Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während ich einfach nur mich selbst anstarrte.
Nicht direkt mich selbst – aber das kleine Mädchen, was ich einmal war. Rote Haare, Sommersprossen und ein Grinsen, so breit, dass es kaum zu übersehen war – keine Frage, das war eindeutig ich auf diesem Bild, aber gleichzeitig fühlte es sich… einfach verkehrt an. Was machte ich auf einem Foto mit Hannah, Amy und Richie?
Ich kannte diese Menschen doch gar nicht richtig?
Und ich war doch auch noch nie zuvor in Duskwood gewesen, richtig?
Mein Magen drehte sich um, als ich mich versuchte daran zu Erinnern – hatte ich nicht selbst mal darüber nachgedacht, dass Duskwood einer dieser Orte wäre, in dem meine Eltern Urlaub machen würden?
Kraftlos ließ ich mich auf Jakes Stuhl fallen, ohne den Blick von diesem Foto abwenden zu können. Wenn ich mich versuchte daran zu erinnern, was ich in dem Alter gemacht hatte… war da einfach nichts. Ich hatte da noch nie wirklich drüber nachgedacht – vermutlich, weil es nicht unüblich war, dass man sich an Dinge aus frühester Kindheit nicht erinnern konnte, aber… wie alt war ich auf diesem Bild? Acht… neun Jahre alt? Daran müsste ich mich doch eigentlich erinnern können, oder?
Dass die Tür hinter mir sich öffnete und wieder schloss, bekam ich nur am Rande mit.
Mein Kopf wollte nicht aufhören nach einer Erinnerung zu greifen, ich erkannte mich auf diesem Bild und gleichzeitig war ich mir fremd, erkannte Nichts an der dargestellten Situation.
Du erkennst Hannah nicht wieder, oder?
Thomas‘ Stimme fragte leise wieder und wieder.
Nein, oder?
Ich erkannte sie nicht wieder, aber offensichtlich kannte ich sie…
Was zur Hölle war hier los?
„Ellie?“
Ich hatte Jake nicht bemerkt, aber natürlich war er derjenige gewesen, der vor einiger Zeit vom Frühstück holen zurückgelehrt war.
Wie lange hatte ich hier vor diesem Monitor gesessen?
Und warum fühlte sich alles so anders an, als zuvor. Wieso fühlte es sich gerade so an, als würde etwas Wichtiges zurück an seinen Platz rücken wollen. Was passierte hier gerade?
Wie in Trance drehte ich mich zu ihm um, sah ihn an, wie er da stand – den Einkauf noch in der Hand.
Jake kam mir furchtbar blass vor in diesem Moment.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich was sagen sollte.
„Was ist das?“, meine Stimme klang anders – irgendwie hohl, als hätte jemand das Licht in meinen Worten ausgeknipst. „Dieses Bild…“
Er stand immer noch einfach so da, sah vom Bildschirm zu mir und wieder zurück und wirkte dabei so, als hätte er ein Gespenst gesehen. Als würde jetzt das Schlimmste eintreten, was er sich vorstellen könnte.
„Jake“, flüsterte ich und begann mich in dieser vielsagenden Stille unwohl zu fühlen, „Bitte sag mir, was hier los ist…“
Langsam. Ohne mich anzusehen, setzte er sich auf die Kante des Sofas.
Noch vor einer Stunde hatten wir hier gemeinsam geschlafen – jetzt fühlte sich alles an, wie ein anderes Leben.
Ein anderes Leben. Nicht meins.
Denn das konnte ja nicht mein Leben sein, oder?
Das konnte alles nicht sein, richtig?
„Warum bist du an meine Sachen gegangen?“
Er stützte seinen Kopf in die Hände, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Warum, Ellie?“
„Ich… ich wollte doch nur den Tisch decken und dann ist meinen Blick auf dem Bildschirm hängengeblieben und überhaupt… was tut das gerade überhaupt zur Sache“; ich merkte, wie ich lauter wurde. Mein Herz klopfte wie verrückt, während mein Kopf immer noch nicht verstand, was genau sich hier gerade abspielte.
„Du hast Recht“, murmelte Jake und schüttelte den Kopf, dann blickte er auf, seine blauen Augen trafen auf meine. „Das war nur ein unnötiges Herauszögern dieses Gesprächs und all dem was folgen wird.“ Er schluckte. Für einen Moment sah es so aus, als wöllte er meine Hand nehmen, entschloss sich dann aber doch dagegen.
