Die Aurora war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Dunkle Wände mit Postern verziert, kleine, gemütliche Sitzecken und natürlich eine bunt beleuchtete Bar hinter der Phil wie der Star des ganzen Ladens aussah. Geschäftig hatte er die schwere Lederjacke abgeworfen und – ganz in seinem Element – die Musikanlage angeschaltet. Aus den Lautsprechern ertönte leise Musik und mit einem Griff unter den Tresen hatte er das Licht gedimmt. Während ich einfach nur beobachtete, wie er ganz routiniert seine Bar zum Leben erweckte, blickte er mehrmals auf und lächelte. Er interpretierte mein ehrliches Interesse falsch, was mich einerseits zum Augen verdrehen, aber andererseits zum Schmunzeln brachte.
Phil war ein Charmeur und definitiv jemand, auf den ich mich in einer durchzechten Nacht eingelassen hätte, aber mein Kopf und mein Herz waren weit weg von einem kurzweiligen Flirt. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte mir, jedoch erreichte sie es nicht, dass ich es schaffte das flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren.
Noch immer verstand ich nicht, warum Jake mich gerade jetzt so ausschloss. Sein Sinneswandel kam mir so willkürlich vor und die Geschichte mit der komplett entschlüsselten Cloud glaubte ich ihm einfach nicht. Mir war bewusst, dass es viele Dinge gab, die er mir aus verschiedensten Gründen verschwieg, doch es versetzte mir einen Stich, dass er es diesmal so offensichtlich tat.
Ich hatte gedacht, dass unser Zusammentreffen uns näher zusammengebracht hatte, dennoch empfand ich unsere Verbindung nun als loser denn je. Vielleicht war er doch zu enttäuscht von mir gewesen, dass ich nach Duskwood gefahren und ihn angelogen hatte. Vielleicht war sein Vertrauen in mich auch einfach zu sehr geschwächt. Ich hatte gedacht, dass es ihm einfacher fallen würde, da er ja selbst oft genug, die ein oder andere Regel, die wir uns aufstellten so gebogen hatte, dass sein Verhalten hinein passte, aber so einfach war das anscheinend nicht.
Abwesend strich über den eingetrockneten Getränkerand-Abdruck. Dan und Lilly waren noch schnell zu ihm gefahren, nachdem sie uns abgesetzt hatten, weil er gerne seine Sachen abstellen und sich kurz umziehen wollte. Mir war es recht, denn ich hatte das Gefühl, die beiden brauchten ein paar Momente für sich und ich war müde von den vielen Gesprächen um mich rum. Während ich zusammengekauert auf dem Barhocker saß und Phil bei dem zusah, was er tat, merkte ich mehr und mehr wie erschöpft ich war. Die letzten Tage hatten mir mehr zugesetzt, als ich zugeben wollte und jetzt, da Jakes Präsenz so rar war, verpuffte meine Motivation wie Luft aus einem kaputten Luftballon. Müde stützte ich meinen Kopf auf die Hände und versuchte gegen die schweren Lider anzukämpfen.
„Hey.“
Phils Hand an meinem Arm erschrak mich beinahe zu Tode. Er grinste und deutete auf eine der Sitzecken.
„Du bist ziemlich fertig, oder? Wenn du magst, kannst du dich da drüben für eine Stunde hinlegen. Ich werd’s auch niemandem verraten.“
Ich schluckte den Rest meines Stolzes herunter und nickte ergeben. Träge schlurfte ich zu der kleinen Sitzecke und versuchte mich in irgendeiner Art und Weise bequem hinzulegen. Ich war beinahe schon wieder eingeschlafen, als ich etwas schweres, warmes auf mir spürte.
„Du bist ja richtig aufmerksam.“ Phil grinste geschmeichelt, als er mich zudeckte. Der kuschelige Stoff tat so gut, dass ich nicht umhin kam selig in mich hinein zu grinsen.
„Ich meine es übrigens ernst, wenn ich sage, dass ich dich süß finde“, seine Hand zog meine Decke ein wenig höher, „also fernab von jeglichen Bar-Flirt-Avancen.“
Ich schloss die Augen und nickte.
