Duskwood am Tag war komplett anders als morgens. Die Läden waren erwacht und die Straßen voller Menschen. Es gab viele kleine Cafés und die ein oder andere Bar. An dem kleinen Buchladen mit den hübschen Schaufenstern konnte ich nur schwer vorbei gehen und das kleine Kino kündigte für morgen einen Film an, den ich schon lange auf meiner To-Do-Liste hatte.
Diese Stadt war ein Ort, in dem meine Eltern sicher Urlaub machen würden. Nicht zu abgelegen, nicht zu groß, idyllische Häuserfassaden und ein Wald für eine Tageswanderung nach der anderen. Einen kleinen Moment schossen mir Erinnerungen von den Wochenend-Wanderungen bei uns zu Hause durch den Kopf, nur wir – meine Eltern, mein Bruder und ich – damals gab es Herrn Müller noch nicht und ich war begeistert von jedem Stein und jedem Blatt, das irgendwie besonders ausgesehen hatte.
Ich seufzte die Erinnerungen davon, als ich auf den Marktplatz zukam. Jessy hatte mit ihren Fotos so ziemlich alles aufgefasst, was den Marktplatz ausmachte, der Brunnen, die kleinen Häuser, nichts Besonderes.
Ich gönnte meinem Hund ein paar Minuten Brunnenwasser, während ich meine Gedanken ordnete.
Jake war seit unserem kleinen Streit offline geblieben, was mich wiederrum wütend machte. Ich hatte eine Weile hin und her überlegt, aber ich verstand sein kühles Auftreten mir gegenüber nicht. Eine Zeit lang war er anders gewesen, doch jetzt wirkte er distanziert und oftmals kurz angebunden und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht verletzen würde.
Jake war nicht der erste Mann, in den ich mich verliebt hatte. Meine vorige Beziehung war mittlerweile vier Jahre her und war eine Schulliebe gewesen, aber ab und zu verschenkte ich mein Herz. Da gab es denn Typen aus meiner Uni, mit dem ich manchmal zusammen gelernt hatte, oder den einen, der bei uns im Kino das Popcorn verkaufte. Schöne Männer gab es viele und dennoch erwischte ich mich oft dabei, dass mir etwas fehlte. Jede Unterhaltung, jedes Gespräch fühlte sich so ausgehöhlt an.
So leer.
Es hatte sich ständig so angefühlt, als würde ich nach etwas suchen, was es einfach nicht gab.
Jemand, mit dem ich lachen konnte.
Jemand, der mich verstand.
Auch wenn ich Jake nicht lange kannte und wir uns bisher nur geschrieben hatten, fühlte sich das alles bei ihm so anders an.
Vielleicht war es nur deswegen, weil ich nicht wusste, wer er war.
Vielleicht war es der Reiz des Geheimnisvollen.
Vielleicht war es genau die Tatsache, dass er mir in einem Moment so viel Aufmerksamkeit schenkte und mich im nächsten Moment im Regen stehen ließ.
Du bist verrückt, Ellie würde meine beste Freundin sagen und ich war mir sicher, dass sie recht hatte.
Doch egal, wie sehr ich mir einredete, dass ich einem Luftschloss hinterherlief – mein dummes Herz wollte es einfach nicht hören.
Und weil er offensichtlich Angst vor all dem hatte, entfernte er sich von mir.
Und das machte mich wütend.
Rogers Garage war zehn Minuten vom Marktplatz entfernt. Das Gute an Duskwood war, dass man ausnahmslos alles fußläufig erreichen konnte. Die Straßen wurden zum Stadtrand hin immer lichter und das große, bunte Schild der Werkstadt konnte man schon von Weitem sehen. Eigentlich wollte ich zuerst mit Alfie und seiner Mutter reden, hatte mich dann aber an mein Bauchgefühl gehalten und war am Marktplatz nach Osten abgebogen.
Richy hatte erzählt, dass die Werkstatt nicht gut lief, seit Tooltastic – eine Filiale einer großen Kette - in der Stadt aufgetaucht war. Wir sind dieser Tatsache nicht nachgegangen, da sie eigentlich rein gar nichts mit Hannahs Verschwinden zu tun gehabt hatte. Ich war mir aber sicher, dass gerade, weil wir viele Nebeninformationen außer Acht gelassen hatten, jetzt in dieser Situation waren. Ich wollte Jake so gerne davon erzählen, was ich vorhatte, doch er würde durchdrehen, wenn er wüsste, dass ich hier war.