„Das bin ich auf diesem Bild“, versuchte ich zu rekapitulieren. Jake nickte.
„Hast du das aus Hannahs Cloud?“, wieder ein Nicken.
Soweit so gut, das hatte ich ja bereits selber vermutet. Trotzdem passte es nicht ganz zu seiner Reaktion.
„Hast du mir deswegen, das Arbeiten an der Cloud versagt?“, Schweigen, „Wolltest du das vor mir verheimlichen?“
Wieder keine Antwort.
„Wieso, Jake?“, flüsterte ich und spürte, wie mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog, „Ich dachte, wir arbeiten zusammen? Wieso sollte ich das nicht erfahren?“
Sein Blick blieb an mir haften. Selbst jetzt – schulderfüllt und blass wie eine Kalkwand – fiel es mir schwer ihn nicht zu berühren.
„Als ich beschlossen hatte, dich mit ins Boot zu holen, hatte ich keine Ahnung… Hannah und ich hatten ewig keinen Kontakt mehr gehabt, weil ich das nicht mehr wollte und als sie mich plötzlich kontaktiert hatte, hatte ich mir nichts weiter gedacht. Als ich gesehen habe, wie sie entführt wurde… ich habe mich so… hilflos gefühlt. Ich konnte nichts tun. Gar nichts. Ich saß vor meinem Bildschirm und konnte ihr nicht helfen, obwohl sie sich an mich gewandt hatte.“
Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut, dachte an Jessy und den Angriff auf sie, dachte an Richy…
„Du musst verstehen, dass ich in dem, was ich mache gut bin. Hilflosigkeit ist ein Gefühl, dass ich nicht kenne. Ich bin es gewohnt am längeren Hebel zu sitzen… noch dazu bin ich daran gewöhnt, rationale Entscheidungen zu treffen, doch dieser Moment, als Hannah vor meinen Augen verschwand… ich habe diese Gefühle kaum ertragen.“Ich nickte still, versuchte zu verstehen, was er mir versuchte zu sagen, doch in dieser ganzen Erzählung fühlte ich mich wie ein Zuschauer – der ich offensichtlich nicht war.
„Ich war verzweifelt“, fügte er hinzu, „ich habe mir lange eingeredet, dass das entschuldigt, was ich getan habe, aber…“, er sah auf seine Finger, ballte seine Hände zu Fäusten. „Es tut mir leid, Ellie…“
Alles in mir schrie zu ihm zu gehen und ihn zu trösten, aber irgendetwas in mir hielt mich auf.
„Was tut dir leid?“
„Ich hackte mich in Hannahs Dateien ein. Sie hatte mir so viel über sich erzählt, dass es ein leichtes war, ihre Passwörter zu knacken“, ungläubig schüttelte er seinen Kopf, „Da war so vieles… unwichtige Dinge, Zeitungsartikel, Berichte, Fotos…“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Es fällt mir aufgrund meines Berufes leicht, wichtige Dinge von unwichtigen zu unterscheiden. Das ist so eine Art… Bauchgefühl. Dieses Foto war aus Hannahs Cloud, doch es ist nicht das einzige Foto von dir, das sie besitzt.“
Ich schluckte. Mein Kopf fühlte sich an, als könnte er jeden Moment zerspringen.
„Kannst du sie mir zeigen?“
Er sackte noch mehr in sich zusammen. Ich konnte förmlich spüren, wie die Mauern, die ich nach und nach mühsam abgerissen hatte, wieder wuchsen. Er schüttelte den Kopf – meine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Ich habe die Bilder gesehen – sie waren in einer separaten Ablage auf ihrem PC gespeichert, nicht in der Cloud – und wusste sofort, dass diese Bilder wichtig waren. Nicht, weil ihr dort immer wieder in derselben Konstellation zu sehen wart, sondern weil es sich immer um dieselbe Jahreszeit handelte.“
„Sommer“, schlussfolgerte ich richtig.
„Ja, es waren vier Sommerbilder in Folge. Auf dem ersten muss Hannah um die fünf Jahre alt gewesen sein, dieses dort“, er deutete auf den Bildschirm, „ist das letzte, was es von euch allen gibt. Es war das einzige, welches sich ebenso auf der Cloud befand.“
Seine Finger fuhren über den Rand des kleinen Beistelltisches, der sich vor ihm befand. Jake wirkte weit weg. Erst jetzt fiel mir auf, wie müde er aussah.
