Inzwischen musste bereits der halbe Tag verstrichen sein, vermutete Shaun, während er versuchte, anhand der gelegentlich durchdringenden Lichtstrahlen die Uhrzeit unter dem ewig grünen Blätterdach zu bestimmen. Zu seinem Glück hatte er bei der Abreise daran gedacht, einen Kompass einzupacken. Ansonsten hätte er sich innerhalb von Minuten verirrt. Sein Magen war nach der kurzen Zeit in der Siedlung bereits wieder an regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt und forderte jetzt vehement sein Recht ein. Er seufzte. Zwar hatte er an sein Messer, den bereits erwähnten Kompass und zwei volle Wasserschläuche mit Tiefenwasser aus dem Brunnen in der Siedlung gedacht. Sogar Moonis Schleuder und die Munition aus geschnitzten Brechnuss-Kugeln befanden sich hinter ihm in den Satteltaschen, auch wenn er damit nicht umgehen konnte. Doch leider nichts Essbares.
Gerade als er sich vor seinem Aufbruch in das Küchenhaus hatte schleichen wollen, waren zwei Baumhüter an seinem Versteck vorbeigekommen. Lachend und singend hatten sie weitere Krüge mit vergorenem Nektar für diese lächerliche Überlebensfeier geholt.
Shaun hatte es dort keinen Augenblick länger ausgehalten. Lieber blieb er hungrig, als noch eine einzige weitere Minute bei diesen Verrückten zu verweilen. Zornbebend war er mit seinem Gepäck in die Stallungen marschiert, hatte den riesigen Tausendfüßler Keith bestiegen und war auf ihm davongeritten. Er brauchte keine Menschen um sich herum, die den Verlust anderer mit einem ausgelassenen Fest begingen, anstatt ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie waren so sehr mit ihrer dummen Feier beschäftigt gewesen, dass sie nicht einmal bemerkt hatten, wie er verschwunden war. Er bedauerte nur, Erika zu verlassen. Nach der kurzen Zeit hatte er bereits eine gewisse Verbundenheit mit der alten Lehrerin empfunden, vielleicht sogar so etwas wie Freundschaft. Aber auf den Rest dieser Dorfgemeinschaft konnte er getrost verzichten. Er würde Mooni retten!
Lediglich der Spinnmilbe Purzel war sein Aufbruch nicht verborgen geblieben. Aufgeregt zirpend war sie ihm nachgewuselt. Am Tor hatte sie ihn eingeholt, war ihm am Bein hochgeklettert und erneut unter seinem Shirt verschwunden. Nun kuschelte sie sich zufrieden schnurrend an seinen Bauch, während sie auf dem Tausendfüßler in östlicher Richtung durch den Urwald ritten. Auch wenn es sich bei seinen beiden Begleitern nicht um Menschen handelte, fühlte Shaun sich durch ihre Anwesenheit nicht gänzlich allein.
Um die Anzeichen für das Spinnennest nicht zu übersehen, lenkte er das gewaltige Reittier immer wieder in Schlenkern und Kehren durch den dichten Bewuchs. Bereits drei Mal waren sie auf einzelne Ameisenspäher getroffen. Vermutlich lag eines ihrer Nester irgendwo in der Nähe. Zwar wusste Shaun nicht wirklich viel über diese Tiere, doch hatte er in der Vergangenheit mehrfach mit ihnen Bekanntschaft gemacht - und außerdem konnte er rechnen.
Diese roten Ameisen lebten früher, bevor alles so riesig geworden war, fast überall. Man sah sie im Sommer an jeder Ecke umherflitzen, sobald man auf den Boden blickte. Sie nisteten unter den Steinplatten im Garten, in alten Mauselöchern auf der Fußballwiese und sogar an seiner Schule im Geräteschuppen. Damals waren sie harmlos gewesen; höchstens lästige Eindringlinge, wenn sie die heimische Vorratskammer entdeckt hatten. Heute jedoch waren sie gnadenlose Mordmaschinen in der Größe von Wölfen, allerdings wesentlich gefährlicher als diese jemals gewesen waren.
Mit ein oder zwei der schrecklichen Biester kam der Tausendfüßler Keith spielend mit seinen gewaltigen Beißwerkzeugen spielend klar. Wenn jedoch einer dieser Späher hier in sein Nest zurückkehrte, konnte es passieren, dass sie von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Ameisen gejagt wurden. Vor einer solchen Übermacht gab es kein Entrinnen. Daher hielt Shaun auch weiter Ausschau nach dem verräterischen roten Glitzern ihrer Leiber zwischen dem ewig grünen Blätterwald.
