„Mist, meine Jacke…“
Hannah sah an sich herunter, auf der pinkfarbenen Jeansjacke prangte ein roter Fleck, der kaum übersehbar war.
„Ich darf doch gar keine Limo trinken“, verzweifelt strich sie mit ihrer Hand darüber, was die Situation nur verschlimmerte, „ich bekomme bestimmt Ärger…“
„Quatsch, deine Eltern sind voll nett“, Amy trank den letzten Schluck ihrer Limonade leer und warf den Pappbecher achtlos auf den Boden. Als sie sich umdrehte, hob ich ihn schnell auf und warf in den Müll.
Amy war cool.
Vermutlich cooler als ich.
Aber mein Vater hatte mir erklärt, dass es nicht in Ordnung war, seinen Müll einfach so rumliegen zu lassen, also hob ich ihn hinter ihr auf – heimlich natürlich.
Amy verdrehte die Augen und schlüpfte aus ihrer eigenen, ebenso pinkfarbenen Jacke und reichte sie meiner verzweifelten Freundin. „Hier nimm meine.“
Das Fest war bereits im vollen Gange und eigentlich war ich schon sehr oft beim Pineglade zu Besuch, aber heute war es anders.
Heute war es besonders.
Heute durften wir zum ersten Mal auch die Abendveranstaltungen am See besuchen und das Feuerwerk sehen. Wir hatten sogar echte Blumenkränze bekommen – Amys Mutter hatte sie uns aus den Blumen ihres großen Gartens geflochten und sie jedem von uns in die Haare gebunden.
„Ihr wunderschönen Mädchen“, hatte sie dabei gesagt und uns lächelnd dabei zugesehen, wie wir uns kichernd im Kreis gedreht hatten.
Es war mein vierter Sommer hier in Duskwood und dieser magische Ort mit den hohen Bäumen zum klettern, den alten Häusern, die wie aus meinen Lieblingsmärchen aussahen und dem großen Fest am Ende der Ferien würde für immer mein liebster Urlaubsort sein. Meine Eltern hatten sich ein Ferienhaus hier gekauft, direkt neben dem Haus von Amy und so hatten wir uns auch kennengelernt – ich hatte sie mit meinem Fahrrad umgefahren und sie wollte mich verprügeln.
Gott sei Dank, hatten Hannah und Richy uns rechtzeitig gefunden.
„Schade, dass er nicht dabei sein kann.“
Richy hatte letzte Woche im kleinen Laden an der Ecke ein paar Lutscher geklaut. Wir alle wussten, dass er nur Hannah beeindrucken wollte, auch wenn er sagte, dass es nicht so sei. Er hatte nur zwei Lutscher geklaut, war also klar, dass er andere für Hannah sein musste.
„Mir tut er auch leid“, stimmte Hannah mir zu, während sie das große Feuer beobachtete, „es wäre schöner, wenn er auch hier wäre.“
„Ihr seid doch nur verknallt“, Amy verdrehte die Augen und knuffte ihre beste Freundin in die Schulter, „jeder weiß das.“
„Gar nicht wahr“, verteidigte Hannah sich und schubste Amy, die fast das Gleichgewicht verlor.
Auch wenn es tatsächlich jeder wusste, mochte ich nicht, wie Amy sich deswegen aufspielte. Die Jahre zuvor war sie auch schon immer die Anführerin gewesen, doch dieses Jahr war sie einfach… anders. Ständig war sie wegen irgendetwas wütend, oder eingeschnappt. Hannah hatte das auch bemerkt, doch traute sich nichts zu sagen und Richy… naja Richy bekam sowas nicht so richtig mit.
„Ellie!“
Meine Mutter tippte mir auf die Schulter.
„Gefällt es euch?“
Ich nickte. Meine Mutter trug ein langes Sommerkleid und einen Blumenkranz mit weißen Blüten. Ich fand, sie passten perfekt zu ihren roten Locken. Amys Mutter schob ihr verschwörerisch einen Becher zu.
„Alkohol“, flüsterte Amy uns zu. Wir nickten.