„Und ich meine es ernst, wenn ich sage: Ich fühle mich geschmeichelt und finde dich sehr nett.“
„Und mehr nicht“, murmelte er und seufzte, „Ich verstehe.“
Das Polster bewegte sich, als er sich erhob. „Wenn dieser Jake es verkackt, möchte ich eine ehrliche Chance von dir, okay? Ich will, dass du mich richtig kennenlernst. Weit weg von den Gerüchten…“
„Und deinen Sprüchen?“
Phil lachte. „Wenn’s sein muss, auch das. Aber dann darfst du das niemandem verraten, okay?“
„Keine Sorge, das bleibt unter uns.“
*
Das erste, was mir in die Nase stieg, war der vollmundige Geruch von Kaffee. Ich öffnete die Augen und eine handteller-große Tasse stand dampfend vor mir auf den Tisch. „Hey Schlafmütze, ich dachte, den könntest du gebrauchen. In einer viertel Stunde kommen die Anderen, werd langsam wach, okay?“
Ich nickte verwirrt und rappelte mich langsam auf. Gähnend schloss ich die große Tasse in beide Hände und pustete auf den dicken Milchschaum.
„Gar kein Kakao-Herz?“, scherzte ich halbherzig, während ich begann zu schlürfen.
„Ich kann eine Abfuhr erkennen, Ellie“, zwinkernd nickte er mir zu, während er in geübten Bewegungen die Bar abwischte, „und ich weiß, wann es besser ist, mich zurück zu ziehen.“
Ich nickte schweigend und trank in kleinen Schlucken meinen Milchkaffee. Die Wärme des Getränks breitete sich in meinem Körper aus und fühlte sich so an, wie die Umarmung, die ich gebraucht hatte. Als meine Tasse schließlich leer getrunken war, stellte ich sie in die Spüle hinter dem Tresen und gab Phil die Decke zurück.
„Danke, das hat wirklich sehr gut getan.“
„Das hat auch so ausgesehen“, gab Phil zu, „und geklungen.“
„Netter Versuch, Phil, aber ich schnarche nicht.“
Ziemlich erfolglos zupfte ich an meinem völlig zerstörten Zopf herum, ehe ich aufgab und ihn schließlich einfach öffnete und meine Haare, die schwer über meine Schultern fielen. Bei dem Gedanken, dass ich gleich auf die anderen treffen würde, zog sich mein Magen nervös zusammen. Ich war einfach niemand, dem es leicht fiel, in größeren Gruppen zu agieren. Zu viele Meinungen und Gespräche konnten mich schnell überfordern, also versuchte ich irgendwo tief in mir drin das letzte bisschen Kraft, was noch von mir übrig war zu sammeln.
„Sie sind eigentlich alle völlig in Ordnung, kein Grund nervös zu sein.“
Phil, der meine Unruhe offensichtlich gespürt hatte, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
„Ich bereite uns alle auch ein paar Drinks zu, nach der Zeit können wir das denke ich alle vertragen Und es lockert die Stimmung ein wenig auf.“
„Ich weiß nicht“, murmelte ich und starrte wie gebannt zur Tür, „Alkohol war noch nie mein Ding. Ich bin meistens schon nach einem Glas Sekt komplett hinüber.“
„Das ist die Kunst des Mixens, Ellie. Alkohol, aber nicht zu viel Alkohol, überlass das ruhig mir.“
Als er den Satz zu Ende gesprochen hatte, öffnete sich die Eingangstür. Jessy und Thomas kamen ohne große Umschweife in die Bar gelaufen, beide in ein Gespräch vertieft. Draußen schien es angefangen haben zu regnen, denn sowohl Jessys als auch Thomas’ Haare waren triefend nass. Schnell zogen beide die feuchten Jacken aus und hängten sie in die Garderobe.
Es war Jessy, die sich zuerst zu uns drehte und sofort in ihrer Bewegung erstarrte.
