Das Klacken meines heruntergefallenen Telefons holte mich zurück in die Realität. Hatte ich aufgelegt, oder hatte er es getan? Wie lange hatte ich hier schon gestanden?
Es war bereits dunkel geworden draußen und auch hier in meinem kleinen Appartement brannte kein Licht. Während ich mechanisch zu Lichtschalter lief, um diesen zu betätigen, hallten seine Worte in meinem Kopf nach. Und du würdest zusehen.
Ich hatte schon einige Drohanrufe von ihm bekommen – wilde, daher geworfene Sätze eilig ins Telefon gehaucht, oder aber bedacht gewählte Worte gezielt eingesetzt, um mich zu verunsichern, mich zum Aufgeben zu zwingen – doch dieser Anruf war anders gewesen.
Dieser Anruf war ein Versprechen.
Meine Hände zitterten, während ich meine Wasserflasche aufschraubte, zitterten als ich den Flaschenhals an meinen Mund führte und trank, zitterten als mir das Getränk aus der Hand und auf den Boden fiel, um alles auf dem Fliesenboden in Wasser zu tränken.
Ich blinzelte einen Moment, starrte wie gebannt auf die Flüssigkeit, welche sich immer weiter auf dem Boden verteilte und sie erinnerte mich an Blut.
Richys Blut...
Ich zuckte zusammen und schnappte nach dem Handy, was nur knapp einem Tod durch Wasserschaden entkam.
Halbherzig warf ich ein Küchentuch auf den nassen Fleck und schlurfte ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch fallen ließ.
Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, die Messenger App zu deinstallieren. Ich musste das Alles nicht durchmachen. Ich kannte sie alle nicht mal, wusste weder wer Hannah war noch wo sich Duskwood überhaupt befand. Ich hatte nichts mit all dem zu tun. Eine kurze Berührung und schon würde all der Horror der letzten Wochen in meiner Daten-Müll-Ansammlung landen.
Es würde so sein, als hätte all das nicht existiert.
Und ich hätte mein altes Leben zurück.
Am Anfang hatte sich alles wie ein Spiel angefühlt. Man hatte geschrieben, Rätsel gelöst, ein bisschen mit Daten jongliert – ein wenig Abwechslung von dem, was ich jeden Tag tat. Doch dann wurde es anders. Ich hatte realisiert, dass das kein Spiel war, dass da wirklich jemand verschwunden war und dass es dort Menschen gab, die dieses Mädchen mochten und vermissten. Das waren echte Menschen in echter Not und je mehr ich versuchte zu helfen, desto mehr wurde ich selbst ein Teil von ihnen. Mehr noch, ich hatte das Gefühl ihre Freundin zu sein, sie zu kennen, als würden wir uns jeden Tag sehen. Oft hatte ich mich dabei erwischt, mir vorzustellen, wie ich mit Lilly und Jessy im Café Regenbogen Eis essen würde, wie ich mich mit Dan streiten, oder mit Richy herumalbern würde...
Nichtsdestotrotz war ich hier und sie waren dort – in Duskwood – und damit gefühlt unerreichbar weit weg. Eine Illusion, die sich zu echt angefühlt hat. Eine Illusion von echter Freundschaft.
Und dann war da noch Jake.
Jake, Jake, Jake... und damit auch die Illusion von...
Seufzend startete ich mein Handy neu, was wohl beim Herunterfallen aus gegangen sein musste und ging durch die verpassten Nachrichten. Der Gruppenchat explodierte förmlich vor Nachrichten, Lilly hatte mich mehrfach versucht zu kontaktieren und dann gab es da auch eine Nachricht von Jake. Ich schluckte und öffnete sie sofort – wohlwissend, dass ich ihm damit wieder mal die höchste Priorität gab.
Jake: Wenn du jetzt aufgeben willst, kann ich es verstehen.
Das war alles, was dastand. Wenn ich jetzt aufgeben will... Kein wie geht es dir, kein bist du okay. Nein. Es war einfach nur dieser eine Satz.
Ich wusste, dass er es gut meinte und ich wusste auch, dass das seine Art war, mir zu zeigen, dass er wollte, dass es mir gut geht – aber es war nicht genug für diesen Moment. Wahrscheinlich wäre in diesem Moment gar nichts genug gewesen.
Der grüne Punkt neben seinem Namen zeigte mir, dass er online war, doch dieses Mal fehlte etwas. Die Euphorie. Das Glücksgefühl.
Das, was ich jetzt brauchte, war das Gefühl, dass ich mich auf ihn verlassen konnte – dass er da sein würde, wenn ich in Gefahr war, in richtiger, physischer Gefahr – das war etwas, was er mir nicht geben konnte, das wussten wir beide.
Ellie: Ich...
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich schreiben sollte. Er hatte mir die Möglichkeit gegeben auszusteigen. Ich würde einfach so diese App löschen und wäre sicher. Doch war das wirklich so einfach? Mein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, all das hinter mir zu lassen. Die Wahrheit war, dass das alles keine Illusion mehr für mich war - es war echt geworden. Alles war real.
