Verdammt! Wie hatte das nur geschehen können? Am Abend war er erschöpft unter seinen Deckenstapel gekrochen und fast augenblicklich eingeschlafen. Nur um gefühlte zehn Sekunden später vom Knacken berstenden Betons und grellem Sonnenlicht geweckt zu werden. Sonne! In einem fensterlosen Raum! Sofort war er hellwach aufgesprungen und hatte sich an einer Seitenwand des Lagers zusammengekauert. Keine Sekunde zu früh. Krachend brach die Decke zusammen und begrub fast all seine Habseligkeiten unter Trümmern und Staub. Als sich der Dunst langsam verzogen hatte, blickte er sich niedergeschlagen um. Unzählige armdicke Efeuranken hatten sich über Nacht durch das Mauerwerk geschoben. Ihm waren die Triebe am Abend bereits aufgefallen, aber er war zu müde gewesen, um sie zu entfernen.
Mühsam kroch er aus den Trümmern des ehemaligen Getränkemarktes. Erneut war er obdachlos. Sogar ein Großteil der lebensnotwendigen Getränke lag jetzt unter dem Schutt begraben. Er besaß jedoch nicht mehr die Kraft, danach zu suchen. Sich ausschließlich von Obst und TicTacs zu ernähren, hatte ihn mit der Zeit zu sehr geschwächt.
Er verfluchte diese widerlichen Pflanzen, die in den letzten Tagen überall auf dem betonierten Parkplatz aus dem Boden gebrochen waren und aufgrund des seltsamen Regens nicht aufhören wollten, zu wachsen. Zu seinem Glück regnete es gerade nicht. Manchmal brannten diese Tropfen wie Säure auf der Haut. Sie hinterließen gerötete Stellen, an denen sich die oberste Hautschicht wie nach einem starken Sonnenbrand abziehen ließ. Nachdem er zweimal unabsichtlich im Gewächshaus in kleine Pfützen davon getreten war, hatte er anschließend tagelang kaum laufen können. Letztlich hatte er sich zum Schutz Lederstücke um die nackten Füße gebunden und mied den Regen wie sein Kumpel Leon Kamm und Büste.
Erschöpft schlurfte er über die zerstörten Reste der Artur-Ladebeck-Straße im Herzen des ehemaligen Bielefelds. Auf dem Rücken trug er den Jutesack, darin die letzte Ernte aus dem Gewächshaus zusammen mit zwei geretteten Bierflaschen aus der Ruine.
Lediglich einige verbogene Stahlträger und Betonreste lugten noch zwischen den ungebändigt wuchernden Pflanzen und Bäumen hervor. Mehr war von den ehemals mehrgeschossigen Häusern links und rechts der Straße nicht übrig geblieben, nachdem das aberwitzige Wachstum begonnen hatte. Von der vierspurigen Hauptstraße im Herzen der Stadt war kaum noch etwas zu erkennen. Streckenweise musste er sich unter armdicken Ranken hindurchwinden, über riesige Löwenzahnblätter klettern und zwischen messerscharfen Grasbüscheln hindurchschlängeln. Es war schwer zu glauben, dass er sich noch in Deutschland und nicht irgendwo im Regenwald befand.
Westlich von ihm lag der Botanische Garten, der inzwischen eher einem wilden Urwald aus gewaltigen Büschen und Bäumen glich. Dieser wurde von dackelgroßen Wespen, Bienen, Hummeln und riesigen Libellen beherrscht. Die Bienen und Hummeln waren kein Problem, da sie sich lediglich für die nun ebenfalls riesigen Blüten interessierten. Wespen hingegen fand man am ehesten unten am süßen Fallobst oder bei den Überresten von anderen Tieren. Solange sie nicht zu viel vom vergorenen Obst genascht hatten, waren sie friedlich. Am Boden jedoch lauerten Ameisen. Mit ihren kräftigen Mandibeln konnten sie problemlos das Bein eines Menschen durchbeißen. Allein der Gedanke, einem dieser Monster erneut zu begegnen, ließ ihn schaudern.
Er wollte zunächst überprüfen, ob es in einer der zahlreichen Ruinen noch Nahrung, trinkbare Flüssigkeiten oder zumindest einen Unterschlupf vor dem Regen gab. Vor allem hatte er Durst. Die Idee, etwas zu trinken, war verlockend. Er hielt kurz im Schatten eines Kleeblatts an und öffnete eine Bierflasche. Bereits der Geruch ließ ihn schaudern. Aber was blieb ihm anderes übrig? Anschließend schlurfte er weiter.
Widerwillig stieg er über den Kadaver einer mutierten, gewaltigen Mücke, die vor ihm auf einem Asphaltstück lag. Diese Biester waren sogar noch schlimmer als Ameisen. Er hatte selbst erlebt, wie eines dieser riesigen Viecher seinen Freund Leon in den Kopf gestochen und ihn in wenigen Augenblicken ausgesaugt hatte. Doch nachdem die aufkommende Mückenplage alle ihre Blutwirte - also Menschen und Tiere - getötet hatte, waren sie auch schnell weniger geworden. Ein Glück, dachte er. Er wunderte sich, hier noch über eines dieser mörderischen Exemplare zu stolpern. Normalerweise beseitigten die Ameisen sämtliche Kadaver schnell und zuverlässig. Dass dieser hier noch lag, ließ ihn hoffen, dass er sich gerade in relativ sicherem Gebiet bewegte. Inzwischen war er vermutlich nicht nur der letzte Überlebende in Bielefeld, sondern auch das letzte lebende Säugetier in der weiteren Umgebung. Umso verblüffter war er, als plötzlich ein warnender Ruf hinter ihm erklang.
»Ey! Vorsicht, weg da!«, rief eine Stimme laut hinter ihm.