Doch seit einiger Zeit war es um sie herum ruhig geworden. Verdächtig ruhig. Zu ruhig, um noch als normal zu gelten, dachte Shaun. Was hatte ihm die alte Lehrerin vor seiner Abreise geraten? Er solle auch auf die Abwesenheit von Ameisen achten, wenn er nach dem Spinnennest suchte.
Davon schien er hier keine mehr zu geben. Auch Bienen und andere Insekten waren nicht mehr zu sehen. Es sah auch keine Spinnmilben, Wanzen oder andere Tiere, die an Stämmen und Blättern herumkrochen. Allerdings bemerkte er zu seiner Linken einen merkwürdigen, gelben Schimmer zwischen den gigantischen Wedeln eines meterhohen Farns. Er lenkte Keith in einem Bogen unter die Pflanze und ließ ihn anhalten. Shauns Unterkiefer sackte vor Verblüffung herab. Plötzlich wusste er wieder, wo er sich befand.
Dort, hinter den Pflanzen, stand Schloss Holte-Stutenbrock. Das Wasserschloss. Zwar hatten die Zimmerpflanzen innerhalb des Gebäudes ebenfalls die Veränderung mitgemacht und waren ins Riesenhafte gewachsen. Sie hatten das Dach durchstoßen und einige Mauern durchbrochen. Doch ansonsten stand das gelbe Wasserschloss noch genauso friedlich inmitten seines Wassergrabens, wie Shaun es aus den Besuchen in seiner Kindheit kannte. Und auch hier konnte er keinerlei Insekten ausmachen. Allerdings sah er auch keine dieser Überreste, die die Spinnen laut Erika unter ihrem Nest liegen hatten.
Die Zugbrücke des Schlosses lag offen vor ihm. Shaun überlegte, ob er dem Bauwerk einen kleinen Besuch abstatten sollte. Doch er verwarf die Idee schnell wieder. Es kostete ihn nur Zeit. Er suchte Mooni. Sie war alles, was jetzt zählte und er würde sie kaum in diesen alten Mauern finden. Er musste weiter.
Ein Stück weiter östlich lag das Safariland Stutenbrock. Seine Eltern waren früher mit ihm dort gewesen, und es hatte auch zwei Schulausflüge dorthin gegeben. Neben dem Freizeitpark mit Karussells, einer Achterbahn, einem Indoorspielplatz und anderen Fahrgeschäften befand sich dort auch der namensgebende Safaripark. Elefanten und Bisons, Nashörner und Löwen wären durchaus als Nahrung für Spinnen geeignet, oder? Vielleicht hatten die achtbeinigen Monster zu Beginn ihres Wachstums Kaninchen und Erdmännchen verspeist, später Flamingos und Berberaffen, bis sie schließlich groß genug waren, um auch die restlichen Bewohner des Parks zu fressen. Ein riesiges All-You-Can-Eat-Buffet für alle hungrigen Insekten.
Ja, dachte Shaun, wenn er eine Spinnenkönigin wäre, hätte er genau an dieser Stelle sein Nest gebaut. Er war sich ziemlich sicher, dass er die räuberischen Monster im Safariland finden würde. Und auch Mooni. Er hoffte nur inständig, dass sie noch am Leben war und er nicht zu spät kam.
Jetzt, mit einem klaren Ziel vor Augen, trieb er sein Reittier zu größerer Eile an.
Die Zweige und Blätter flogen nur so an ihnen vorbei, als sie weiter gen Osten preschten. Längst hatte Shaun sich an die seltsamen, schaukelnden Bewegungen des Tieres gewöhnt, sodass stets die Umgebung konzentriert im Auge behalten konnte. Als der Tausendfüßler klappernd über die Überreste eines Maschendrahtzauns lief, bremste er dessen Lauf.
Sie befanden sich nun an der Grenze des Freizeitparks. Hier begann das Freigehege. Vom Sattel herab konnte er an einigen Stellen noch die verbogenen Überreste der Schienen erkennen, auf denen der Safarizug mit der Bezeichnung Affenexpress früher durch das Gelände gerumpelt war. Allerdings hatte sich die Umgebung seit seinem letzten Besuch hier ziemlich stark verändert. Aus der ehemaligen Savanne mit einzelnen Büschen war ein dichter Urwald geworden. Die allgegenwärtigen Wurzeln hatten die Stahlschienen der Bahn zerrissen und verbogen. Anklagend ragten diese letzten, eisernen Überreste zwischen riesigen Pflanzen in Höhe.
Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft, der an einen alten Kühlschrank erinnerte. Es roch nach einer Mülltonne, die zu lange in der Sonnenhitze gestanden hatte, nach toten Mäusen, die schon seit Wochen in Opas Falle gefangen waren. Kurz gesagt, es roch nach Verwesung und Tod.