Jake schien bemerkt zu haben, dass es mir schwer fiel zu antworten.
Jake: Du muss dich selbstverständlich nicht sofort entscheiden.
Jake: Ellie?
Es war beinahe lächerlich, wie sehr mein Herz mich verriet. Auch jetzt, angsterfüllt in meiner eigenen Welt, wollte alles in mir nur zu ihm.
Ellie: Jake...
Ellie: Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe.
Jake: Ich habe mir Sorgen gemacht. Das was du da gehört hast...
Jake: Das muss furchtbar gewesen sein.
Erst jetzt bemerkte ich, wie tränennass mein Gesicht war. Ich strich mir über die wundgeweinten Wangen, doch das machte es nur noch schlimmer.
Ellie: Das war es...
Ellie: Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ellie: Ich wünschte, du wärst hier.
Jake: Ich weiß.
Er schrieb etwas, löschte es aber wieder. Schrieb dann erneut.
Jake: Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist.
Jake: Ich habe den Täter falsch eingeschätzt.
Jake: Es tut mir leid, Ellie.
Ellie: Ich weiß...
Ellie: Weißt du...
Meine Fingerspitzen kribbelten, während ich meine nächsten Worte tippte. Es war riskant, aber es war die Wahrheit.
Ellie: Ich hätte längst aufgegeben, wärst da nicht du.
Ellie: Du bist der wahre Grund, warum ich das alles tue.
Ellie: Ich mag dich sehr, Jake, weißt du das?
Für einen langen, furchtbaren Moment, war da nichts. Ich starrte auf den Text, den ich gerade verfasst hatte – mein Herz in Form von drei Sätzen – und wartete.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ich ihm versucht habe zu vermitteln, wie ich fühlte. Doch er war vorsichtig – zu vorsichtig – so dass ich nie wusste, ob ich zu weit ging. Ich war eigentlich ziemlich talentiert darin, meinen Gegenüber zu lesen. Als Empathin verstand ich oft sehr schnell, wie Menschen tickten, was ihre Unsicherheiten waren, was sie fühlten. Einen Teil davon hatte ich immer irgendwie selbst gefühlt, doch bei Jake war es anders.
Er war reserviert und vorsichtig und seine Smileys und kleinen Zugeständnisse konnten alles bedeuten von kühler Berechnung bis schüchterne Verliebtheit.
Seit den ersten Sekunden, die ich mit ihm geschrieben hatte, wusste ich, dass mein Herz hier auf dem Spiel stand. Und dennoch konnte ich es einfach nicht sein lassen. Ich musste mit ihm reden, musste ihm helfen, sehnte mich nach jedem Gespräch.... Wieder und wieder und wieder.
Jake: Ich will nicht, dass du dich wegen mir in Gefahr begibst.
Jake: Unser Ziel war es, Hannah zu finden.
Jake: Doch ich wusste nicht, wie gefährlich es für dich sein würde.
Jake: Also bitte ich dich...
Jake: Entscheide dich.
Jake: Und dann gib mir Bescheid.
Jake: Ich warte auf deine Antwort, Ellie.
Dann war er offline. Wie immer sagte er alles und nichts und ging dann off.
Seufzend klickte ich mich schnell durch die Nachrichten der anderen. Jessy und Thomas waren wie versprochen, zusammengeblieben und würden derweil in Thomas' Wohnung übernachten. Lilly hatte die Polizei benachrichtigt, welche auch sehr schnell vor Ort gewesen war, Einzelheiten hatte sie jedoch noch nicht herausbekommen. Cleo und Dan waren nach wie vor sehr still.
Alle warteten auf Neuigkeiten.
Alle warteten darauf, dass dieser Spuk ein Ende hatte.
War wirklich Michael Hanson der Täter? Von der Statur her sah der Mann ohne Gesicht auf dem Video eher jung aus, aber das konnte ja auch täuschen. Dennoch sagte mir mein Bauchgefühl leise, aber sicher, dass wir mit Michael Hanson auf dem Holzweg waren.
Doch wer war der Täter dann?
War die Polizei schnell genug gewesen, um ihn zu schnappen?
Je mehr ich in meiner Wohnung, in meiner eigenen Welt saß, desto mehr hielt ich diese Ungewissheit nicht mehr aus.
Noch weniger würde ich es aushalten, wenn ich nun den Kontakt ganz abbrechen würde.
Von nervösen Füßen getragen, lief ich zu meinem Laptop und fuhr in hoch. Ich hatte es versprochen, das wusste ich, doch er hatte auch versprochen, dass niemandem etwas passieren würde.
Dan, Jessy und Richy ... er hatte sein Versprechen drei Mal gebrochen. Ich würde meines nur einmal brechen müssen.
Ich tippte Duskwood in die Suchleiste ein und fand heraus, dass meine Fahrt um die fünf Stunden mit dem Reisebus dauern würde. Ich kaufte online ein Ticket und checkt schnell nochmal, wie viele Vorlesungen ich verpassen würde, würde ich das jetzt wirklich durchziehen.