„Wer…“
„Hey Jessy“, ich winkte halbherzig und hoffte dabei nicht allzu albern zu wirken, „Thomas.“Für einen endlosen Moment schienen beide nach Luft zu ringen, dann überwand Jessy die letzten paar Meter zwischen uns und drückte mich fest an sich.
„Ellie“, ihre Stimme war warm und freundlich, „Oh Gott ich könnte weinen vor Freude… ich bin so froh, dass du hier bist!“
Der Satz war noch nicht ganz ausgesprochen, als ihre Stimme brach. Vorsichtig streichelte ich über ihren Rücken. Wir waren uns über die letzten Wochen sehr nahe gekommen und ein bisschen bereute ich es, dass ich ihr nicht zuerst gesagt hatte, dass ich in Duskwood war. Aber mit der Nähe waren auch ein paar Zweifel gekommen, die ich nicht ignorieren konnte. Zweifel, die ihr Bruder Phil – unfreiwillig aus der Welt geschafft hatte. Ich war zunächst verwundert gewesen, wie schnell sie sich mit mir hatte anfreunden wollen, was aber auch daran liegen konnte, dass ich selbst jemand war, der die Menschen langsam kennenlernen wollte. Jessy war jemand der emotional schnell all-in ging und das war etwas gewesen, mit dem ich lernen musste, klarzukommen.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, hörte ich Phil hinter mir seufzen.
„Ist ja irgendwie niedlich, dass ihr euer langersehntes Treffen so feiert, aber ein bisschen mehr Begeisterung darüber, dass dein Bruder aus dem Gefängnis frei ist, hätte ich schon erwartet, Jess.“
Schnell löste sich die Angesprochene von mir und rannte auf ihn zu, so dass ich plötzlich vor Thomas stand, der mit betretenem Blick auf den Boden starrte und seine Hände immer tiefer in die Hosentaschen schob. Er war kleiner als ich erwartet hatte, was aber auch an seiner in sich gesunkenen Körperhaltung liegen konnte. Mit der dunkelblauen Mütze und dem Vollbart sag er ein wenig so aus, wie ein wettergegerbter Seemann. Ich fragte mich, was er für ein Mensch gewesen war, bevor Hannah verschwunden ist und ob wir uns dann vielleicht besser verstanden hätten. Für einen kleinen Moment sah er auf und traf meinen Blick und mit unendlich traurigen, müden Augen nickte er mir zu. Mein Herz zog sich zusammen, so spürbar war seine Angst und als ich seinen Gruß stumm erwiderte, wünschte ich mir etwas sagen zu können, was die Sache besser machen würde, doch keine Floskel der Welt würde das heilen können, was er verloren hatte.
Er lief auf den erstbesten Tisch zu, zog scharrend den Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder. Thomas würdigte Phil keines Blickes und auch, wenn mittlerweile klar war, dass Phil nichts mit Hannahs Verschwinden zu tun hatte, würde diese Freundschaft mehr als einen Händedruck benötigen, um sie zu kitten. Es dauerte keine fünf Minuten als Cleo, bewaffnet mit einem Stockschirm die Aurora betrat. Ihr schweifender Blick blieb einen Augenblick zu lange an Phil hängen, ehe sie weiter nach Thomas suchte und schließlich zu mir wanderte.
„Wer ist das?“, fragte sie ohne Umschweife und ohne irgendwen speziell zu grüßen.
Jessy wischte sich über ihr verweintes Gesicht.
„Das ist Ellie, Cleo, sie ist jetzt auch endlich hier bei uns.“ Schniefend setzte sie sich zu Thomas an den Tisch, während Cleos ernste Miene aufhellte.
