Ein Rütteln an der Schulter ließ ihn hochfahren.
»Hey Shaun, alles klar bei dir?«
»Wer ... was?« Müde blinzelnd blickte er sich um.
»Ey Bruder, mach mir hier jetzt nicht schlapp«, sagte das blonde Mädchen vor ihm. »Ich habe gesagt, ich bringe dich bis ins Lager, und das mache ich auch. Nicht, dass du mir unterwegs im Sattel wegnippelst, oder so.« Besorgt musterte ihn das blonde Mädchen. In ihren Augen lag echtes Mitgefühl, gepaart mit einer Spur von Angst, wie es schien.
»Ich bin ja einiges gewohnt, Bruder«, fuhr sie fort, »aber deine Kotzerei eben war schon etwas eklig. Hast du was Falsches gegessen? Wobei, hast du überhaupt in letzter Zeit irgendwas gegessen? Oder bist du krank? Ist das womöglich ansteckend? Ich habe keine Lust darauf, dass mir mein Essen wieder hochkommt. Oje! Du siehst wirklich nicht gut aus. Hast du Fieber? Schüttelfrost? Magenschmerzen vielleicht? Tut dir der Kopf weh? Wie viele Finger halte ich hoch? Kannst du dir mit geschlossenen Augen an die Nase tippen? Lass mich mal deine Pupillen sehen!«
Paul-Kevin, der nun Shaun hieß, hob ächzend eine Hand an die Stirn. Sein Kopf drohte wirklich zu platzen. Zusätzlich trieben ihm das Brennen von Galle und schalem Bier in Rachen und Nase Tränen in die Augen. Dieses verdammte Reittier war weit schlimmer als ein Dromedar. Egal, was sie auch behauptete. Es fühlte sich eher so an, als wäre er aufrecht am Bug eines Segelschiffes neben der Galleonsfigur festgezurrt worden, während sie in schwerstem Sturm auf das Bermudadreieck zusteuerten. Sein Magen pumpte immer noch, obwohl er längst leer war. Dazu kam diese schreckliche Erschöpfung. Er fühlte sich völlig ausgebrannt. Doch wenn er die Augen schloss, konnte er das Gefühl ausblenden. Sobald er die Lider fest zusammenpresste, war da nur noch diese warme, weiche Dunkelheit, die ihn gnädig umfing.
Müde. Er war einfach unglaublich müde. Sein Kopf sank auf die Brust.
Im gleichen Augenblick ließ ihn ein brennender Schmerz in der Wange hochfahren. Jetzt blickte das Mädchen, Mooni hieß sie, daran erinnerte er sich noch, ihn zornig an.
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
Verdattert rieb er sich über die schmerzende Stelle. Sie musste ihn geohrfeigt haben.
»Du brauchst mich ja nicht gleich verprügeln«, nuschelte er benommen.
»Offensichtlich doch. Und jetzt halt dich fest, ich löse deinen Halteriemen. Eigentlich haben wir keine Zeit für eine Pause, aber bevor du hinter mir den Löffel abgibst, machen wir jetzt ´n Not-Stopp.«
Ehe er ihre Worte vollständig begriffen hatte, verlor er schon den Halt und rutschte zur Seite. Glücklicherweise fing ein gewaltiges Kleeblatt seinen Sturz auf. Immerhin hatte der Schreck seine Lebensgeister geweckt. Er schaffte es, sich an der Blattkante festzuhalten, bevor er weiter abrutschte. Sein vorsichtig tastender Fuß fand sicheren Stand. Schwankend stützte er sich an einen verholzten Stamm, als Mooni geschickt neben ihm auf dem federnden, grünen Boden landete.
»Na, wieder unter den Lebenden?«
»Ja«, maulte er. »Und daran hast du diesmal keinen Anteil.«
Erneut ließ sie dieses völlig unpassende, dröhnende Gelächter erklingen. »Na, wenn du meinst.«
Er fragte sich, wie ein so zierlicher Mensch nur so laut lachen konnte. Hatte sie vielleicht Blechdosen anstatt Lungen? Blöder Gedanke. Sein Magen knurrte vernehmlich.
Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Hast du auch etwas zu Essen dabei? Ich könnte jetzt mindestens zwei Big Macs und eine Familienpackung Nuggets verdrücken.«
Erneut brach sie in Lachen aus. Der markerschütternde Ton ließ seine Ohren klingeln. Hoffentlich lockte sie dadurch keine Insekten an.