Sie mussten sich in der Nähe des Spinnennestes befinden. Shaun hatte mit seiner Vermutung recht gehabt. Irgendwo hier war Mooni! Der Gedanke an sie ließ ihn seine Angst vergessen und trieb ihn voran.
Selbst der riesige Keith schien in dieser Umgebung angespannt zu sein. Seine unzähligen Beine klackerten jetzt zögerlich über das Laub und den Humus. Purzel zitterte leicht unter Shauns Shirt, verhielt sich ansonsten jedoch auffällig ruhig. Vorsichtig durchquerten die drei das ehemalige Gelände des Wildparks.
Sie erreichten die Fläche, auf der früher Fahrgeschäfte und Attraktionen gestanden hatten. Doch nun war alles von üppiger Vegetation überwuchert. Der widerliche Geruch verstärkte sich weiter. Shaun war sich ziemlich sicher, dass das Spinnennest ganz in der Nähe sein musste. Jetzt galt es, äußerste Vorsicht walten zu lassen, wenn er nicht selbst gefangen werden wollte. Er stieg vom Sattel und führte sein Reittier am Zügel weiter. Da die Spinnen bevorzugt von oben angriffen, hoffte er, am Boden etwas weniger angreifbar zu sein.
Schräg über sich im grünen Geäst bemerkte er einen riesigen, dunklen Schatten. Shaun duckte sich schnell neben den Tausendfüßler und spähte vorsichtig nach oben. Der Anblick war so surreal, dass er einen Moment brauchte, um das Gesehene zu begreifen. Hoch über seinem Kopf hing ein Kinderkarussell, das in Rosa und Blau gestrichen war. Das Bild wirkte so absurd, dass Shaun unwillkürlich kicherte. Vor einigen Jahren hatte er noch elbst in einem dieser Elefanten gesessen und den Knüppel betätigt, um sein Gefährt in die Höhe zu bringen. Jetzt saß natürlich niemand mehr darauf. Die wild wuchernden Pflanzen hatten das tonnenschwere Gerät nach oben gezogen, umschlungen und dort oben festgehalten.
Doch dann bemerkte Shaun etwas anderes. Zwischen den Zweigen und Blättern rund um das Karussell waren dicke, weiße Seile gespannt. Nein, es waren Spinnenfäden – oder genauer gesagt, Spinnentaue.
Shaun's Vermutung hatte sich bestätigt! Das Nest befand sich tatsächlich hier. Mooni musste in unmittelbarer Nähe sein. Kaum wurde ihm dies bewusst, bemerkte er auch die dunklen Schatten, die sich achtbeinig durch das Blätterdach bewegten. Es mussten die schrecklichen Spinnen sein. Er strich dem Tausendfüßler beruhigend über die Flanke. Etwas, dass er bereits bei Mooni gesehen hatte, wenn dieser sich ruhig verhalten sollte. Purzel unter seinem Shirt gab leise zirpende Laute von sich. Shaun schob vorsichtig eine Hand unter sein Kleidungsstück und seine Fingerspitzen kreisten beruhigend über dem flauschigen, roten Körper, der ängstlich zitternd an seinen Bauch gepresst war. Währenddessen beobachtete er konzentriert das emsige Treiben über ihren Köpfen.
Die riesigen schwarzen Monster wirkten bei Tageslicht leider genauso erschreckend wie in der Nacht. Shaun war zwar nicht jemand, der beim Anblick einer Spinne schreiend davonlief, aber ein Krabbeltier auf seiner Hand hatte ihn immer zum Zurückschrecken gebracht. Nun waren diese Krabbeltierchen zu monströsen Wesen herangewachsen, die die Größe eines ausgewachsenen Menschen erreichten. Wenn sie ihre behaarten Beine ausstreckten, waren sie sogar größer als jeder SUV. Und genau diese Monster konnte er nun über sich durch die Zweige turnen sehen. Sie trugen emsig längliche, weiße Pakete herum oder spannten neue Seile zwischen den Ästen. Shaun bemerkte, dass diese weißen Dinger in ihren Klauen Lebewesen sein mussten - ihre Beute. Einige der Bündel bewegten sich träge. Zudem erkannte er, dass sich die Spinnen mit ihrer Beute stets in die gleiche Richtung bewegten. Dort musste ihr Nest musste dort sein! Sie brachten diese armen, verschnürten Bündel in ihre Vorratskammer. Dort musste auch Mooni sein. Vorsichtig, jedes Blatt als Deckung nutzen, folge Shaun den Spinnen.