Ich hatte ihm versprochen, nicht nach Duskwood zu fahren, deswegen musste ich es vor ihm geheim halten. Auch die anderen sollten zunächst nichts davon wissen. Nur so war es mir möglich, einen absolut neutralen Blick auf alles zu bekommen.
Tooltastic war eine große Kette, die nun schon einige Jahre in Duskwood war. Seitdem ging es mit Rogers Garage bergab. Richy war die ganze Zeit der Chef der Garage, denn sein Vater hatte ihm den Posten überlassen. Aus den Chats mit ihm hatte ich herausgelesen, dass sein Vater ihm den Misserfolg zuschob und das auch regelmäßig an ihm ausließ.
Aufgrund des ersten Eindruckes, den ich heute Morgen von ihm bekommen hatte, konnte ich mir vorstellen, wie schwer das für Richy gewesen sein musste.
Schon der Druck allein, ein Familienunternehmen leiten zu müssen, würde für mich ausreichen, um einzuknicken. Aber er hatte sich noch versucht gegen die Konkurrenz durchzusetzen.
Das war hart.
Und dennoch hatte sich Richy nicht ein einziges Mal, in der Zeit, in der ich Kontakt zu ihm hatte, darüber beschwert. Er hatte immer dafür gesorgt, dass die Gruppe nicht in ihren Sorgen ertrank. Dabei war er es gewesen, der Hannah zuletzt gesehen hatte.
Dabei war er es gewesen, der oft genug von den Anderen nicht ernst genommen wurde.
Dabei hatte ich manchmal das seltsame Gefühl, dass er deplatziert in der Gruppe gewirkt hatte. Anders.
Zu gutherzig.
Ich hatte schon oft erlebt, dass solche Menschen eine Clique zusammenhielten und dabei selbst wie in einem Mahlwerk zermalmt wurden. Das konnte zermürbend sein.
Zermürbend und frustrierend.
Ich setzte mich auf eine Bank kurz vor der Einfahrt zu Rogers Garage und zog mein Smartphone aus der Tasche. Ich benötigte einen Moment, um nochmal über die Informationen zu gehen, die ich schon hatte. Dabei konzentrierte ich mich besonders auf alle Informationen, die ich mit Richy in Zusammenhang bringen konnte.
Jake: Was machst du gerade?
Ich zuckte zusammen und fühlte mich ertappt. Meine Finger schwebten über den Bildschirm, aber ich wusste nicht, was ich schreiben sollte.
Jake: Ellie?
Ich presste meine Lippen aufeinander und schloss die App.
Nein. Ich war wütend und wusste außerdem überhaupt nicht, was ich ihm schreiben sollte. Ich konnte zwar ganz gut lügen, aber es fiel mir sehr schwer bei Menschen, die mir wichtig waren.
Stattdessen stand ich auf, gab Herrn Müller ein Zeichen und wir liefen gemeinsam durch das offene Tor der Werkstatt.
Der Hof war groß und leer. Ein paar desolat wirkende Fahrzeuge standen quer über den Parkplatz verteilt und wirkten nicht so, als wären sie auch nur ansatzweise reparabel, aber ich hatte auch zu wenig Wissen darüber, als dass ich sowas hätte einschätzen können. Auf dem Hof befand sich eine Baracke, in dem sich wohl das Büro befand in dem Jessy arbeitete, daneben mehrere geschlossene, große Garagentore – eines davon verhangen mit einem großen Plakat.
Darunter war das Zeichen – die Markierung – des Raben.
Hier war der Anfang von Richys Ende.
Zögerlich lief ich über den Kiesboden. Die Mittagssonne brannte mittlerweile und das Hecheln meines Hundes war alles, was ich hörte.
Die Luft fühlte sich elektrisch aufgeladen an, als ich mit den Fingerspitzen das Plakat berührte. Mein Herz schlug wie verrückt, als ich daran zog und es schließlich zu Boden fiel.
Sie hatten versucht ihn zu entfernen, dennoch war er noch genauso prominent, wie auf dem Bild, was er uns geschickt hatte.
Als ich den Raben in echt so vor mir sah, fühlte sich sein Anblick so an, als hätte mir jemand in die Magengrube geschlagen. Ich atmete zischend Luft aus, während ich einige Schritte nach hinten stolperte.
Ich war hier.
In Duskwood.
Das war real.