Übergangslos wurde sie wieder ernst: »Nein, habe ich nicht, du Witzbold. Aber wir können uns ja etwas Leckeres fangen.«
Bevor er sie danach fragen konnte, wandte sie sich um und band die Zügel ihres gewaltigen Tausendfüßlers an den Seitentrieb eines dicken Stamms. Sie tätschelte die Flanke des riesigen Tieres. Das grüne Monster drehte den Kopf, stupste das Mädchen spielerisch gegen die Schulter und begann gemächlich, einige Grasstängel zu rupfen. Mooni grub in einer Satteltasche und kehrte mit einem verschnürten Bündel zu ihm zurück.
»Was hast du da?«, wollte er wissen.
Diesmal jedoch lächelte sie nur geheimnisvoll. Um die Spannung noch weiter zu erhöhen, wandte sie sich ab, nestelte an der Verschnürung herum, bevor sie sich wieder in seine Richtung drehte.
»Tadaaa!«
Sie hielt ihm eine hölzerne Schale hin, die mit einer stark riechenden Paste gefüllt war.
Fragend blickte er sie an. »Was ist das? Das stinkt irgendwie.«
Der süßliche Geruch erinnerte ihn an Blumen, auch wenn er nicht genau sagen konnte, welche. Lavendel? Rosen? Kirschblüten? Irgendwie schien es eine Mischung aus allem zu sein, und doch gab es da noch etwas Besonderes. Er meinte, einen Hauch von Honig und Vanille wahrzunehmen.
»Das, mein lieber Shaun«, sagte sie grinsend, »ist der erste Schritt zu unserem Imbiss.«
Sie zog eine geflochtene Schnur mit einer Schlaufe daran aus ihrer Gesäßtasche.
»Und das der Zweite«, fügte sie zwinkernd hinzu.
Er wollte ihr gerade weitere Fragen stellen, als sich ihnen ein lautes Brummen von oben näherte. Schnell rollte er sich unter ein Blatt. Mooni folgte ihm mit einem Hechtsprung. Ihre schmutzigen Gesichter waren nun nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Grinsend zeigte sie ihre Zähne und funkelte ihn verschwörerisch an.
»Das ist doch kein Zufall. Sag schon, was ist das da in der Schale?«, flüsterte er.
Sie deutete ihm nur mit einer Geste, leise zu sein und griff nach seiner Hand. Ihre Körperwärme ließ ihn erschaudern. Zu lange hatte ihn niemand mehr berührt. Monate? Vielleicht ein halbes Jahr? Oder war das noch länger her? Überrascht spürte er die groben Schwielen an ihren Fingern. Das waren die Hände eines Menschen, der es gewohnt war, schwer zu arbeiten. Auch er besaß inzwischen solche Schwielen, wurde ihm bewusst.
Das Brummen über ihnen wurde stetig lauter. Die Anwesenheit von Insekten war nie ein gutes Zeichen, auch wenn die meisten der fliegenden Biester sich nicht für Menschen interessierten. Dies traf auch auf dieses Exemplar zu. Die Hummel, von der Größe eines Schäferhundes, flog lautstark eine Kurve und näherte sich dann wieder ihrem Standort. Shaun hob schützend die Arme über den Kopf, als die Flügel Staub und Erde aufwirbelten. Die Hummel landete neben der Stelle, an der er selbst noch vor wenigen Augenblicken am Stamm gelehnt hatte. Sie schien eindeutig am Inhalt der Schale interessiert zu sein. Mooni erhob sich vorsichtig auf die Knie und nestelte in einer Gürteltasche.
»Bist du verrückt?«, zischte er sie an und versuchte, sie am Arm zu packen.
Sie wich ihm geschickt aus und zeigte erneut ihre Zähne. Nun wirkte sie eher wie ein Raubtier. Mit einer Hand schob sie lässig etwas Kleines, Braunes in die Schlaufe.
Er versuchte es noch einmal. »Hey! Lass das. Die bringt uns beide um, wenn du sie reizt. Du weißt, wie aggressiv diese Viecher werden können.«
Sie nickte und deutete süffisant grinsend auf den gigantischen Tausendfüßler, der nur wenige Schritte entfernt friedlich graste. Die monströse Hummel schien ihn nicht zu interessieren. Kein Wunder, wenn man einen dicken Chitinpanzer hat, dachte er. Die Hummel hatte inzwischen ihren Saugrüssel ausgefahren und schlürfte laut an der blumigen Paste.