Irgendwann würden wir auch hier stehen, in schönen Sommerkleidern und diesem süß duftenden Getränk in der Hand. Ich fragte mich, ob wir – wenn wir erwachsen waren – auch immer noch Freunde sein würden.
„Irgendwann ziehe ich nach Duskwood“, flüsterte ich Hannah zu, welche über beide Ohren zu grinsen begann.
„Cool! Dann müssen wir in eine WG ziehen. Du, Amy, Richy und ich!“
„Richy nicht“, Amy verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf, „der will doch eh nur mit Lego spielen und Hannah abknutschen…“
„Er will gar nicht knutschen!“
„Wer will kut… kutschen?!“
Lilly, die kleine Schwester schob sich zwischen unseren Beinen hindurch und winkte mit den kleinen, vom Matsch des Sees verschmutzten Händen.
„Lilly Liebes, komm doch bitte“, Hannahs Mutter war eine schlanke sehr große Frau, die wenig lächelte. Ihr Vater hingehen wirkte immer wie jemand, der gerne Witze erzählte.
„Na komm schon…“ Lilly begann zu quengeln und zappelte herum, als Hannahs Mutter sie auf den Arm hob, „Entschuldigt ihr Lieben, aber wir müssen Lilly zu Bett bringen.“ Gestresst pustete sie sich eine Strähne aus der Stirn. Hannahs Vater tätschelte kurz über Lillys blonde Locken.
„Sei doch nicht immer so streng, Liebling“, er berührte kurz ihre Schulter doch diese zog sie genervt weg. „Lass das…“, zischte sie ihm zu und er ließ die Schultern hängen.
Ich hatte Hannahs Eltern noch nie gemeinsam lachen sehen.
„Mäuschen“, wendete sie sich an Hannah, „pass bitte auf dich auf, ich habe Jennifer darum gebeten, ein Auge auf euch zu werfen.“
Amy neben mir versteifte sich.
„Warum Jennifer? Wir können doch auch auf uns selbst aufpassen… und meine und Elisabeths Eltern sind doch auch hier?“
Kichernd mischte sich nun Amys Mutter ein.
„Wozu bezahlen sie denn eine Babysitterin, Amy? Sei nicht albern… wo ist eigentlich dein Vater?“
Verwirrt sah sie sich um, während Hannahs Eltern sich verabschiedeten.
Ich hatte Jennifer bisher ein einziges Mal gesehen. Sie passte abwechselnd auf einige der Kinder in Duskwood auf, um sich ihr Studium zu finanzieren, was sie bald anfangen würde. Sie wollte in Colville studieren und hatte als ich sie das erste mal getroffen hatte von nichts anderem geredet.
Sie hatte sehr lange, blonde Haare, große blaue Augen und eine kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen – Ich fand, sie sah damit wie ein Modell aus und heimlich wünschte ich mir ein wenig, später so wie sie aussehen zu können.
„Die hat ja schon richtige Brüste“, war das, was Richy beim ersten Treffen eingefallen war. Seitdem freute er sich jedes Mal darüber, wenn seine Eltern mal Zeit für sich und somit eine Babysitterin für ihn brauchten.
Deswegen hatte sich Hannah auch letzte Woche einen neuen BH gekauft – einen, der die Brüste hochdrücken soll.
Hannah hatte nur noch gar keine Brüste und Richy war ja nun eh nicht da, also hatte sie auch niemanden, den sie damit beeindrucken konnte.
Genervt sah ich kurz an meinem eigenen Oberkörper herunter und fragte mich, wann es bei mir soweit sein würde.
Während ihre Mutter noch immer suchte, begann Amy plötzlich zu grinsen.
„Ich habe Papa zuletzt dort vorne beim Schuppen zusammen mit Jennifer gesehen.“
Die Angesprochene nickte und lächelte Amy dann zu.
„Danke, Liebes…“
Mit beschwingten Schritten lief sie über den Platz. Das hohe Lagerfeuer warf seltsame Schatten auf den Boden und der Duft der brennenden Tannenzapfen tanzte süß und ein wenig stechend durch die Luft. Langsam atmete ich ein und aus.