Richy war gestorben. Direkt vor meinen Augen.
Meine Hände begannen zu zittern und meine Beine gaben nach.
„Was suchen SIE den hier?", seine Augenbrauen berührten beinahe einander, als er mich auf dem Boden kauernd vorfand, „hatten wir uns heute früh nicht schonmal getroffen?"
Seine Haare waren frisch gewaschen und sein Gesicht hatte einen Rasierer gesehen, aber Richys Vater sah nach wie vor alkoholisiert aus und die Lautstärke, mit der er sprach, unterstrich das noch zusätzlich.
Eine Weile saß ich einfach nur im Dreck und starrte ihn an und er starrte zurück.
Herr Müller wurde langsam nervös.
„Also?"
Ich blinzelte.
„Also was?"
„Was machen sie hier", er wurde noch lauter, „wir haben geschlossen. Trauerfall. Das sieht man doch!"
„Ich, ähm...", umständlich raffte ich mich auf, „Ich habe nachgedacht. Über Richy... äh... über... ihren Sohn."
Er nickte und schirmte seine Augen mit Händen ab.
„Sie kannten ihn?", er nickte sich selbst zu, „kommen sie... kommen sie rein."
Er lief behäbig vor mir ins Büro, wo ich von dem großen Aquarium – von dem Jessy erzählt hatte – begrüßt wurde. Ricky Vater ließ sich in den große Bürostuhl sinken und deutete mit einer Geste auf einen kleinen Hocker, während er Herrn Müller beobachtete.
„Süß", murmelte er, „ich hasse Hunde. Unsere Nachbarn – die Masons – hatten so einen riesigen Hund... die, wie heißen die ... wie in der Serie..."
„Schäferhund?"
„Ja, ja...", er nickte heftig, „Schäferhund war das, richtig. Was für eine Scheiss-Töle, das sag ich ihnen. Hat ständig alles vollgeschissen. Einmal, da wollte ich mein Gewehr holen und..."
„Sie haben eine Waffe?", er zuckte ertappt zusammen. Sein ganzes Gesicht faltete sich ineinander.
„Ich habe einen Jagdschein", ein Räuspern, „es war ja nicht... ich hab ja gar nicht. War ja nur Spaß, wissen sie? Doris hätte das verstanden, sie hätte gelacht", ein freudloser kurzer Lacher, ein Hauch, leblos, müde. „Aber iss ja alles vor die Hunde gegangen. Tja, hier lacht jetzt niemand mehr."
Für einen Moment legte er seinen Kopf in die Hände und ich lauschte seinem leisen Gemurmel. Wie sich das wohl anfühlen musste, wenn man so viel verloren hatte. Was wohl seine letzten Worte gewesen waren, die er zu seinem Sohn gesagt hatte?
„Doris?", hakte ich nach.
„Meine Frau", seine Hand wanderte über sein Gesicht, „sie ist krank. Schlaganfall vor zehn Jahren... üble Geschichte."
„Das tut mir leid"
„Mhm", er nickte, „haben sie schonmal alles verloren – innerhalb weniger Tage? Einfach alles?"
Seine Augen wurden plötzlich klar. Neugierig. Suchend.
„Ich... ich weiß, was der Verlust von Richy für sie bedeutet. Er war... war sowas wie ein Freund für mich..."
Schallendes Gelächter hallte durch den Raum, hinaus auf den Hof und wanderte durch Duskwodds Straßen.
Ein Lachen – so laut, dass ich meine eigenen Gedanken kaum hören konnte.
Als er endlich fertig war, wischte er sich Spucke aus den Mundwinkeln.
„Das meine ich nicht, Fräulein. Richy... er ist schon seit Jahren nicht mehr mein Sohn..."
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
„Was genau meinen sie?"
„Doris... vor zehn Jahren. Das war Richys schuld" er lächelte ein unfassbar trauriges Lächeln, „nur weg gewesen ist der. Draußen mit seinen Freunden und Doris immer hinterher, wollte ja nicht auf mich hören. Obwohl ich es ihr gesagt habe. Lass ihn, hab ich ihr gesagt, renn nicht immer hinterher, lass den doch machen, aber sie wollte ja nicht hören und tja..."
Wieder murmelte er vor sich hin, während meine Gedanken rasten. Das hier war ein neuer Hinweis, ein Puzzleteil, was fehlte. Das Verhältnis von Richy und seinem Vater war nicht so schlecht, weil die Werkstatt nicht gut lief, sondern weil er Richy verantwortlich machte, für das was seiner Frau passiert war.