„Das heißt…“, ich kam nicht weiter. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Gedanken nicht mehr zu Ende denken konnte. Vier Sommer, an die ich mich nicht erinnern konnte, hatten sich in meinen Kopf gebohrt und jedes Denken, jeden Funken einer Erkenntnis unmöglich gemacht.
Ein plötzliches Schwindelgefühl drückte mich schließlich auf den Boden, als meine Knie nachgaben.
„Ich verstehe gerade gar nichts mehr…“
Während mein Kopf angestrengt versuchte irgendetwas zu begreifen, füllte ein neues, unwillkommenes Gefühl mein Herz – ich fühlte mich hintergangen.
„Das heißt, du wusstest die ganze Zeit, dass ich Hannah kannte…“
„Ja.“
„Und du hast so getan, als wüsstest du es nicht…“
„Das ist auch richtig.“Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich darüber nachdachte, wie oft mich die anderen gefragt hatten, ob ich mich an irgendetwas erinnern konnte. Wie seltsam ich diese Frage einst gefunden hatte... Herrgott, ich kam mir so dumm vor…
„Wissen es die anderen?“
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Jake motorisch, „Richie… ich glaube er erinnert sich an dich, auch wenn ich nicht weiß, wie er so sicher sein konnte, dass du du bist. Ich glaube auch, dass er Jessica an seiner Vermutung hat teilhaben lassen.“
Ich wusste sofort was er meinte. Das Gespräch, was ich mitgelesen hatte, als Richie Jessy etwas von mir erzählen wollte.
Ausgerechnet er…
Plötzlich, während ich über alles noch einmal nachdachte, kam mir ein Gedanke, dem ich keinen Glauben schenken wollte, der mir dennoch mehr als alles Andere auf der Seele brannte.
„Jake?“Es war das erste Mal, dass er mich ansah.
„Mhm?“
„Du sagst, du hast die Fotos gesehen… von mir und den anderen… Das war bevor ich Teil des Ganzen wurde, oder?“
Langsam und ohne mich aus den Augen zu lassen nickte er. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer.
„Warst…“, meine Augen brannten, denn ich wollte diese Frage nicht stellen, auch wenn ich es musste. Auch wenn ich seinen Blick sah und die Antwort bereits kannte.
So war Jake eben…
„Warst du derjenige, der meine Nummer an Thomas geschickt hat?“, Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten – wollte es auch gar nicht.
Auch wenn ich mir selbst nicht mehr vertrauen konnte, so konnte ich doch wenigstens noch meinen Gefühlen vertrauen.
„Hast du mich in diese Situation hineingebracht, um dir dadurch einen Vorteil bei der Suche von Hannah zu verschaffen?“
Ich sah sehr wohl, dass es Jake leid tat – sah, dass er mich trösten wollte, dennoch glaubte ich ihm nicht.
Ich glaubte ihm plötzlich gar nichts mehr.
„Warum hast du mir nicht einfach genau das gesagt?“, hakte ich weiter nach, „Du hättest mich doch aufklären können, es den anderen erklären können. Das hätte alles einfacher gemacht, oder nicht? Wie soll ich helfen, wenn ich mich an nichts erinnern kann?“
Er strich seine dunklen Haare aus der Stirn, suchte nach Worten, bewegte seine Lippen, ohne etwas zu sagen.
„Ich kann dir das nicht sagen…“„Es ist mein Recht, die Wahrheit zu erfahren!“, ich hatte nicht gemerkt, wie laut ich geworden war, bis ich sah, wie Jake zusammenzuckte.
„Ich hatte recherchiert“, antwortete er schnell, „die Standart-Sachen eben. Wie du heißt, woher du kommst, was du mit Hannah zu tun hast… Ich bin auf einige medizinische Berichte gestoßen, die mit einem Fall zu tun hatten, der hier in Duskwood passiert war…“„Medizinische Berichte?“
„Es ging um Traumata und Verarbeitung und dissoziative Amnesien…“„Von was redest du?“
„Es ist im Endeffekt egal“, murmelte er und strich sich erschöpft über sein Gesicht, „Ich war total fertig nach Hannahs Verschwinden und wollte irgendetwas tun. Also suchte ich nach deiner Universität und schrieb einen einfachen Fishing-Virus, getarnt als Umfrage, wie man sie als Student öfter mal bekommt…“
Vage konnte ich mich an eine solche Mail erinnern, es ging um die Sauberkeit auf dem Campus. Tatsächlich kamen solche Mail so häufig rein, dass man irgendwann nicht mehr darüber nachdachte und diese Dinge einfach ausfüllte. Wenn ich genau darüber nachdachte, gab es bei dieser bestimmten Umfrage sogar noch einen Gutschein zu gewinnen – auch das war nicht unüblich gewesen.