Ich liebte diesen Geruch und liebte diesen Abend.
Ich konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden.
„Das war keine gute Idee, Amy“, Hannah hatte sich zu uns gedreht und sah ihre Freundin direkt an, doch Amy einfach weiter auf das Feuer.
„Irgendwann wäre es eh rausgekommen.“
Ich verstand gar nichts und als ich sie fragend ansah, wichen sie meinem Blick aus. Manchmal war es schwierig für mich, die beiden zu verstehen. Sie waren so eine verschworene Einheit und ich besuchte Duskwood nur einmal im Jahr. Es machte mich traurig, dass sie mir nicht erzählen wollten, worum es ging.
„Ellie?... Hey, Ellie!“
Suchend sah ich mich um, bis ich seinen Blondschopf aus einem der Büsche sah.
„Richy!“
Die anderen drehten sich ebenso um.
„Was machst du hier? Hast du nicht Hausarrest?“
Er grinste und zuckte mit den Schultern.
„Mein Vater ist in der Werkstatt und meine Mutter noch bei Freunden, also dachte ich“, er verbeugte sich albern und sah dabei nur zu Hannah. Amy verzog das Gesicht. „Ich statte euch einen kleinen Besuch ab.“
Hannahs Wangen wurden rot und sie rückte ihr Oberteil zurecht.
„Cool… ich ähm… schön, dass du auch hier bist.“
Amy drehte sich genervt weg und beobachtete für einen Moment den See, bis schließlich ein Tumult los ging. Es kam genau von der Stelle, wo Amys Mutter vorhin hingegangen war.
Ich streckte mich, um zu sehen, was dort los war, als Amy schließlich meine Hand nahm.
„Soll ich euch was Cooles zeigen?“
Richy und Hannah, die sich leise unterhalten hatten, nickten.
„Was denn?“, fragte ich etwas widerwillig, „Das Feuerwerk fängt doch gleich an.“
Amy rümpfte die Nase.
„Das, was ich euch zeigen will, ist aber viel cooler, als das blöde Feuerwerk…“
Während sie sprach sah sie nicht wirklich zu uns, sondern immer wieder zu dem Pulk an Menschen, die sich lautstark zu streiten schienen. Eine von ihnen war Amys Mutter.
„Was ist nun“, drängte Amy nun deutlicher, „habt ihr Lust auf ein richtiges Abenteuer, oder habt ihr die Hosen voll?“
„Ich habe keine Angst“, sagte Richy etwas zu laut und als Amy sah, dass er Hannahs Hand genommen hatte und wie ihre beste Freundin mit hochrotem Kopf auf den Boden starrte, begann Amy zu grinsen.
„Gut, dass du das sagst, Richy.“
Wir waren in den Wald gelaufen.
Nicht den Weg, den wir sonst gegangen waren, sondern einen anderen durch Sträucher und Büsche. Das Licht des Festes entfernte sich immer mehr und mit ihm die Sicherheit, die ich unter den anderen Menschen verspürt hatte. Es war furchtbar dunkel im Wald, so sehr, dass ich meine eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte und mich einzig und allein darauf verlassen musste, die Schritte der anderen zu hören.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, rief ich Amy zu, die mit schnellen Schritten voran ging.
„Sei nicht so ein Baby, Ellie. Ich habe keine Lust mehr auf dieses blöde Fest…“
Ich verstand gar nichts mehr, gestern hatte sie sich noch so sehr auf das Feuerwerk gefreut.
„Ich werde Riesenärger bekommen…“
„Quatsch, deiner Mutter wird wahrscheinlich gar nicht auffallen, dass du weg bist. Die denkt doch, die tolle Jennifer passt auf uns auf.“
Noch bevor ich fragen konnte, was genau sie für ein Problem mit Jennifer hatte, öffnete sich vor uns eine Lichtung. Und auf dieser Lichtung stand ein Haus.