„Ellie“, freundlich aber bestimmt hielt sie mir die Hand entgegen, „schön dich endlich kennenzulernen.“
Es dauerte nicht lang, bis sich Dan und Lilly wieder zu uns gesellt hatten und wir schließlich vollständig waren. Zunächst hatte ich mich eher wie ein Zuschauer in der Gruppe gefühlt – lang genug war ich ja schließlich genau das auch gewesen – doch durch Jessy und Lilly, die mich wie selbstverständlich in die Gespräche mit einbezogen, fühlte ich mich schon sehr schnell wie ein Teil von ihnen. Cleo war – wie ich bereits gehört hatte – etwas zurückhaltend. Fast wirkte sie auf mich wie eine stille Beobachterin, die erhaben an einer Ecke des Tisches saß und die anderen für sich sprechen ließ, doch ihre Augenringe und die Art wie sie immer wieder an ihrer Kette spielte, sprachen eine ganz andere Sprache. Ich stellte fest, dass diejenigen die von Hannahs Verschwinden am meisten betroffen waren, die schweigsamsten waren. Das war mir auch schon aufgefallen, als ich mit ihnen nur per Smartphone kommuniziert hatte, aber jetzt, da ich sie vor mir sitzen sah, ergab es für mich einfach mehr Sinn.
Beide – sowohl Thomas als auch Cleo – waren Hannahs wichtigste Bezugspersonen gewesen. Lilly war zwar Hannahs Schwester, aber laut ihrer eigenen Aussage standen sie sich nicht so nah, weil sie zu unterschiedlich waren. Jessy war mehr mit Dan und Richy befreundet gewesen und vermutlich nicht so fest mit Hannah und demzufolge auch kaum mit Cleo verwoben und außerdem vermutete ich, dass Cleo Jessy mit Phil in Verbindung brachte und somit eher keinen Kontakt zu ihr suchte. Das erklärte auch, die manchmal nicht ganz so nachvollziehbaren Konflikte zwischen Cleo und Jessy, die nichts weiter waren als Stellvertreterkonflikte zwischen Cleo und Phil, wobei Jessy diejenige war, die zwischen den Stühlen stand. Es war also nur selbstverständlich, dass in dieser Gruppenkonstellation Thomas und Cleo einander näher standen, denn sie steckten in derselben Situation. Cleo schloss sich aus aufgrund ihrer Art und weil sie ohne eine konkrete Bezugsperson keinen richtigen Anker in der Clique hatte und Thomas tat genau dasselbe, weil er von einigen verdächtigt wurde und in der Beziehung mit Hannah seine Freundschaften zu Dan und Phil vernachlässigt hatte – schlimmer noch, er war einer derjenigen gewesen, die Phil verdächtigt hatten. Sie waren in derselben Situation und deswegen distanziert. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
„Darf ich dich kurz aus deinen Gedanken reißen, schöne Frau?“
Phil, der mit einem Tablett voller bunter Cocktails bewaffnet um den Tisch lief, stellte einen davon vor mir ab. Er war blutrot und hatte einen dieser albernen Schirmchen, dem ein Stück Ananas befestigt war. Etwas lustlos stocherte ich darin herum. Auch den anderen war eher weniger nach Cocktails zumute, doch der Barbesitzer ließ sich nicht beirren.
„Ich weiß, der ein oder andere mag das vielleicht unpassend finden“, er setzte sich neben mich und erhob sein Glas, die anderem taten es ihm gleich, „Und ich würde meinen Cocktail gerne dem ein oder anderen von euch über den Kopf schütten, weil er entweder in meinen Keller eingebrochen, oder mich bei der Polizei angeschwärzt hat“, schnalzend sah er zu Cleo, die nicht mehr als ein Augenrollen für ihn übrig hatte, „Doch Ellie ist jetzt hier und nicht nur, wurde ich heute im Höchsttempo durch sie entlassen, nein, ich bin auch sicher, dass wir der Lösung so nah sind, wie noch nie zuvor und das ist doch einen Drink wert.“
Wir prosteten uns gegenseitig zu während ich hochrot auf den Tisch starrte. Nachdem alle ein wenig Smalltalk gehalten hatten und sich Thomas darüber wunderte, warum Phil jetzt mitarbeiten wollte, worauf dieser erklärte, dass er jetzt sowieso mit drin stecken würde, legten wir Cleos Handy in die Mitte des Tisches, um die Sprachsteuerung zu aktivieren. Verstohlen hatte ich auch auf mein Smartphone geschaut, doch Jake hatte sich seit unserem Gespräch nicht noch einmal privat bei mir gemeldet.