Ich konnte förmlich fühlen, wie ich auf meinem Bett gesessen hatte.
Es war ein Sonntag gewesen – ich war mit Herrn Müller und meiner besten Freundin lange im Park unterwegs und hatte den ersten Sonnenbrand des Jahres im Gesicht gehabt. Wir hatten Wassermelone aufgeschnitten, und bis in die Nacht gequatscht. Die blöde Umfrage hatte ich nur nebenbei ausgefüllt gehabt.
Jetzt in diesem Zimmer mit Jake wollte ich einfach nur die Zeit zurückspulen. Zurück zu diesem Tag.
Zurück zu diesem Moment.
Ich wollte nur noch nach Hause.
„Du hast sie erschreckend schnell ausgefüllt“, er lachte freudlos, „und damit hatte ich deine Mail-Adresse, deine Telefonnummer und deinen Wohnsitz. Ich schickte Thomas unter Hannahs Handynummer deinen Kontakt – ein Trick, den man übrigens sehr einfach übers Internet machen kann. Tja und er hat dich dann sofort zur Gruppe hinzugefügt und dann ging das ganze Spiel los…“
„Das ganze Spiel“, wiederholte ich seine Worte, „War das alles ein Spiel für dich? All-In nur um Hannah zu retten?“
„Sie ist meine Schwester, Ellie!“
Die Verzweiflung in seiner Stimme ließ mich verstummen.
„Und ich kannte dich nicht, du hättest irgendjemand sein können…“
„Das bin ich aber nicht!“
„Das wusste ich nicht, okay?“, er sprang auf, lief ein paar Schritte auf mich zu, „Ich wusste nicht, dass ich mich…“
„Was Jake?“, mit zitternden Beinen erhob ich mich, „Du kannst es nicht mal aussprechen, oder? Du kannst nicht sagen, dass du dich in mich verliebt hast, weil das bedeuten würde, dass du zugeben müsstest, dass du Opfer deines eigenen Spiels geworden bist! Nicht nur ich bin auf dich reingefallen, sondern auch du, richtig!?“
Ein Schatten legte sich über sein Gesicht.
„Ich wusste, dass wenn wir deine Erinnerung zurück bekommen alles einen Sinn ergeben würde. Deine Erinnerung ist der Schlüssel zu all dem. Deswegen… habe ich dir Zugang zur Cloud gewährt und habe dich die verschiedenen Sachen selbst interpretieren lassen. Ich wollte deine Erinnerung triggern.“
„Hat ja super funktioniert“, meine Stimme triefte vor Sarkasmus, „Ich erinnere mich nach wie vor an nichts. Hätte ich dieses Bild nicht gesehen, würde ich wahrscheinlich noch immer glauben, dass du immer aufrichtig zu mir warst.“
Jake sah mich an, als hätte ich ihn geschlagen.
„Ich bin jetzt aufrichtig zu dir, Ellie.“
„Jetzt ist es aber zu spät!“
Stumme Tränen rannen über mein Gesicht, als ich hastig zu meinen Sachen griff. Wütend zerrte ich mir seinen Pullover über den Kopf und warf ihn achtlos auf den Boden.
Es war seine Schuld.
Ich war nur wegen ihm hier.
Und auch wenn ein kleiner Teil von mir ihn durchaus verstehen konnte, hätte er mich nicht anlügen sollen.
„Du hattest so viele Chancen die Wahrheit zu sagen, aber das wolltest du gar nicht, oder? Dein Plan war es nach wie vor, meine Erinnerungen zu triggern und so schneller Hannah finden zu können, richtig?“
Langsam schüttelte er den Kopf.
