtige Reaktion. Griff der Mann ihm in den Schritt und drückte kurz prüfend zu, so konnte er dies genauso. Ehe er es sich versah, schrie der Herrscher durch zusammengekniffene Zähne auf und starrte auf die Klinge in seinem Bein. Radu hatte nicht gezielt. Er wusste doch nicht einmal mit so einem Ding umzugehen. Und plötzlich hielt er das Heft in der Hand und stach auf den Herrscher ein. Als er das merkte, ließ er den Dolch los und die Waffe fiel blutig zu Boden. Doch da rannte Radu schon um sein Leben.
Was hatte er nur getan?