Ellie: Hey Jake, wir sitzen jetzt alle zusammen in der Aurora um alles weitere zu besprechen, bist du da?
Es dauerte einen kurzen Moment, dann meldete er sich.
Jake: Ja natürlich, ich bin hier, hallo.
Dan: Hey Hacker-Boy, wie kommt es, dass wir alle hier sind und du nicht?
Ellie: Dan…
Jake: Schon gut, Ellie, das ist eine berechtigte Frage, auch wenn Daniel sich diese Frage auch selbst beantworten könnte, wenn er ein bisschen nachdenkt.
Dan nahm einen großen Schluck aus seinem Cocktail und murmelte unverständliche Sachen in sich hinein.
Jake: Für mich ist es immer noch nicht sicher, mich frei zu bewegen, auch wenn es einige Gründe dafür gibt, dass ich jetzt lieber anwesend wäre.
Meine Zähne gruben sich in meine Unterlippe und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Phil, der neben mir saß, begann zu grinsen.
Phil: Oh, keine Sorge, Jake, wir passen gut auf Ellie auf, du hast mein Wort.
Und während Dan losprustete und Cleo die Augen verdrehte, wollte ich am Liebsten im Erdboden versinken. Ich rammte meinen Ellenbogen in Phils Seite, um ihm zu signalisieren, dass er den Blödsinn lassen sollte. Jake jedoch entschloss nicht auf Phils Einwurf einzugehen – er schwieg. Einen Moment später erhielt ich eine Privatnachricht.
Jake: Hast du ihn zur Gruppe hinzugefügt?
Ellie: Ich dachte, es wäre einfacher. Ich bin sicher, dass er uns helfen kann, Jake.
Jake: Ich bin kurz davor, ihm sein komplettes Geschäft zu versauen. Weißt du wie schnell das heutzutage geht, Ellie? Ein paar schlechte Rezensionen, ein unangekündigter Besuch vom Gesundheitsamt…
Ellie: Du gehst zu weit. Er versucht dich doch nur zu provozieren.
Jake: Und das schafft er auch.
Jake: Offensichtlich hat er keine Ahnung mit wem er sich anlegt.
Ellie: Kannst du es nicht einfach ignorieren? Für mich?
Jake: In Ordnung.
Jake: Aber wenn ich ihm einmal persönlich begegne…
Die Anderen sprachen über das, was sie über die letzten Tage herausgefunden hatten. Lilly und ich erzählten von unserem Gespräch am Schwarzwassersee und über die Situation mit Alfie. Ebenso darüber, dass die Leiche Amy und nicht Hannah gewesen sein muss. Man konnte förmlich sehen, wie ein wenig Anspannung aus Thomas‘ Haltung verschwand. Cleo berichtete darüber, dass ihre Mutter offensichtlich keine weiteren Drohungen bekommen hatte.
Cleo: Zumindest ist es das, was sie mir sagt.
Jake: Ich denke, wenn sie sich dir einmal anvertraut hat, Cleo, wird sie dich diesbezüglich nicht noch einmal belügen.
Jessy: Ellie, hat sich der Mann ohne Gesicht nochmal bei dir gemeldet?
Ellie: Nein, seit dem Anruf, der mich dazu gebracht hatte, hierher zu kommen nicht mehr.
Jake: Es kann sein, dass euer Fund in der Scheune den Entführer zu sehr verunsichert hat. Dass er vorsichtiger sein wird.
Dan: Du meinst, er hat nicht damit gerechnet, dass wir ihm am Arsch kleben, oder?
Jake: Ich hätte es anders ausgedrückt, aber prinzipiell schon.
Ellie: Dass Cleo mit Richys Mutter spricht, ist wegweisend für die Art, wie wir weiter vorgehen, denkst du wirklich, du bekommst sie zum reden, Cleo?
Cleo: Sie ist die meiste Zeit verwirrt, aber trotzdem fähig ein normales Gespräch zu führen. Ich bin sicher mit der nötigen Herangehensweise ist es unproblematisch ein paar Informationen aus ihr zu locken.