Tatsächlich tat ich dies aber nur halbherzig, schloss die Uni-Seite und begann eine E-Mail an Sally, meine Chefin, zu verfassen. Gott sei Dank hatte ich als Werksstudentin mehr als genug Überstunden, um ein paar Tage frei zu nehmen und in einer Woche hatte ich eh Urlaub beantragt, um meine Familie besuchen zu können. In Gedanken strich ich diesen Plan bereits.
Eine Tasche mit Sachen war sehr schnell gepackt und Sallys Antwort war nicht erfreut, aber einsichtig.
Ich erwägte kurz, Herrn Müller – meinem fünf Jahre alten Kromfohrländer- Hund – bei meiner besten Freundin zu lassen, fasste mir dann jedoch dennoch ein Herz.
„Es wird mal wieder Zeit für ein Abenteuer für uns beide, Herr Müller"
Er jappste freudig und ließ sich problemlos anleinen.
Meine kleine Wohnung lag sehr zentral in der Nähe des Busbahnhofs. Nieselregen zog über die dunklen Straßen und in meine Kleidung. Herr Müller schüttelte sich mehrmals verächtlich, gab sich aber mit ein paar Leckerlis zufrieden. Der Bus nach Duskwood würde an einigen Stationen halten, ehe er sein Ziel erreichte, also hatte ich viel Zeit meine Gedanken und meine Notizen zu sortieren.
Ich würde den anderen zunächst nichts davon sagen, dass ich in Duskwood war. Da ich in der Nachrichtenapp lediglich ein Urlaubsbild von den Nordlichtern hochgeladen hatte, wusste niemand wie ich aussah, was sowohl den Vorteil hatte, dass mir niemand der anderen den Kopf abreißen würde, sobald sie mich sahen als auch, dass auch der Mann ohne Gesicht ebenso nicht wusste, wer ich war. Ich konnte komplett inkognito recherchieren und würde so vielleicht noch viel schneller zum Ziel kommen, als ich es von der Ferne aus je könnte.
Und dann würde ich Hannah finden.
Und dann...
Dann was? Mit Jake glücklich bis ans Ende aller Zeiten werden?
Ich lachte innerlich selbst über diesen Gedankengang und beschloss gleichzeitig, mich aktuell nicht mit dem und dann zu beschäftigen.
Jake: Du hast deinen Standort ausgeschaltet.
Keine Frage. Eine Feststellung.
Ellie: Ja.
Einen Moment lang überlegte ich, es dabei zu belassen.
Ellie: Ich habe Angst.
Ellie: Ich will nicht, dass er mich findet.
Als ich meine eigenen Worte sah, wusste ich, dass sie wahr waren. Ich hatte fürchterliche Angst davor. Auch wenn das nicht der Grund war, warum ich die Standort-Funktion deaktiviert hatte – es war ein guter Grund. Ein legitimer Grund.
Jake: Das wird er nicht.
Ellie: Wie kannst du dir da so sicher sein?
Jake: Ich weiß es einfach.
Ellie: Ich habe Angst und du hast selbst gesagt, dass du ihn nicht richtig eingeschätzt hast.
Jake: Weil ich es nicht zulassen werde, Ellie.
Jake: Ich werde nicht zulassen, dass er dich findet.
Und während sein Status wiederrum von online zu offline wechselte, klopfte mein Herz so heftig, dass es mir fast durch die Brust sprang. Die Augen schließend genoss ich für einen Moment dieses verrückte Gefühl der Verliebtheit.
Herr Müller legte sanft eine Pfote in meine Hand, während eine ältere Dame in der anderen Sitzreihe missbilligend auf meinen Hund starrte.
Draußen wurde es immer dunkler und während die Lichter an mir vorbeizogen, wie ziellose Sternschnuppen, versuchte ich mir Duskwood vorzustellen. Jessy hatte mit mir zwar die Stadtführung gemacht, dennoch hatte sich für mich dadurch kein ganzheitliches Bild ergeben – im Gegenteil. Das Duskwood auf den Bildern hatte rein gar nichts mit dem gemeinsam, was sich mein Kopf zusammen gesponnen hatte. Keine Krähen, keine alten, abgewaschenen Backsteinhäuser, keine rostigen Gartentore – vielleicht hatte ich aber auch einfach zu viele Horrorfilme geschaut.
Dabei war das, dieses Kleinstadt-Idyll, was Jessy mir gezeigt hatte, vielleicht der richtige Horror.
Ich zog meine Beine an und versuchte es mir so gut es ging auf dem Sitz bequem zu machen. In ein paar Stunden würde ich in Duskwood sein und ob ich dann noch die Möglichkeit für ausreichend Schlaf hatte, bezweifelte ich.
Während Herr Müller leise schnarchte, wurde auch meine Atmung immer tiefer. Schon bald fielen meine Augen zu und ich hatte nicht die Kraft, meine Lider erneut nach oben zu stemmen – also schlief ich ein.