„Was ist denn passiert?"
Richys Vater blinzelte.
„Abgehauen ist er, mal wieder. Hatte nur Flausen im Kopf. Dunkel war es und er und die anderen sind in den Wald gerannt, das war... ich weiß noch da war so ein... ein Fest. Naja, und Doris ist dann einfach hinterher, dabei wollte ich noch mit ihr tanzen. Tanzen, tja, das kann sie heute nicht mehr, wissen sie?"
Ich schluckte. Der Zufall wäre zu groß gewesen, wenn es sich hier um ein anderes Fest handeln würde als...
„Was genau ist denn passiert an dem Abend?"
„Sie ist ihm hinterher und ... tja keine Ahnung, vielleicht war ich auch nicht mehr ganz nüchtern, tja. Er hatte sich erschreckt, oder so und dann hat sie sich erschreckt und ist zusammengebrochen. Keine Ahnung tja, und dann ging der ganze Trubel los mit der Polizei und dem ganzen Tamtam. Ich hab da nicht durchgesehen. Seitdem kann sie nicht mehr ordentlich laufen, aber das... das war nicht das Schlimmste, der Geist war weg. Keinen einzigen Satz kann sie noch geradeaus sprechen. Nichts. Nur Blödsinn! Meine Doris ist da nicht mehr und der Bengel... der musste ja auch erstmal zum Therapeuten...und..."
„Richy war in Therapie?"
Die Stille, die daraufhin folgte, war beißend. Plötzlich hellwach bohrten sich seine Augen in meine.
„Wer genau sind sie nochmal, sagten sie?"
Ich schluckte.
„Eine Freundin von Richy, ich...", ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff ich nach der Leine meines Hundes, „ich will sie auch gar nicht länger stören, sie ähm... sie haben sicher zu tun."
Er ergoss einen weiteren zusammenhanglosen Schwall über mich, als ich das Büro verließ. Ich beschloss es erstmal dabei bleiben zu lassen, denn auch schon jetzt schienen mir einige Zusammenhänge klarer zu sein als zuvor.
Nicht nur ist Jennifer Hanson an besagtem Abend verschwunden, auch Richy und seiner Mutter muss etwas Schreckliches zugestoßen sein.
Dass es da keinen Zusammenhang gab, schien mir dabei sehr unwahrscheinlich zu sein.
Doch was hatte Hannah damit zu tun?
Nach einem kurzen Mittagessen in der Stadt, verzog ich mich auf mein Zimmer, wo Herr Müller schlafen und ich ein wenig an Hannahs Cloud arbeiten konnte.
Systematisch ließ ich die Daten durch mehrere Skripte laufen, um sie so zu entschlüsseln. Da Hannah keine besondere Expertise in Informatik zuhaben schien, war es n den meisten Fällen ziemlich einfach, die Daten zu entschlüsseln. Nur wenige Dokumente und Dateien, hatten eine schwierigere Verschlüsslungsart, was darauf schließen ließ, dass diese wichtig für sie gewesen waren.
Heute erwischte ich ein weiteres Selfie von ihr und ein Backrezept, was Cleo ihr geschickt hatte. Kommentarlos leitete ich meine Funde an Jake weiter und schloss danach den Laptop.
Ich musste mir irgendwie überlegen, wie ich den anderen meine neu gewonnenen Informationen unterjubeln konnte, ohne dass sie mitbekamen, dass ich mich in Duskwood befand.
Ich müsste über kurz oder lang lügen müssen – oder aber, ihnen die Informationen so in den Mund legen, dass sie von selbst draufkommen würden und so nicht ohne weiteres mitbekommen, dass sie das alles von mir hatten.
Ich legte mich bäuchlings aufs Bett und schrieb ein wenig mit Jessy. Thomas langweilte sie – was ich mir wirklich vorstellen konnte – und gleichzeitig war sie sehr nervös. Dass ihre Nerven völlig am Ende waren, konnte ich sehr gut nachvollziehen. Meine Nerven lagen genauso blank wie ihre, auch wenn ich durch meine Anonymität nicht in solch einer akuten Gefahr war, wie die beiden.
Ich schaffte es, alle zu einem Doodle-Spiel zu überreden, doch das hellte die Stimmung nur bedingt auf und als die Uhrzeiger immer mehr in Richtung des verabredeten Termins liefen, beschloss ich, dass ich Lust auf ein Stück Kuchen hatte und schwang mich erneut aus dem Bett.