„Am Anfang war es mir leicht gefallen, dich anzulügen“, gab er zu, „doch du warst so… durchdringend. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Du hast mich ständig herausgefordert und aus dem Konzept gebracht. Es gab so viele Tage, die einfach furchtbar waren und dann fragst du mich aus heiterem Himmel was ich auf eine einsame Insel mitnehmen und alles fühlt sich plötzlich… so an, als würde alles gut werden, weißt du? Ich habe so oft darüber nachgedacht, wie es wäre mit dir zu sprechen, mit dir zu lachen… ich habe mich in deine Worte verliebt, Ellie. Nicht nur in die, die du mit mir geteilt hast, sondern auch die aus den Konversationen der anderen. Dein Verständnis für Jessica, die Empathie, die du jemanden wie Cleo gegenüberbringst und auch die Art wie du mit Dans Sprüche abblockst. Du schaffst es irgendwie in jedem Herzen einen Platz zu finden. Ich…“, er biss sich auf die Unterlippe, und wischte sich Tränen von den Wangen, „Es gab Momente, an denen ich einfach vergessen hatte, welche Rolle du eigentlich spielst. Es gab Momente, in denen ich mich einfach dem Traum hingegeben habe, dass wir zusammen sein könnten. Wie ein normales Paar. Doch als ich gemerkt hatte, wie sehr dich das alles verletzen würde und wie wenig du das verdient hast… konnte ich es nicht mehr rückgängig machen.“ Jakes Hand griff nach meiner und drückte sie. „Ich kann es nicht ungeschehen machen, Ellie. Aber ich würde es, wenn ich könnte. Du weißt nicht wie sehr ich mir wünsche, diesen Fehler rückgängig zu machen.“
„Wenn du es ernst meinst, dann zeig mir die Bilder, Jake. Erzähl mir von den Dingen, die du weißt“, seine blauen Augen mieden meinen Blick. Dieses Spiel würde ich verlieren.
„Wenn du es wirklich ernst meinst… erzähl mir von den medizinischen Berichten, Jake- bitte! Das habe ich verdient. Ich fühle mich so… hintergangen… als hätte ich die ganze Zeit unter einer Kuppel gelebt und jetzt erzählst du mir, dass der Horizont, den ich jeden Tag sehe, nicht echt ist. Ich habe Angst, Jake… verstehst du das?!“
Er musste es mir sagen. Nach all dem was wir zusammen durchgemacht haben, musste er das einfach.
„Ich kann nicht“, flüsterte er, „es tut mir leid, Ellie, ich…“
„Schon gut“, unterbrach ich ihn und versuchte mich an einem Lächeln, einem letzten bisschen Würde, während die Tränen mir den Blick vernebelten, „ich hoffe, du weißt, dass ich dir überall hin gefolgt wäre… ohne zu fragen warum.“
Ich ließ seine Hand los, lief einen nach dem anderen Schritt von ihm davon.
„Was für eine traurige, traurige Geschichte“, flüsterte ich.
„Ellie…“
„Es ist dir nie um uns gegangen, niemals… nicht ein kleines bisschen. Es ging immer nur darum Hannah zu finden, das hatte ich wohl vergessen.“
Ich griff nach der Türklinke, drückte sie nach unten.
„Wo gehst du hin?“
Ich öffnete mein Handy, löschte Nymos, wollte nichts mehr – rein gar nichts mehr spüren.
„Das geht dich nichts mehr an.“
Dann drehte ich mich um, verließ sein Zimmer, verließ das Haus und dann seine Straße.
Und während ich durch den regnerischen Morgen Duskwoods lief, verließ ich Jake.
Ich war nicht weit gekommen, hatte gar nicht darauf geachtet, wohin ich lief und fand mich irgendwann auf einer Bank am Marktplatz wieder. Der Regen und die Tränen hatten sich vermischt und ich ließ es zu, wollte den Schmerz spüren. Wollte, dass ich genau fühlte, was passierte, wenn man jemandem blind vertraute.
Wie lächerlich, Ellie. Wie verdammt lächerlich…
Ich strich mit den nassen Ärmeln über mein Gesicht, mied die Blicke der Passanten, die an mir vorbei liefen.
Ich war nicht freiwillig in dieser Situation, doch das änderte nichts daran, dass ich in dieser Situation war. Ich wusste nicht mehr, wem ich vertrauen konnte und wem nicht.
Ich öffnete zunächst die Nachrichten-App und überlegte einen Moment, wie es nun weitergehen sollte. Offensichtlich ging es hier nicht nur um Hannah und die anderen, es ging auch um mich.
Wirklich um mich – nicht nur als Helferin, sondern auch als potenzielles nächstes Opfer.