„Wow… das ist richtig gruselig…“
Richy, der noch immer Hannahs Hand hielt, lief ein paar Schritte nach vorne. „Was ist das?“
„Das ist Duskwoods Mutprobenhütte“, man hörte Amys Lächeln, auch wenn man es nicht sah.
„Das hast du dir doch gerade ausgedacht…“
„Nein, Ellie, die heißt wirklich so“, unterbrach sie mich.
Mittlerweile war der Mond durch die Wolkendecke durchgebrochen und beleuchtete das alte Holzhaus mit einem milchigen Schein. Vom Pineglade-Fest hörte ich nichts mehr, die leichte Brise ließ mich frösteln.
„Können wir nicht einfach wieder zurück gehen?“
„Nein.“
Amy war von ihrem Plan felsenfest überzeugt und mit ihr natürlich auch Hannah. Ich schluckte.
„Richy“, der Angesprochene zuckte merklich zusammen, „Du hast immer noch keine Angst, richtig?“
Ich biss mir auf die Unterlippe. Das hohe Gras rings um das Haus rauschte.
Es klang beinahe wie ein Flüstern.
„Nein“, antwortete er, doch seine Stimme zitterte, „ich hab keine Angst.“
„Gut, dann weißt du ja, was zu tun ist, oder? Geh hin… klopf an!“
„Ich kann ja mitkommen“; schlug Hannah vor.
Sie wollte nie jemanden verärgern.
Nicht Amy, Nicht Richy.
„Nein“, entschied Amy und ihre Stimmer verhärtete sich, „er macht es allein, so ist die Regel. Er klopft an, wartet und geht dann zurück, ohne sich umzudrehen. Wenn ihr das zu zweit macht, gilt die Mutprobe nicht… aber wenn du ein Weichei bist, Richy, dann machst du es natürlich nicht.“
„Ich bin KEIN Weichei.“
Entschlossen löste er sich von Hannah und ging an uns vorbei auf das Haus zu, erst jetzt spürte ich, wie sehr meine Beine zitterten.
„Das ist keine gute Idee“, flüsterte ich, doch niemand reagierte.
Als er so weit weg war, dass er uns nicht mehr hören konnte, drehte sich Amy zu uns um.
„Los, wir hauen ab.“
„Amy…“
„Wenn du noch einmal etwas zu sagen hast, Ellie“ unterbrach sie mich, „dann bleibst du das nächste Mal bei den Erwachsenen.“
„Du bist gerade echt unfair, Amy“, mischte sich nun auch Hannah ein, die ihre Augen nicht von Richy abwenden konnte, „Was hat er dir überhaupt getan?“
„Was er mir getan hat? Ihr habt den ganzen Sommer damit zugebracht, rumzuknutschen, Hannah. Wir waren mal alle Freunde, jetzt ist es nur noch Richy hier Richy da… ich kann es nicht mehr hören! Du weißt genau, dass ich dich gerade als meine Freundin brauche, aber du bist einfach nicht für mich da.“
Die ganze Wut war aus Amys Stimme verschwunden, das was blieb, war Traurigkeit.
Und auch wenn ich es nicht verstand, tat sie mir leid.
„Wir gehen nicht weit weg“, flüsterte sie niedergeschlagen, „Nur so weit, dass er uns nicht mehr sehen kann. Er wird erschrecken, aber es ist ja nur ein Witz.“
Wir stimmten zu und folgten Amy durch den Wald. Nach ungefähr zehn Metern versteckten wir uns gemeinsam hinter einem der dicken, hohen Bäume und warteten.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Richy geklopft und dann mit schnellen Schritten zurück gelaufen kam. Als er sah, dass wir nicht mehr an der Stelle von vorher waren, rief er nach uns.
Doch wir blieben still.
„Leute, das ist nicht witzig…“
Wir unterdrückten ein leises Lachen. Keiner von uns machte einen Mucks.
„Hannah?“
Seine Stimme war ganz dünn. Ängstlich.
Niemand sagte etwas.
Und dann konnten wir es hören. Richy hatte angefangen zu weinen.