Unter lauten Getöse drängte sich etwas aus dem dichten Grün heraus. Stämme brachen krachend und stürzten um. Der Junge ließ sich neben einem hochragenden Stück Straßenbelag zu Boden fallen. Dabei schnitt er sich den Unterarm an einem hohen Grashalm. Fluchend zog er den Kopf ein und blickte mit klopfendem Herzen über seine Deckung, das Messer schützend erhoben.
Vor ihm stand ein gigantischer, giftgrüner Tausendfüßler. Das Monster war mindestens einen ganzen Meter hoch und sicherlich dreißig Meter lang. Gierigen Augen fixierten ihn. Seine armlangen Beißwerkzeuge zermalmten das Gras, nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
»Hey! Du da! Was wird das da unten, wenn du fertig bist?«, rief die Stimme jetzt über ihm.
Verwirrt starrte er nach oben. Dort saß tatsächlich jemand. Ein Mensch. Auf dem Rücken des Insekts. Er öffnete den Mund vor Staunen. Das Tier war gezäumt und gesattelt. Jemand hatte dicke Stahlseile um seinen Kopf gewunden und daran Lederriemen befestigt. Auf dem Sattel saß ein Mädchen und blickte spöttisch auf ihn herab. Sein Blick blieb an ihrem abgenutzten T-Shirt hängen, das das Logo einer alten Punkband zierte, die sein Vater mal gehört hatte: Green Day. Eigentlich konnte das nur ein schlechter Scherz sein. Doch sie lachte dröhnend, warf die verfilzten Strähnen ihres langen, blonden Haares zurück und streckte ihm die Hand entgegen.
»Kommst du jetzt mit oder bist du hier festgewachsen?«
Er brauchte keine weitere Aufforderung. Ächzend richtete er sich auf und kletterte mit ihrer Hilfe auf den geduldig wartenden Tausendfüßler.
»Wer bist du?«, wollte er wissen, sobald er hinter ihr im Sattel saß und wieder zu Atem gekommen war.
»Alta! Ich bin Mooni. Eigentlich heiße ich Rati Moonflower Müller-Lüdenscheidt, aber alle nennen mich nur Mooni«, plapperte sie sofort los.
Sie reichte ihm einen Lappen, um die Wunde zu verbinden. »Meine Eltern waren Alt-Hippies, musst du wissen. Vermutlich gibt es unter denen ein ungeschriebenes Gesetz, dass man seinen Kindern lauter sonderbare Namen geben muss. Rati ist nämlich die indische Göttin der Lust und Leidenschaft.«
Sie kicherte kurz, bevor sie ihm mit ernstem Gesicht erklärte. »Ich bin gerade auf der Durchreise von Herford nach Gütersloh. Dort haben sie neuerdings in der Siedlung eine Tiefenwärmepumpe installiert und brauchen jetzt ein paar Ersatzteile, damit der Strom wieder läuft.«
Sie deutete auf einige festgeschnallte Päckchen am Sattel hinter dem Jungen.
Er war sprachlos. Nicht nur hatte er gerade nach Monaten der Einsamkeit einen Menschen gefunden, sondern saß jetzt auch auf einem reitbaren Insekt und wurde zu einer Siedlung gebracht. Er war nicht mehr allein. Er war nicht der letzte Überlebende.
Das war unglaublich. Vor Aufregung musste er laut aufstoßen. Hoffentlich hielt sie ihn jetzt nicht für einen Säufer. Sie musste ungefähr so alt sein wie er, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Und sie sah ziemlich ...
»Und wie heißt du?«, unterbrach Mooni seine Gedanken.
»Äh, ich? Äh ... Paul-Kevin«, stammelte er mit heiserer, monatelang kaum genutzter Stimme und einem trockenen Hals.
Dann rülpste er erneut. Sie brach in schallendes Gelächter aus.
»Was denn?«, wollte er mit rotem Kopf wissen.
»Paul war der Name meines Opas – und Kevin der Name unseres Labradors. Hast du etwas dagegen, wenn ich dich blökender Angsthase nenne?«
Der Junge sah sie entsetzt an.
»Ist ja gut«, wiegelte sie ab. »Das sollte doch nur ein Scherz sein. Aber trotzdem klingst du wie ein Schaf, auch wenn du keinen wolligen Kuschelpelz hast.«
Sie legte den Kopf schräg, blinzelte, dann lächelte sie. »Jetzt hab ich’s. Ich nenne dich einfach Shaun, so wie das Schaf im Fernsehen.«
Er nickte zaghaft, noch immer leicht errötet.
»Dann schnall dich mal an, Shaun. Die Päckchen mit den Blechen und den Schrauben müssen zügig zur Siedlung gebracht werden. Flitzende Gurke ist zwar schnell, aber leider nicht sonderlich rücksichtsvoll, wenn es um seine Passagiere geht. Es ist so ähnlich wie das Reiten auf einem bockenden Dromedar, nur dass wir zusätzlich noch den Pflanzen ausweichen müssen.«
Sie beugte sich vor und tätschelte dem Tausendfüßler über den Kopf, worauf dieser ein mahlendes Geräusch von sich gab. Bevor er sie fragen konnte, woher sie wusste, wie es war, ein Dromedar zu reiten, schnalzte sie mit den Zügeln. Das Tier stürmte los, und Mooni gab wieder dieses herrliche Lachen von sich.
Nach einigen hundert Metern wandte er zum ersten Mal den Kopf zur Seite und erbrach sich. Hoffentlich gab es in dieser Siedlung in Gütersloh Wasser. Oder ... Saft. Warum war es ihm bisher in all der Zeit nicht eingefallen, seine Ernte aus dem Gewächshaus auszupressen?