Jake: Sehr gut, dann bleibt uns also nichts anderes übrig, als auf Cleos Gespräch morgen zu warten. Von meiner Seite gibt es leider keine großen Neuigkeiten. Alan Bloomgate ist sehr hartnäckig was Ellies Handy angeht, glücklicherweise habe ich eine Methode gefunden, die es mir ermöglicht hat, sie gut von ihm abzuschirmen.
Während die anderen davon berichteten, dass auch sie öfter erfolglos von der Polizei kontaktiert wurden, fiel mir auf, dass Jake offensichtlich einige Informationen zurück hielt. Er hatte mehrmals geschrieben, dass er gerade an etwas dran sei und ich war mir sicher gewesen, dass er heute davon erzählen würde. Doch er hielt sich damit zurück, nicht nur vor der Gruppe sondern auch vor mir. Was hatte das nur zu bedeuten? Phil schenkte mittlerweile die zweite – oder dritte Runde nach und ich merkte mehr und mehr wie mir der Alkohol zu Kopf stieg. Müde lehnte ich meinen Kopf zur Seite unfähig mich noch weiter konzentrieren zu können.
Phil: Etwas was mir gerade auffällt und ich weiß nicht, ob ihr der ganzen Sache schon Bedeutung geschenkt habt, ist das Pineglade-Fest. Also nicht nur das, wo offensichtlich etwas passiert sein muss, sondern auch das in drei Tagen. Es findet dieses Wochenende statt.
Jessy: Stimmt, darüber habe ich gar nicht mehr nachgedacht.
Dan: Verstehe ich das richtig, ihr glaubt, dass dieses Fest sowas wie der D-Day ist? Der Tag, an dem alles Übel zusammenläuft?
Jessy: Die Sage deutet auf jeden Fall darauf hin und macht es nicht auf irgendwie Sinn? Etwas ist bei diesem Fest passiert und wird nun – Jahre später wieder passieren?
Mein leicht benebelter Kopf versuchte schwerfällig die einzelnen Fäden zusammen zu knüpfen. Langsam, wie durch schweren Schlamm watend kam ich zu der Erkenntnis, dass das die einzig richtige Schlussfolgerung sein konnte. Gerade als ich etwas dazu sagen wollte, begann mein Handy zu vibrieren.
Unbekannt
Ich wurde angerufen.
Ellie: Leute, ich muss da kurz rangehen.
Schwankend schob ich mich aus dem Stuhl, Dan lachte über meine mangelnde Grazie, während ich mich in die hinterste Ecke der Bar lief.
Mit klopfendem Herzen nahm ich ab.
„Hallo?“
Zuerst hörte ich ein Rauschen – laut, durchdringend, wie Wind, der durch dichte Bäume jagte. Dann ein bellendes, schnelles Atmen. Das Blut in meinen Adern gefror.
„Ellie?“
Das Telefon in meiner Hand fiel mir beinahe aus den Fingern, vor Schreck versagten mir die Knie. Sofort sprang Phil auf, um mich zu stützen, als die anderen besorgt zu mir sahen.
Ich kannte diese Stimme, auch wenn ich sie erst einmal gehört hatte, auch wenn ich dachte, ich würde sie nie wieder hören. Ich kannte sie und ich wusste, dass das eigentlich nicht sein konnte.
Er war vor meinen Augen gestorben…
„Richy?“
Ich konnte den Namen kaum aussprechen, schon war Jessy aufgesprungen, Cleo schlug sich die Hand vor den Mund.
„Wo bist du?“
Wieder ein Rauschen, gefolgt von einem schleifenden Geräusch, was mir durch Mark und Bein ging.
„Ich…du musst mir helfen, Ellie. Ich… weiß dass du hier bist und ich habe nicht viel Zeit, hörst du…“
Er stöhnte schmerzverzerrt und meine Hände begannen zu zittern. Phils Hand legte sich schützend auf meine Schulter.