Keiner von uns rührte sich.
Ich fühlte mich furchtbar. In meinem Bauch formte sich ein riesiger, eiskalter Stein.
Gerade, als ich es nicht mehr aushielt, stürmte jemand aus dem Wald auf die Lichtung. Richy schrie auf vor Schreck, beruhigte sich jedoch schnell wieder, als er sah, dass es Jennifer war.
„Was machst du hier?“
Sie klang aufgebracht.
Und wütend.
Richy schluchzte so sehr, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass er uns das, was wir ihm angetan hatten, je verzeihen konnte.
„Mir reicht’s jetzt“, flüsterte Hannah und erhob sich.
Ich tat es ihr gleich, ebenso wie Amy, die uns mit großem Abstand folgte.
Als Richy uns bemerkte, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht.
„Hey…“
„Seid ihr nicht ganz dicht?!“
Jennifer stand auf und ihre Stimme peitschte durch den Wald.
„Ihr könnt doch nicht einfach einen Freund so hängen lassen! Es ist mitten in der Nacht! Ich habe ewig nach euch gesucht.“
„Als würdest du irgendwas zum Thema Freundschaft sagen können“, zischte Amy ihr zu, ich biss mir auf die Unterlippe, „du bist doch diejenige, die mir gesagt hat, wir wäre Freunde…“
Hannah lief zu Richy und wollte ihre Hand in seine schieben, doch er zog seine Hand weg.
„Das sind wir doch, Amy“, murmelte Jennifer verwirrt, „Freunde, so wie ein Babysitter und das Kind eben Freunde sein können.“
„Und deswegen hast du was mit meinem Vater?“
Die Stille, die daraufhin folgte, war so laut, dass ich es kaum aushielt.
Deswegen war sie die ganze Zeit so wütend gewesen.
„Was? Ich… du warst es. Du hast es deiner Mutter gesagt, richtig?“
Amys Tränen spiegelten sich im Mondlicht. Sie nickte und schwieg.
„Hast du eine Ahnung, was ich mir gerade anhören durfte, wegen dir?!“
Jennifer lief auf sie zu.
„Deine Mutter hat mich vor der ganzen Stadt zusammengeschrien! Dein Vater hat mich angerufen, nicht ich ihn! Ich brauchte jemanden, der da ist und…“
„Aber nicht, meinen Vater, du…“
Jennifers Hand traf mit voller Wucht auf Amys Wange und sie verstummte auf der Stelle. Als wäre sie vor ihren eigenen Taten erschrocken, taumelte sie ein paar Schritte nach hinten.
„Oh Gott“, flüsterte sie, „oh Gott es tut mir leid, Amy… ich…“
„Jennifer?!“
Eine tiefe, männliche Stimme herrschte durch die Blätter. Der Klang dieser Stimme erinnerte mich an den Großvater einer Freundin, der immer betrunken war… und immer ein Stück zu laut.
„Jennifer!“
„Shit, das ist mein Vater, kommt, lasst uns abhauen…“
Sie raffte ihre Sachen zusammen und deutete uns ihr zu folgen. Niemand von uns bewegte sich.
„Kommt schon!“
Ich starrte zu Amy, die sich die Wange hielt und weinte, dann zu Hannah und Richy. Keiner von uns würde sich gegen sie stellen – nicht, nachdem was wir gerade gehört hatten.
Amys Eltern waren immer so glücklich gewesen. Ich erinnerte mich an die Grillabende auf ihrer Terrasse, auf Kartenspiele und Cocktails aus Saft.
„Bitte“, bat Jennifer nun sanfter, „wenn er davon weiß, bekomme ich wahnsinnigen Ärger… ich kann das grad nicht.“
Ich überwand die paar Schritte zu Amy und nahm ihre Hand.
Hannah tat es ihr gleich.
Nun war es Jennifer, die weinte.
Es dauerte nicht lang, als ihr Vater uns entdeckte. Er war riesig und wankte über die Lichtung, als er murmelnd auf uns zukam.