Ohne das Wissen, was genau mich in diese Rolle gebracht hatte, war ich leichte Beute und die einzigen Menschen, die ich dazu befragen konnte waren entweder tot, verschwunden oder…
Nein, warte – das stimmte nicht.
Ich öffnete den Chat mit Jessy. Diese war gerade mit Thomas zusammen, doch das störte mich nicht. Ich würde ihnen alles erzählen müssen. Wenn wir das alles lösen wollten, mussten wir alle Fakten auf den Tisch legen.
Ellie: Jessy? Bist du on?
Jessy: Hey Ellie! Wie geht’s dir denn nach gestern? Ist alles in Ordnung? Es tut mir so leid, dass wir dich in so eine Situation gebracht haben.
Ellie: Alles gut, mach dir keine Sorgen. Sag mal, kannst du mir eine Frage beanworten?
Jessy: Kommt drauf an welche, aber ich werde mir Mühe geben!
Ellie: Wusstest du es?
Jessy: Was meinst du?
Ellie: Bitte tu‘ nicht so. Ich habe keine Lust noch so ein Gespräch zu führen.
Jessy: Oh.
Jessy: Oh! Du weißt es.
Jessy: Hör‘ zu. Als Richie mir davon erzählt hat, hat er nur gesagt, dass er glaubt, dass du eine alte Freundin sein könntest, die früher über die Sommerferien öfter mal zu Besuch gekommen war. Er klang aber nicht hundertprozentig überzeugt und als ich dich gefragt hatte, ob du dich wieder an Hannah erinnerst… Du hattest nein gesagt, also habe ich gedacht, dass Richie sich irren muss.
Ellie: Ich kann mich auch nach wie vor nicht an sie erinnern. Aber ich habe ein Bild von uns gesehen, also muss es wohl stimmen.
Jessy: Oh und hast du eine Ahnung wie das alles zusammenhängt?
Ellie: Nein, aber ich werde es herausfinden. Danke für deine Ehrlichkeit, Jessy. Das erklärt, warum du mir nichts gesagt hast, du hast Richie nicht geglaubt.
Jessy: Naja…
Jessy: Zumindest war das so, bis Jake mich angeschrieben hat.
Ellie: Er hat was?
Jessy: Ja, erst letztens, nachdem er in den Gruppenchat gekommen ist, erinnerst du dich?
Natürlich erinnerte ich mich. Wie konnte ich dumme verliebte Kuh irgendwas was Jake betraf vergessen?
Jessy: Er hat mich darum gebeten, dir nichts davon zu sagen. Er hat gemeint, es wäre nicht der richtige Zeitpunkt und dass er dich beschützen will.
Ich konnte ein freudloses Lachen nicht unterdrücken und schüttelte den Kopf. Ich erinnerte mich daran, wie sie mir geschrieben hatte, dass sie jetzt verstehen könne, warum ich Jake so mochte. Das erklärte natürlich so einiges.
Ich bedankte mich bei ihr und öffnete den Gruppenchat.
Ellie: Leute?
Phil: Hey!
Jessy: Hallo auch hier nochmal.
Thomas: Hallo
Cleo: Bin da.
Lilly und Dan waren kurz danach online gekommen und schickten Bilder vom Gassigehen mit Herrn Müller.
Lilly: Ich glaube, den geb ich nicht mehr her.
Dan: Herr Müller hat Lilly lieber als dich, Ellie.
Ellie: Nichts da, ich hole ihn nachher ab und ihr bekommt höchstens Besuchsrecht.
Dann kam Jake online und das bisschen Leichtigkeit verschwand aus meinem Herzen.
Jake: Hallo.
Ellie: Gut, schön, das ihr alle da seid. Ich denke, wir sollten einiges besprechen. Cleo, du triffst dich heute nachmittag in der Pforte der Hoffnung mit Richies Mutter, richtig?
Cleo: Das stimmt.
Ellie: Sehr gut. Ich werde meinerseits auch noch etwas Recherche betreiben, es gibt da auch noch ein paar Dinge, die ich euch sagen muss. Von denen ich bis heute auch noch nichts wusste, die uns aber ein ganzes Stück weiterbringen werden.
Thomas: Das klingt gut, können wir irgendwie helfen?
Ellie: Wir sollten uns heute Abend treffen und uns einen Plan ausmachen – einen richtigen Plan, nicht in den Wald rennen und alle befreien. Nein, einen, der Hand und Fuß hat und dabei konzentrieren wir uns aufs Pineglade-Fest.