„Wo bist du jetzt?“, fragte ich zittrig, während heiße Tränen über meine Wangen wanderten, „Wo bist du, Richy?“
Ein Schlag und dann ein dumpfes Geräusch, gefolgt von etwas, was sich so anhörte wie eine Türe. Danach Schreie, nicht nur von ihm, doch die andere Stimme war schlecht auszumachen. Zwischen den unverständlichen Wortfetzen hörte ich zwei Dinge eindeutig.
„Komm bitte“ und „Mutprobenhütte“ – dann hatte er aufgelegt.
Irgendwer hatte mir das Smartphone aus der Hand genommen, als meine Beine einknickten und ich mich auf den Boden sinken ließ. Ich presste den Kopf zwischen die Knie und ich versuchte verzweifelt nach Luft zu ringen. Jessy begann erneut zu weinen, während Cleo beruhigend auf sie einredete. Phil drückte mir ein Glas Wasser in die Hand und setzte sich wie selbstverständlich zu mir. Der Schock lähmte uns alle auf unterschiedliche Art und Weise und so dauerte es einen Moment, ehe wir uns alle gefangen hatten. Es war Dan, der sich schließlich zuerst zu Wort meldete.
Dan: Mir reicht es jetzt, es wird Zeit, dass wir handeln.
Jake: Das ist doch genau das, was der Entführer will. Wir dürfen jetzt nicht unvorsichtig werden.
Jessy: Unvorsichtig? Richy ist da draußen und er lebt! Er hat um unsere Hilfe gebeten, wir können jetzt nicht hier sitzen und abwarten!
Cleo: Und was schlägst du vor? Sollen wir jetzt mit Fackeln und Mistgabeln in den Wald ziehen? Es ist nicht das erste Mal, dass so eine Aktion nach hinten losgeht.
Lilly: Cleo hat Recht, Jessy, wir sollten jetzt nichts überstürzen.
Dan: Nicht mit Fackeln und Mistgabeln.
Dan: Aber mit den Baseball-Schlägern, die Phil in seinem Keller hat.
Alle Augen richteten sich nun auf den Angesprochenen, der aber nur lässig mit den Schultern zuckte.
Phil: Habe ich mal einer Rockerbande abgeknöpft, nachdem sie mich um hundert Mäuse beschissen hatten.
Thomas: Ich weiß nicht so recht, der Wald ist tabu…
Dan: Wir sind sieben Leute und dieses Arschloch ist alleine. Ich sage, wir überwältigen ihn jetzt und warten nicht bis zu diesem dämlichen Fest. Er rechnet nicht damit und wir setzen diesem Spuk ein für allemal ein Ende, was meint ihr?
Jake: Nach wie vor halte ich das für keine gute Idee. Ich muss euch bitten, dass ihr dem Wald fernbleibt, bis wir davon ausgehen können, dass es sicher ist.
Phil: Das werden wir aber nie und es muss doch einen Grund geben, dass Richy Ellie anruft. Er vertraut ihr. Vertraust du ihm, Ellie?
Ich versuchte meine Stimme zu finden, um zu antworten, doch ich schaffte es nicht. Meine Lunge krampfte sich zusammen, während ich zwanghaft versuchte irgendetwas zu sagen. Nichts.
Jake: Ist alles in Ordnung?
Lilly: Ich denke, sie hat eine Panikattacke, Jake.
Phil: Ich kümmere mich um sie.
Jake: Wie wärs wenn du dich um deinen…
Er löschte die Nachricht, bevor er sie zu Ende geschrieben hatte.
Dan: Ich sage, wir gehen in den Wald und überraschen diesen Drecksack, wer ist dabei?
Phil: Du kannst auf mich zählen.
Jessy: Ich bin auch dabei.
Thomas: Wir sollen zusammen bleiben und je mehr wir sind, desto größer ist die Chance, dass wir ihn kriegen.
Cleo: Ihr seid von allen guten Geistern verlassen.
Jake: Ich bitte euch wirklich inständig, geht nicht in den Wald!