„Jenny, Liebes.“
Jennifer ging ein paar Schritte zurück, brachte Abstand zwischen sich und ihren Vater.
Ich verstand nicht ganz, hatte sie Angst vor ihrem eigenen Dad?
Im Mondschein sah sein breites Gesicht gespenstisch aus, als er lächelte.
„Was haben die anderen da erzählt? Dass du eine Affäre mit Mr. Bell hast?“
Jennifer schluckte.
Soweit ich wusste, gehörte ihrem Vater ein Lokal in der Stadt.
„Ich… ich muss die Kinder nach Hause bringen, Dad… Wir können morgen reden.“
Sie trat hinter uns und schob uns mit Nachdruck in den Wald hinein.
Auch wenn ihr der Gedanke gefiel, dass Jennifer Ärger bekommen würde, schien selbst Amy zu spüren, dass irgendetwas an dieser Situation nicht stimmte.
Jennifers Vater – Michael Hanson – lief mit schweren Schritten hinter uns her.
„Weiß deine Mutter davon?!“, wollte er als nächstes wissen.
Das war nicht die Richtung, aus der wir gekommen waren, aber ich war mir sicher, dass jede Richtung richtig war, solang sie von diesem Mann wegführte.
„Hey! Ich rede mit dir!“
Die Angesprochene zuckte zusammen und schob uns mit mehr Nachdruck durch den Wald.
„Mum weiß vieles, Dad.“
Mr. Hanson lachte laut und röchelnd.
„Ja, außer wie man eine gute Ehefrau ist, nicht wahr?! Das wusste sie nicht!“
„Wir müssen schnellstmöglich hier raus“, flüsterte uns Jennifer zu, ihre Stimme zitterte vor Panik, „bitte bleibt zusammen und wenn irgendetwas passieren sollte, lauft ihr weg, okay?“
Keiner von uns konnte reagieren, keiner verstand, wie diese Situation so schnell eine andere Richtung einschlagen konnte.
Keiner verstand…
„Fickst du ihn?“
Jetzt war es Amy, die zusammenzuckte. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter, während sie sich Tränen aus dem Gesicht wischte. Richy stolperte über eine Wurzel, Hannah half ihm auf und zog ihn weiter.
„Jennifer“, bellte Michael Hanson erneut, „ich rede mit dir! Ich bin dein Vater und die halbe Stadt war gerade bei mir, um mir zu sagen, was für eine gottverdammte Hure meine Tochter ist!“
Ich kratzte mir die Beine an den kleinen Ästen auf, an denen wir vorbeiliefen, doch die schiere Angst trieb mich voran. Ich hatte noch nie jemanden gehört, der so mit seinem Kind redete. Plötzlich tat mir das alles furchtbar leid.
„Jenny, wenn du mir nicht sofort antwortest, ich schwöre dir…“
Plötzlich brachen wir aus dem dichten Wald aus und standen vor einer Landstraße. Ich kannte diesen Ort, denn wir fuhren jedes Mal hier vorbei, wenn wir in Duskwood ankamen. Zu Fuß würden wir sicher eine halbe Stunde bis in die Stadt zurück brauchen.
„Scheisse…“, flüsterte Jennifer und strich sich übers Gesicht, „bleibt hier und tut nichts, egal was passiert.“
Das hätte sie uns nicht zwei Mal sagen müssen, wir alle waren vor Schock wie festgefroren.
„Da bist du ja, mein hübsches Kind.“
Jetzt im Licht der Straßenlaternen sah Michael Hanson riesig aus.
Ein riesiger Berg Wut und Elend.
„Du weißt, dass du eine Familie damit zerstörst?“
„So wie du deine zerstört hast?“, ihre Hände zitterten, als sie auf ihn zuging, „DU warst doch derjenige, der jeden Abend nur noch in der Bar war… du hast doch nur noch ans Saufen gedacht.“
Mit einem abartigen Geräusch spuckte er auf den Boden. Ich sah zu den anderen und auch sie waren wie versteinert.