Das Kaffee Regenbogen lag genau auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt und war zu der Zeit, als ich eintraf gut besucht. Ich suchte mir einen kleinen Tisch abseits, an dem ich die ganze Räumlichkeit gut überblicken konnte und setzte mich. Ich war selbstverständlich viel zu früh – was meiner Aufregung geschuldet war und bestellte mir einen Milchkaffee und ein großes Stück Schokoladenkuchen. Herr Müller hatte so erschöpft gewirkt, dass ich ihn zu Hause gelassen hatte, also saß ich hier nun allein und furchtbar nervös vor meiner dampfenden Tasse und versuchte möglichst unauffällig zu sein.
Ich öffnete die Messenger-App nur um drei neue Nachrichten von Jake vorzufinden.
Jake: Warum reagierst du nicht?
Jake: Bitte Ellie. Ich denke, ich kann dich verstehen, aber bitte melde dich.
Jake: Geht es dir gut?
Egal, wie wütend ich auf ihn war, in diesem Moment bohrte sich das schlechte Gewissen, wie ein rostiger Nagel in mein Herz. Ich begann zu tippen.
Ellie: Hey...
Jake: Ellie!
Jake: Ist alles in Ordnung bei dir?
Ellie: Ja, alles gut. Tut mir leid. Ich war beschäftigt.
Jake: Ich habe mir Sorgen gemacht!
Jake: Ist wirklich alles in Ordnung?
Ellie: Ja, Jake, alles gut. Ich habe nur nochmal über alles nachgedacht, aber dazu sage ich dann was, wenn die anderen da sind. Ich bin bereits hier und warte...
Den letzten Absatz löschte ich sofort wieder und tippte dann weiter:
Ellie: Ich bleibe online bis sie sich melden. Du auch?
Jake: Natürlich.
Jake: Ein bisschen Zeit haben wir ja noch.
Ellie: Ja, das stimmt. Was machst du gerade?
Er begann zu tippen, löschte wieder alles, tippte dann erneut. Ich seufzte.
Jake: Ich bin da gerade an etwas dran. Ich weiß noch nicht, ob es Sinn macht, dem nachzugehen. Aber sobald ich mehr weiß, weihe ich dich ein, versprochen.
Ellie: Okay.
Nervös blickte ich zur EIngangstür, welche sich gerade öffnete. Ich blinzelte ein paar Mal, denn da stand Cleo. Sie war größer als ich vermutet hatte und ihr Gesicht war freundlicher. Hastig lief sie zu einem der Tische direkt in der Mitte des Lokals.
Jake: Okay? Das sieht dir gar nicht ähnlich.
Ellie: Was meinst du?
Jake: Dass du nicht nachfragst. Bist du abgelenkt?
Sie ließ von der Kellnerin ein paar weitere Stühle an den Tisch stellen und setzte sich dann. Kurz darauf aktualisierte sich der Gruppenchat.
Cleo: Bin da. Natürlich, wie immer zu früh.
Danach eine Beschreibung, wo genau sie saß und wartete.
Jake: Ellie?
Ellie: Ja?
Jake: Was ist denn los? Du bist anders, das merke selbst ich.
Ellie: Es ist nichts Jake. Vielleicht bin ich einfach nur müde. Keine Ahnung.
Jake: Das Gefühl kenne ich.
Ellie: Ja, du schläfst ja auch so gut wie niemals. Ich glaube müde ist doch dein Normalzustand, oder?
Jake: :)
Jake: Vielleicht.
Jake: Aber du weißt, dass ich nicht von diesem müde sprechen.
Ellie: Mhm.
Jake: Bitte gib nicht auf, Ellie. Wir sind so nah dran. Und ich...
Jake: Ich weiß, was du dir wünschst.
Die Tür öffnete sich erneut.
Jake: Und ich wünsche mir das auch.
Es waren Jessy und Thomas.
Jake: Glaub mir, mehr als du dir vorstellen kannst.
Ich starrte auf mein Handy. Gebannt. Sprachlos.
Jessy: Wir sind auch da.
Thomas: Ja.
Meine Finger flogen über den Bildschirm. Ich versuchte den Moment einzufangen, bevor er erneut vorbei sein würde.