Doch es war bereits zu spät. Zu schwach um aufzustehen, sah ich dabei zu, wie sie in das Zimmer hinter der Theke gingen, um sich auszurüsten. Zuerst waren Cleo und Lilly zurück geblieben, doch auch sie gingen nach einer Weile zu den anderen, um sich einen schwarzen Mitarbeiter-Pullover der Aurora zu holen. Dan, Phil und Thomas schwangen triumphierend einen Baseballschläger. Als ich sie da stehen sah, einsatzbereit und nicht ganz stabil auf den Beinen, wurde mir bewusst, dass sie genauso wie ich, angetrunken waren.
„Leute“, umständlich raffte ich mich auf, „lasst es bitte, wartet wenigstens bis morgen. Wir können die Polizei informieren und die durchsuchen das Haus für uns…“
„Nur damit dann wieder alles weg ist, Ellie“, dass war Jessy, die halb wütend, halb weinend auf mich zulief, „damit sie wieder nichts finden? Irgendwann ist er wirklich tot. Richy darf nicht sterben!“
Ich beobachtete, wie sie sich die Pullover überzogen – einer nach dem anderen und dachte an den Anruf.
Ich werde jeden von ihnen töten – vor deinen Augen.
Mühsam schob ich mich zurück auf die Füße nach oben und öffnete den Messenger.
Ellie: Sie wollen alle gehen, Jake, ich kann sie nicht alleine gehen lassen.
Jake: Tu‘ das nicht Ellie, bitte. Bleib dort, ich kann dich abholen, wenn du willst.
Ellie: Wenn ich sie nach diesem Abend nie wieder sehe, kann ich mir das nie verzeihen.
Ich schob das Handy in die Tasche und wartete nicht auf eine Antwort, als mich meine Füße hinter den anderen nach draußen in die kalte Nacht trugen.
*
Der Weg von der Aurora zu dem Waldstück, wo man am schnellsten zur Mutprobenhütte gelangte, dauerte circa fünfzehn Minuten zu Fuß. Die Stimmung aller war seltsam aufgeladen, fast siegessicher, während ich etwas abgeschieden unsicher hinter ihnen herlief. Dan, Phil und Thomas waren offensichtlich mehr angetrunken, als ich bisher vermutet hatte, denn sie begannen sich gegenseitig anzufeuern, als sie sich immer mehr erzählten, wie sie den Entführer zur Strecken bringen wollten. Ich wusste, dass ich sie eigentlich hätte umstimmen müssen, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass das in meiner Macht stand, also folgte ich ihnen weiter.
Auch Lilly, Jessy und Cleo wirkten nicht ganz so enthusiastisch wie die drei und sahen sich mehrfach unsicher um. Mir war bewusst, dass das eine dumme Idee war, aber mein betrunkener Kopf sagte mir, dass wir eine echte Chance hatten, den Mann ohne Gesicht zu überwältigen und Richy – vielleicht sogar Hannah retten konnten.
Als wir ein paar Schritte in den Wald gelaufen waren, umfing uns sofort die absolute Dunkelheit der Nacht. Ich war unfähig meine eigene Hand vor Augen zu sehen und hatte große Mühe, den anderen zu folgen, die plötzlich viel weiter vor mir liefen, als gedacht. Schnell versuchte ich, durch ein paar größere Schritte aufzuholen, als ich plötzlich wie aus dem Nichts über eine Wurzel fiel und mit dem Kopf auf einem Stein aufschlug.
Ein stechender, fast lähmender Schmerz drang in meine Stirn und warme Flüssigkeit lief über mein linkes Auge. Ich rief nach den anderen, doch die schienen plötzlich so weit weg zu sein, dass sie mich nicht mehr hörten. Die Zähne zusammen beißend, richtete ich mich auf und versuchte mich daran zu erinnern, in welche Richtung ich gehen musste, als sich plötzlich blitzschnell eine feste Hand um mein Handgelenk schloss und mich zurück zerrte.
Ich setzte zu einem Schrei an, während ich meinen Angreifer von mir wegdrückte, doch noch bevor auch ein Ton aus meinen Lippen dringen konnte, hatte seine Hand meinen Mund verschlossen.