„Vorsicht, Fräulein, ich habe Geld für euch verdient…“
„Du bist nicht mal mehr nach Hause gekommen, Dad. Und wenn musste sich Mama vor dir verstecken, das wissen wir beide.“
Er lachte und war mit zwei großen Schritten bei ihr. Seine große Hand umfasste ihren Oberarm, Jennifer keuchte.
„Du bist siebzehn und fickst dich durch unser Dorf“, zischte er ihr zu, „ich hätte dich mal anständig erziehen sollen, aber deine Nutte von Mutter hat das nicht auf die Reihe bekommen, richtig?“
„Ach, war es nicht Erziehung genug, mich mit dem Gürtel zu verdreschen?“
In diesem Moment holte er aus und schlug seiner Tochter mit der Faust ins Gesicht. Das Geräusch des Schlags wurde durch das Feuerwerk des Festes übertönt.
Jennifer war zu Boden gefallen und hielt sich weinend das Gesicht. Die bunten Farben der Raketen zeichneten seltsame Formen auf die Straße.
„Haut ab!“, rief sie uns zu, „ihr wisst doch wo es lang geht, bitte…“
Jennifers Vater zog sie an ihrem Kleid nach oben und umarmte sie fest.
„Ich will doch nur, dass du mein Mädchen bleibst“, flüsterte er und seine Stimme brach, „mein braves, kleines Mädchen.“ Er streichelte ihr Haar, während sie sich mit vollen Kräften gegen seinen festen Griff wehrte.
„Lassen sie sie in Ruhe!“
Ich brauchte einen Moment, ehe ich realisierte, dass ich das gerufen hatte. Michael Hanson sah kurz zu mir rüber und grinste.
„Ach Mäuschen, wir streiten doch nur ein bisschen, das kennst du doch sicher auch von deinem Papa, oder?“
Jennifer versuchte sich währenddessen weiter zu befreien. „Haut ab, bitte!“
Er wandte seinen Blick von mir ab und sah zurück auf seine Tochter.
„Sie haben erzählt, dass sie euch direkt erwischt haben… meine siebzehnjährige Tochter und dieser alte Sack. Jeder hat dich nackt gesehen, Jenny. Bist du stolz auf dich?“
Ich hörte ihr Schluchzen.
„Nein.“
„Wie bitte?!“
„Nein, ich bin nicht stolz auf mich, Dad.“
Er nickte und ließ sie auf den Boden sinken. Zusammengekrümmt lag sie da und weinte vor seinen Füßen. Ich war neun Jahre alt und verstand nicht, was hier passierte – verstand aber sehr wohl, dass es falsch war.
Meine Hand ballte sich zu einer Faust.
Michael Hanson blickte auf seine Tochter herab und spuckte neben sie auf den Asphalt.
„Früher, als ich noch jung war, hatten die Mädchen noch so etwas wie… Anstand. Da wurde nicht mit jedem Schwanz, den man finden konnte, gefickt und da hat man auch nicht jedem Mann seine Titten präsentiert…“
Er sah sich um, griff schließlich nach einem mannshohen Ast, wog ihn kurz in den Händen.
„Du warst immer so ein liebes Kind gewesen, Jennifer, lieb und rein… steh auf“
Das Mädchen tat wie geheißen, sie sah den Ast und drehte sich einfach nur mechanisch um.
Diese Situation war nicht neu für sie – das schien schon öfter vorgekommen zu sein.
Ich sah zu den anderen.
Sah Richy, Hannah und Amy an.
Sah, wie erschüttert sie waren – wie sich das auch für ihre Kinderaugen falsch anfühlte.
Wir alle waren blass.
Wir alle waren vor Angst gelähmt.
Doch als Michael Hanson ausholte, um seine Tochter mit diesem Ast zu verprügeln, rannten wir alle los.
Wir rannten alle dazwischen.
Und wir hatten ihr alle helfen wollen – wäre da nicht das Auto gewesen.
Wäre da nicht der Zufall gewesen.
Denn als Amy zu Jennifer lief, um ihr zu helfen, stolperte sie und sah das Auto nicht – aber Jennifer sah es.