Ellie: Letztens, als Phils Anruf uns unterbrochen hatte... Ich hätte so gerne gewusst, was du dazu gesagt hättest. Ob es dir auch so geht und wie du es dir vorstellst, weißt du? Wie es wäre, dich zu sehen, dich vor mir zu haben, deine Hand zu nehmen...
Ellie: Tut mir leid.
Ellie: Ich fange schon wieder damit an.
Jake: Nein.
Jake: Mir tut es leid. Du solltest dich nicht schlecht fühlen, wenn du so etwas schreibst. Es ist nur so...
Jake: Ich habe das Gefühl nicht klar denken zu können, wenn ich darüber nachdenke, wie es wäre dich...
Jake: Lass uns diesen Fall lösen, Ellie und dann...
Ich schluckte.
Ellie: Und dann?
Jake: Dann gehören meine Gedanken nur noch dir.
Ich zuckte zusammen, als ich merkte, wie sich meine Zähne in meine Unterlippe gebohrt hatten. Mir war schwindelig und warm und ich verbrühte mir die Zunge bei dem Versuch meinen Kaffee in großen Zügen zu trinken. Mein Kopf war in den Wolken und er hatte recht.
Ich konnte nicht klar denken.
Ellie: Du hast recht.
Jake: Ich weiß.
Jake: Aber mit was genau?
Ich kicherte albern.
Ellie: Wir sollten uns auf den Fall konzentrieren.
Einige Minuten später war auch Lilly aufgetaucht. Sie war im Gegensatz zu den anderen erstaunlich klein und wirkte sehr ruhig, als sie sich zu den anderen setzte. Jessy, die wild gestikulierend mit Cleo diskutierte, hatte sie zunächst gar nicht bemerkt, bis Thomas sie drauf hinwies, dass sie jetzt vollständig waren. Lilly beobachtete die Runde, während alle anderen erneut begannen, aufeinander einzureden.
Lilly: Wir sind alle da.
Lilly: Wie machen wir das jetzt?
Einen Moment später kam auch Dan online und begann zu tippen.
Dan: Hallo allerseits. Bestellt ein Bier für mich mit.
Cleo: Dan...
Jake: Am besten, ihr stellt die Sprachfunktion eures Handys ein, so können wir lesen, was ihr sprecht.
Jessy: Gute Idee, so müssen wir nicht schweigend vor uns hin tippen.
Ich beobachtete, wie alle aufgeregt auf ihren Handys herumdrückten. Jessy schien nicht wirklich zurecht zu kommen, doch Thomas half ihr.
Lilly: Geht das jetzt?
Ellie: Es scheint zu funktionieren.
Dan: Ist ja cool, das geht ja wirklich!
Cleo: Dan, du brauchst das nicht machen, du liegst im Krankenhaus.
Dan: Ist aber witzig. Wartet blblbl nein blblbl
Jake: Was soll das, Dan?
Dan: Ich versuche zu rülpsen!
Thomas: Oh man...
Jake begrüßte alle und alle diskutierten darüber, wo sie einen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen sehen würden. Ich versuchte so gut es ging, das Gespräch unauffällig auf Richy und seine Mutter zu lenken.
Cleo: Richys Mutter? Oh Ellie, das ist so eine traurige Geschichte.
Jessy: Ricky redet da nicht gerne drüber. Er gibt sich an allem die Schuld.
Thomas: Nein, sein Vater war es. Er gibt ihm die Schuld.
Jake: Interessant. Inwiefern kann uns das weiterhelfen?
Ellie: Ich weiß nicht, ich habe mich nur gefragt, on es da einen Zusammenhang geben kann.
Dan: Zwischen was und was?
Jessy: Oh! Ich verstehe, Ellie! Wegen des Zeichens des Raben... Richy hat eine Sünde begangen! So war es doch, und jetzt ist er ...
Thomas: Ich weiß aber nicht, ob das jetzt nur zufällig dazu passt, oder nicht.
Jessy: Wisst ihr was? Ich frage Roger morgen mal, mir wird er es sicher erzählen.
Perfekt.
Ellie: Danke Jessy, das wäre gut.
Jake: Interessanter Ansatz, Ellie. Darauf wäre ich nicht so ohne Weiteres gekommen.
Mist, das war ungünstig. Es könnte als Kompliment durchgehen, aber mir war Jakes Unterton in dieser Nachricht durchaus bewusst.
Dan: Ja, ja, ja Ellie ist unser Super-Brain, wir haben es alle verstanden.