Lilly: Was soll das bringen, Ellie? Wir drehen uns im Kreis. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir so, wie wir gerade arbeiten voran kommen.
Ellie: Das ist richtig, daher werde ich noch ein paar andere Leute mit ins Boot holen.
Dan: Bitte was?
Cleo: Heißt das, du gehst jetzt doch zur Polizei?
Ellie: Ich erkläre es euch heute Abend und bitte euch jetzt erstmal um euer Vertrauen, okay?
Jake: Ich halte das für keine gute Idee.
Ellie: Gut, dass dich in dieser Sache keiner gefragt hat.
Dan: Whoa, was?!
Ich ging offline, bevor ich weitere Kommentare lesen konnte. Ich wusste, dass ich nicht ganz fair war, aber das war Jake auch nicht gewesen. Er hatte mich von Anfang an angelogen, es darauf angelegt, dass ich ihm vertraue, schlimmer noch, er hatte mich wissentlich in Gefahr gebracht und mich unterschätzt – er hatte darauf gesetzt, dass ich nicht nach Duskwood kommen würde, doch das war ich und somit war auch die Gefahr für mich real geworden.
Ich hatte keine andere Wahl, als das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Das hier war nichts mehr, was man einfach so abhandeln konnte. Soweit ich das verstanden hatte, war auch mein Leben nun in Gefahr, denn ich war es gewesen, die gestern Richies Anruf erhalten hatte, niemand anderes.
Das hieß die Täter wussten, dass ich in Duskwood war.
Und sie wussten, wie ich aussah.
Während Gänsehaut über meine Arme wanderte, wählte ich die Nummer, die ich in diesem Moment am liebsten nicht angerufen hätte – doch um die Wahrheit zu erfahren musste ich nun die Personen kontaktieren, die definitiv alles wussten.
Die Personen, die mich offensichtlich ebenso über Jahre hinweg angelogen hatten.
Ich hörte ein Freizeichen, sie brauchte nie lange um ans Telefon zu gehen.
„Ja bitte?“
Mein Herz rutschte mir in die Hose. Wieder wollte ich die Wahrheit am Liebsten nicht wissen, doch es musste einfach sein.
„Hey Mum…“„Peter, Ellie ist am Apparat!“, meine Mutter brüllte so laut in den Hörer, dass ich ihn ein Stück von meinem Ohr weghalten musste, „immer mit seiner Konsole beschäftigt, der Junge. Ich soll dir liebe Grüße ausrichten. Schade, dass du es nicht geschafft hast zu uns… der Papa hatte sich so auf dich gefreut.“
Ich hatte schon wieder vergessen, dass ich sie ja eigentlich hatte besuchen wollen.
„Tja, ähm tut mir leid…“„Kein Problem, Liebling“, etwas im Hintergrund klimperte. Es schien so, als würde sie abwaschen.
„Was ist denn nun schon wieder mit dem Geschirrspüler los?“
„Ach dieses Teufelsding“, ich konnte förmlich hören, wie sie den Lappen in die Spüle schmiss und den Kopf schüttelte. Ich liebte meine Mutter sehr – meine kleine, schimpfende Mama.
Sonntags hatte sie immer Kuchen gebacken und uns alle lange schlafen gelassen. Im Herbst war es immer Apfelkuchen gewesen. „Natürlich ist es mal wieder kaputt gegangen und ich muss mich um alles allein kümmern. Dein Vater ist ja nur am Arbeiten…“
Er arbeitete am Amtsgericht unserer Stadt – mein Vater wollte eigentlich immer Anwalt für Menschenrechte werden, dann Richter, dann Staatsanwalt. Mittlerweile war er Anwalt für Strafrecht Arbeitsrecht und so gut wie nie zu Hause, denn Das Verbrechen schläft nie.
„Mama, kann ich kurz über etwas reden mit dir?“
Wieder Geklimper.
„Natürlich Herzchen, was hast du auf der Seele? Hat sich dieser schreckliche Biologie-Student wieder bei dir gemeldet?“
Meine Gedanken flogen zu einer Zeit, als ich nicht verliebt, aber ein bisschen verknallt war in einen Menschen, der mir im Vergleich zu Jake jetzt furchtbar unwichtig vorkam.
Verrückt, wie sich Gefühle ändern konnten…
„Was? Nein, darum geht es nicht“, ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Ein Teil von mir wollte das, was kam nicht wahr haben. Ein Teil von mir wollte sie nicht darauf ansprechen, wollte dass meine Familie weiter Apfelkuchen und lange Ausschlafen blieb – ein sicherer Ort.