Plötzlich beugte sich Mooni vor und küsste ihn mitten auf den Mund. Er erstarrte. Als wäre nichts geschehen, begann sie langsam die Schleuder über dem Kopf kreisen zu lassen. Entsetzt starrte er sie an. Mooni musste verrückt sein. Diese Insekten waren nahezu unverwundbar. Er hatte erst vor wenigen Tagen einen gefährlichen Kampf mit einer Wespe in seinem Gewächshaus gehabt, die sich an vergorenem Obst gütlich getan hatte. Mit einer Holzlatte voller Nägel hatte er auf sie eingeschlagen, ohne ihr ernsthaften Schaden zuzufügen. Und jetzt wollte dieses Mädchen eine doppelt so große Hummel mit einem Kinderspielzeug besiegen? Das war absolut verrückt. Mooni musste total durchgedreht sein, anders ließ sich das nicht erklären.
Shaun robbte rückwärts davon. Er wollte nicht dabei sein, wenn sich das Insekt auf sie stürzte und sie zerfleischte. Es wäre bedauerlich, wirklich sehr, sehr bedauerlich. Gerade hatte er angefangen, sie zu mögen. Aber deshalb war er noch lange nicht bereit, gemeinsam mit ihr zu sterben. Wenn sie sich unbedingt umbringen wollte, sollte sie das bitte ohne ihn tun.
Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes. Als er sich hastig umsah, erkannte er einen weiteren dicken Stamm. Eilig suchte er dahinter Deckung. Wenn diese hungrige Hummel ihn nicht bemerkte, würde zumindest er den Irrsinn überleben. Es wäre wirklich schade, denn der Kuss war richtig gut gewesen. Er hätte gerne noch mehr davon gehabt. Aber es sollte wohl nicht sein. Gut küssen zu können, wog keinen Wahnsinn auf. Zumindest nicht in dieser Welt. Ganz vorsichtig blickte er um den Stamm. Die Hummel saugte noch immer an dem Zeug. In diesem Augenblick sprang das Mädchen vor. Mit einem wilden Aufschrei schleuderte sie ihr Wurfgeschoss auf das Insekt.
Shaun konnte aus seiner Deckung heraus nicht genau erkennen, wo sie das Tier getroffen hatte, aber die Wirkung war verblüffend. Die Hummel rollte blitzartig ihren Rüssel ein und hob zornig brummend vom Boden ab. Vermutlich würde sie sich jetzt auf das Mädchen stürzen. Doch sobald sie sich nur wenige Meter in der Luft befand, wurde ihr Flügelschlag bereits unregelmäßig. Sie klang nun wie ein Propellerflugzeug mit Motorschaden. Der Junge erwartete beinahe das unvermeidliche Pfeifen, das abstürzenden Flugzeuge in Filmen machten. Die wahnsinnige Mooni stand noch immer aufrecht und breitbeinig da, sah dem pelzigen Tier abwartend entgegen. Lässig trat sie einen Schritt zur Seite, als die monströse Hummel neben ihr dumpf auf dem Boden aufschlug. Die gewaltigen Flügel rieben noch einmal knisternd aneinander, dann war das Tier tot.
Er war sprachlos. Sie hatte dieses riesige Insekt mit einem einzigen Schuss getötet. Gerade als er sich aufrichtete und zum breit grinsenden Mädchen gehen wollte, bemerkte er am Boden hinter ihr eine Bewegung. Laub und Zweige wurden zur Seite geschoben. Ein rotbrauner, melonengroßer Kopf mit kräftigen Beißwerkzeugen erschien in einem Riss in der Erde.
Eine Ameise. Verdammt!
Das mörderische Tier blickte sich mit umherschwenkenden Antennen um. Als es die tote Hummel erkannte, kam es zur Gänze aus seinem Loch hervor. Mooni hatte noch nichts von der schrecklichen Gefahr in ihrem Rücken bemerkt. Lachend deutete sie auf Shaun.
»Hatte ich mit dem Angsthasen vorhin also doch recht.« Sie schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, als hätte sie einen unglaublich guten Witz gerissen.
Shaun reagierte reflexartig. Er griff nach einem Betonklumpen und schleuderte ihn auf die Ameise. Der Kopf des Tieres ruckte herum. Angriffslustig klapperte es mit seinen unterarmlangen Mandibeln.