Jake: Von dir kam bisher leider nichts, Daniel. Ich bin gespannt, was du beizutragen hast.
Dan: Ich habe tatsächlich was.
Cleo: Na da bin ich ja mal gespannt.
Dan: Ich war es. Ich habe Phil angeschwärzt.
Ellie: Oh Gott, Dan!
Thomas: ...
Jessy: Ist das dein Ernst?
Die Leute im Kaffee schauten sich verwirrt nach Jessy um, die völlig aufgelöst die Fäuste ballte.
Lilly: Beruhige dich bitte, Jessy. Das bringt doch nichts.
Jessy: Das bringt nichts? Dan, wie konntest du nur? Was hat dir Phil jemals getan? Ihr wart Freunde, verdammt!
Dan: Der Unfall. Ich bin nicht auf Arbeit erschienen und er war wütend. Außerdem weiß ich ja, dass er nicht gerade begeistert ist, dass ich... tja, auf seine Schwester stehe, dann die Sache, wie er über Hannah geredet hat und der Krankenhausbesuch...
Jessy: Er würde niemals, niemals irgendjemanden etwas tun. Niemals, Dan.
Dan: Ich habe es aber damals gedacht.
Ellie: Ach man, Dan...
Dan: Ich weiß. Ich bin ein Vollididot, okay? Ich weiß das doch!
Dan: Und als mir heute die Schwester gesagt hat, dass er nur wissen wollte, ob es mir gut geht, ist mir das auch klar geworden.
Cleo: Mhm...
Thomas: Aber deine Zweifel waren ja nicht unbegründet.
Dan: Naja, doch. Letztendlich habe ich mir da zu viel zusammengereimt. Zu viel Krankenhausluft geschnuppert. Was auch immer.
Jessy: Und jetzt? Soll ich dankbar sein, dass du zu dieser Erkenntnis gekommen bist, oder wie? Phil ist immer noch im Gefängnis! Wegen Dir!
Dan: Nicht mehr lange. Ich habe meinen Anwalt kontaktiert. Ich werde meine Aussage zurückziehen.
Cleo: Bitte was?
Jake: Das ist eine gute Entscheidung, Daniel. Ich glaube auch nicht, dass Jessicas Bruder damit etwas zu tun hat.
Jessy: Das sage ich die ganze Zeit schon, doch keiner hört mir zu.
Die Tränen, welche über Jessys Gesicht liefen, waren auch aus der Entfernung unschwer zu erkennen. Mein Kopf dröhnte, also stand ich auf und suchte die Toilette auf.
Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren und ich hörte beinahe nichts anderes mehr.
Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ das eiskalte Wasser über meine Handgelenke laufen. Die Augen schließend, atmete ich tief ein und aus. Phil würde also so bald wie möglich aus dem Gefängnis kommen, das würde es einfacher machen ihn zu befragen.
Auch von Jessy würde somit einiges an Belastung abfallen.
Die Tür des Bads öffnete sich erneut, doch ich blieb einfach stehen.
Ein paar Minuten noch. Durchatmen.
Dieser Tag ging schon viel zu lang.
Mein Handy vibrierte in der Hosentasche, also zog ich es hinaus, um draufzuschauen. Die Diskussion drehte sich nun darum, wie Dan sich bei Jessy entschuldigen sollte. Ich musste ein wenig lachen und sah in den Spiegel.
Und am Waschbecken neben mir stand Lilly.
Mit dem Handy in der Hand – und sie starrte mich an.
Ich war wie erstarrt, festgefroren wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Mein Handy vibrierte erneut, ihres ebenso.
Cleo: Leute, beruhigt euch doch mal.
Lilly zog eine Augenbraue nach oben. Schaute nur. Die braunen Augen, fest, konfrontierend.
„Ähm hey?", murmelte ich und versuchte dabei angemessen verwirrt zu wirken, in der Hoffnung sie so überzeugen zu können.
„Ellie?"
Fuck.
„Mhm?" Erneutes Vibrieren beider Handys. „Ich weiß nicht, wen du meinst. Ich bin Anja... ähm, sorry"
Ich versuchte mich an ihr vorbeizuschieben und zurück ins Kaffee zu kommen, da vibrierte mein Handy erneut.
„Du solltest das lieber lesen."
Zitternd öffnete ich erneut meine Messenger-App.
Es war eine Privat-Nachricht.
Lilly: Hör auf mich zu verarschen. Ich weiß, dass du es bist.