Ohne Lügen.
„Sagt dir der Ort Duskwood etwas?“
Schweigen.
Ein Schweigen, so laut, dass es als Antwort bereits ausgereicht hätte.
„Mum?“
„Ich… wie kommst du auf diese Frage?“
„Kannst du mir nicht einfach antworten?“
Was war so schwer daran? Meine Eltern hatten mich immer zur Ehrlichkeit erzogen, sie wussten alles von mir. Niemandem sonst vertraute ich mehr als ihnen.
„Ich bin hier, Mama. Ich bin in Duskwood.“
Ich hörte, wie ein Teller auf den Boden fiel, wie er in tausend Teile zerbrach.
„Großer Gott“, flüsterte sie, „großer Gott, Elisabeth, mach das du dort weg kommst. Du solltest dort gar nicht sein!“
Der Ton in ihrer Stimme ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
„Komm sofort nach Hause, Ellie, ich bitte dich. Verschwinde von diesem Ort!“
„Warum, Mama“, flüsterte ich, „erkläre es mir!“
„Das… das kann ich nicht… das muss dein Vater… nein, das kann ich nicht“Tränen der Frustration stiegen in mir auf.
Tränen und Wut.
„Was ist denn so schwer daran, mir einfach zu sagen, was hier los ist? Ich muss es wissen! Was ist passiert?“, sinnlose Tränen fielen in meinen Schoß, als ich meine Wut nicht mehr zurückhalten konnte, „Was verheimlicht ihr vor mir, Mum? Warum kann ich mich an all das hier nicht erinnern?! Sprich doch bitte mit mir!“
Schweigen.
„Mama?!“
Doch statt einer Antwort wurde die Verbindung unterbrochen.
Sie hatte einfach aufgelegt.
Fassungslos starrte ich auf mein Telefon.
„Hach ja, die gute alte Familie, nicht wahr?“, ich zuckte zusammen.
Er hatte genau im toten Winkel gestanden, deswegen hatte ich ihn nicht gesehen. Alan Bloomgate grinste zufrieden und streckte mir seine Hand entgegen.
„Man hasst sich, man liebt sich – doch oh wie enttäuschend, wenn man merkt, dass sie nicht die sind für die man sie hält, nicht wahr? Das bricht einem das Herz!“
Sein darauffolgendes Lachen widerte mich an.
„Was wollen sie von mir?!“
„Schön, dass du jetzt wenigstens nicht mehr so tust wie… wie hieß sie doch gleich?“
„Mia…“, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, während Bilder von dem Abend im Kino durch meinen Kopf und mein Herz jagten. Der Abend, an dem noch alles gut gewesen war.
„Mia richtig“, er schnalzte, „was für ein bezauberndes Schauspiel…“„Was wollen sie von mir?“, wiederholte ich mit Nachdruck. Alan hob beschwichtigend die Hände.
„Ruhig, ruhig junge Dame. Wie ich mitbekommen habe, versuchen sie sich an relevante Dinge aus der Vergangenheit zu erinnern.“
Widerwillig nickte ich. Alan Bloomgates Grinsen wurde noch breiter.
„Und sie haben sich gestritten, richtig? Mit ihrer Familie und mit ihrem… wie auch immer sie ihn nennen.“
Ich versteifte mich innerlich.
„Na, na, na jetzt machen wir mal nicht so ein Schlecht-Wetter-Gesicht, Elisabeth. Ich bin gekommen, um ihnen etwas anzubieten – quasi ein Angebot, was sie nicht abschlagen können“, seine kleinen Augen zwinkerten gespielt freundlich, „wir haben alle Akten, die sie betreffen bei uns. Krankenhausberichte, Berichte vom behandelnde Psychiater, dem weiterführenden Psychologen und. so. weiter.“ Er genoss dieses Schauspiel und ich hasste ihn dafür.
„Sie gehören alle dir und im Gegenzug dafür musst du mir nur eine winzig kleine Kleinigkeit verraten“, er beugte sich zu mir und sein widerlich warmer Atem streifte mein Gesicht.
„Sag mir, wo er sich aufhält“ Unter seinen Augen zeichneten sich Schatten ab. Auch er musste seit einer Ewigkeit nur wenig Schlaf abbekommen.
„Wo ist Jake?“