Und als Jennifer Amy versuchte aus dem Weg zu ziehen, schlug Michael Hanson zu.
Und dann wurde Jennifer Hanson vor unseren Augen überfahren.
Einfach so.
Und es war unsere Schuld.
Es war unser aller Schuld
Das Auto bremste sofort und jemand schrie.
Ich schrie und Hannah schrie und Amy lief zu Jennifer, die schon längst tot war und Richy stand da und sah nicht nur Jennifer und Michael und uns – er sah auch, wie seine Mutter aus dem Auto stieg.
Er sah, wie sie erst nichts verstand und dann alles und dann wurde sie blass.
„Richy?“, fragte sie, doch ihre Stimme klang anders – langsam, schleppend, „Rich…“
Und dann fiel sie – direkt neben Jennifer und die Straße färbte sich rot.
Die Zeit verschwamm in diesem Moment und ich saß auf der kalten Straße. Ich sah die anderen, sah meine Freunde – sah Amy, Hannah und Richy und sah sie trotzdem irgendwie nicht.
Ich wusste noch, dass ich darüber nachdachte, dass ich eigentlich gerade beim Feuerwerk sein sollte und dass sich meine Mutter sicher schon wunderte, wo ich war. Ich dachte darüber nach, dass Blut so eine ganz bestimmte Art von Rot hatte, die ich von keinem meiner Filzstifte kannte und dass irgendwer doch die Polizei rufen müsste, es aber einfach keiner tat. Ich fragte mich, ob ich jemals wieder aufhören könnte zu schreien und was Michael Hanson mit der Säge vorhatte.
Richy versuchte seine Mutter aufzuwecken und Hannah saß neben Jennifer, während ihr Vater…
Ich sah weg und starrte zu Amy, die einfach auf der Straße stand und ins Nichts starrte.
Ich zog meine Beine an und weinte, ignorierte die Geräusche der Säge, das Weinen und das Schreien – doch es funktionierte nicht, also stand ich auf.
Denn wenn ich hier war, wo ich eigentlich gar nicht sein sollte, dann war ich eigentlich nicht wirklich hier.
Wenn ich nicht sehen würde, was hier passierte, passierte es auch nicht.
Ich ging – erst langsam, dann immer immer schneller – die Straße entlang.
Weg von Jennifer.
Weg von Amy und Richy.
Und weg von Hannah.
Ich rannte weg vor etwas, was so niemals passiert war, dem Pineglade-Fest entgegen.
Und irgendwo in der Ferne, explodierte das Feuerwerk.
Ein Knallen ließ mich aufschrecken. Ob es eine Rakete war, oder das Knallen einer Tür wusste ich nicht. Mein Kopf war so schwer, dass ich ihn kaum anheben konnte. Als ich ausatmete, wirbelte Staub auf und ich begann zu Husten.
Meine Lunge stach – ich hatte keine Ahnung, wo ich wa.?
Ich blinzelte, aber ich sah nichts außer die Holz Vertäfelung der Wand vor mir. Die Erinnerungen, die sich mehr und mehr in meinen Kopf bohrten, drängten sich mehr und mehr auf und ich verstand, wollte es aber gar nicht verstehen.
Ich wünschte mir, dass ich diese bitteren Erinnerungen wieder vergessen könnte.
Ich versuchte mich aufzusetzen, doch meine Arme waren am Rücken gefesselt. Ächzend zerrte ich mich nach oben, doch fiel direkt wieder auf mein Gesicht.
„Du brauchst dich nicht anstrengen, das wird nicht funktionieren.“
Ich zuckte zusammen und drehte mich auf die andere Seite.
Sie sah dünner aus, als auf den Fotos und älter als in meiner Erinnerung – aber sie war am Leben.
Ich blinzelte, weil ich Angst hatte, dass sie im nächsten Moment verschwinden würde.
Dass ich sie mir einbilden würde.
Doch als ich die Augen öffnete, war sie immer noch da.
„Du bist es“, flüsterte ich heiser, „Hannah.“