»Drecksvieh!«, schrie er zornig. Zwar hatte er keine Ahnung, ob Ameisen überhaupt Ohren besaßen, aber es half, die Trägheit abzuschütteln. Er hob einen dicken Ast auf. Das wäre zwar keine wirkliche Waffe gegen die kräftigen Beißwerkzeuge, aber noch immer besser als völlig wehrlos zerstückelt zu werden.
Stolpernd wich er zur Seite aus, als das mörderische Insekt auf ihn zustürmte. Mooni wurde dabei einfach umgerannt. Shaun rollte sich über die Schulter ab. Irgendetwas krachte dabei. Sein linker Arm kribbelte mit einem Mal seltsam. Die erneut aufsteigende Übelkeit und der Kopfschmerz ließen ihn kurz taumeln, doch er kam wieder auf die Füße. Gerade rechtzeitig, als der Kopf mit den blitzenden Mandibeln in seine Richtung zuckte. Ihm kam eine verzweifelte Idee. Er rammte den Ast quer zwischen die Kauwerkzeuge. Die Ameise gab einen quietschenden Ton von sich und sprang zurück. Shaun wartete nicht ab, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatte, und stolperte weiter auf den riesigen, grünen Tausendfüßler zu. Dieser beobachtete das ganze Geschehen äußerst interessiert aus seinen schillernden Facettenaugen. Und genau darauf hatte Shaun gehofft. Das gewaltige Tier schien so etwas wie ein Freund von Mooni zu sein. Außerdem war es um ein Vielfaches größer als die aggressive Ameise und schwerer. Seine Kauwerkzeuge waren jedenfalls mehr als doppelt so lang. Shaun lief weiter und schlug einen Bogen um den gezäumten Kopf des Tausendfüßlers. Dann blickte er gehetzt zurück auf den Angreifer. Die Ameise hatte den Ast inzwischen zerteilt und wandte sich ihm erneut zu. Mooni hatte sich unter ein Blatt gerollt und blickte mit aufgerissenen Augen zu ihm hinüber. Sie war jedoch klug genug, am Boden liegen zu bleiben.
Er holte tief Luft und schrie die Ameise an. »Komm schon her, Mistvieh! Hol mich doch, wenn du kannst! Noch vor Kurzem hätte ich dich mit dem Fuß zertreten. Ich hole gleich mein Brennglas und dann suche ich deinen Bau!«
Angriffslustig senkte sie den Kopf und stürmte auf ihn zu. Darauf hatte er gehofft.
Der Tausendfüßler betrachtete die sich ihm nähernde Bedrohung. Gemächlich hob er den Kopf, reckte sich nach vorn und ließ dann sein Kinn auf das vorbeieilende Tier fallen. Es gab ein lautes, knirschendes Geräusch. Stinkende Flüssigkeit spritzte umher.
Die mörderische Ameise war tot. Er hatte es geschafft. Shaun sank auf die Knie und würgte erneut. Seine Schulter brannte wie Feuer. Etwas knirschte seltsam, als er versuchsweise den Arm bewegte.
Plötzlich stand Mooni vor ihm. »Hey, edler Retter!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Erleichtert griff er mit der funktionierenden Hand zu und zog sich hoch.
Sie tätschelte ihm den Rücken. »Hiermit nehme ich den Angsthasen offiziell zurück. Das war eine hammercoole Aktion. Für heute bist du mein persönlicher Held! Ab sofort sollst du den wohlklingen Titel Stockschwingender Ameisenköder tragen.«
Empört blickte Shaun sie an.
»Na gut, ich überlege mir noch etwas Besseres. Aber jetzt lass uns erstmal etwas essen.« Damit ging sie zu der toten Hummel und begann, ihren Panzer am Rücken zwischen den Flügeln aufzubrechen.
»Du Bruder, das meiste von diesen blöden Insekten ist ungenießbar. Anfangs dachte ich schon, ich müsste verhungern. Aber die Flugmuskulatur schmeckt fast wie Hühnchen. Ich kann dir zwar keine Panade oder Currysauce anbieten, aber vielleicht reicht dir das für den Anfang.«
Shaun biss die Zähne zusammen und ließ sich keuchend auf den Boden sinken, während Mooni bereits ein kleines Feuer entfachte.