Auch wenn es ihm unmöglich erschien, verstärkte sich der abscheuliche Geruch weiter. Nach etwa fünfzig Metern lichteten sich die Pflanzen und Shaun hatte freie Sicht auf den ehemaligen Mittelpunkt des Freizeitparks. Inmitten von geborstenen Betonplatten ragte der Giraffentower schräg in die Höhe. Eigentlich hätte dieser Freefall-Tower aufgrund seiner Schräglage längst der Schwerkraft folgen und am Boden zerschellen müssen. Doch unzählige weiße Seile verbanden ihn mit den umliegenden Bäumen. Und ganz oben in diesem Geflecht befand sich eine riesige, weiße Kugel. Diese verfluchten Spinnen hatten ihr Nest oben auf dem Freefall-Tower gebaut.
Shaun konnte sein Glück kaum fassen. An jedem anderen Ort hätte er vermutlich wilde Klettermanöver absolvieren müssen, um das Nest zu erreichen. Doch hier befand sich an der Seite der Stahlkonstruktion eine Leiter, die bis ans obere Ende führte. Wahnsinn!
Er wies den Tausendfüßer an, am Rand des Urwaldes auf ihn zu warten. Keith blickte ihn kurz an, drehte dann den Kopf zur Seite und begann entspannt an einigen Grashalmen zu kauen. Schwieriger gestaltete es sich mit der Spinnmilbe. Purzel weigerte sich, Shaun zu verlassen. Entschlossen zirpend klammerte sie sich mit ihren sieben Beinen an ihm fest. Am Ende seufzte er ergeben.
»Na gut, dann kommst du halt mit. Aber beschwere dich später nicht, wenn du gefressen wirst.«
Das Tier schnurrte zur Antwort. Shaun musste unwillkürlich grinsen. Insgeheim war er froh, nicht ganz alleine ins Zentrum der Spinnen zu gehen.
Rund um den Freefalltower war der Platz mit übelriechendem Abfall übesäht.
Hustend und würgend kämpfte er sich durch kniehohe Berge von Spinnenkot und den unverdaulichen Resten ihrer verwesenden Mahlzeiten. Es war schrecklich. Lediglich das Wissen, sein Ziel so dicht vor sich zu haben, ließ ihn durchhalten und weitermachen. Am liebsten würde er einfach weglaufen und sich übergeben - oder auch andersherum. Immer wieder musste er sinehalten, da ihm durch die stechenden Ausdünstungen schwindelig wurde.
Irgendwann hatte er es dann doch geschafft. Er war den Fuß des Fahrgeschäfts angelangt, ohne dass eine einzige Spinne auf ihn aufmerksam geworden, ohne dass er ohnmächtig geworden und in den Abfall gestürzt war. Shaun war mächtig stolz auf sich. Lediglich ein feuchter Fleck auf seinem Shirt, auf Höhe seines Bauchnabels, bewies, dass Purzel weniger Kontrolle über seine Körperfunktionen besaß. Und es roch plötzlich verdächtig nach dem Zeug, das Mooni ihm als Energydrink angedreht hatte. Er würde später noch einmal ein ernstes Gespräch darüber führen müssen. Zuvor allerdings würde er sie retten!
Nach einem prüfenden Blick nach oben griff Shaun nach den Leitersprossen. Es war erstaunlich ruhig hier. Er hatte Wächter erwartet, die das Nest vor Räubern schützten. Doch die Spinnen schienen sich sehr sicher zu sein. Hier gab es in einem größeren Umkreis kein Leben außer ihnen, daher verzichteten sie vermutlich auch auf Wachen. Außerdem wäre kaum jemand so töricht, sich durch dieses Zeug am Boden zu kämpfen und dann noch in ihr Nest einzudringen. Niemand außer Shaun.
Ohne hinabzublicken, erklomm er die Leiter. Sprosse für Sprosse zog er sich höher. Er kam schnell voran. Doch wenige Meter vor der riesigen Nestkugel musste er anhalten. Hier ging es nicht weiter. Drei dicke, weiße Spinnentaue versperrten ihm den Weg. Kurz überlegte er, ob er darüber klettern sollte. Doch schon eine zaghafte Berührung mit einer Fingerkuppe zeigte ihm, dass dieses Zeug so klebrig wie Sekundenkleber war. Die Haut seiner Fingerspitze blieb am Seil haften, als er die Hand zurückzog. So kam er hier nicht vorbei.
Shaun zog sein Messer aus der Tasche. Vielleicht konnte er einen Teil der Taue durchschneiden. Mühsam sägte und säbelte er daran herum und benötigte eine gefühlte halbe Ewigkeit, bis er es geschafft hatte.
Als das erste Hindernis schließlich mit einem schnalzenden Laut riss, durchlief eine Erschütterung den gesamten Turm. Das ganze Metallkonstrukt begann ächzend zu wackeln. Shaun klammerte sich verzweifelt an der Leiter fest. Hoffentlich hörte das bald wieder auf. Er verfluchte seine Idee.
Über ihm ertönten schnarrende Laute. Eine Spinne schob ihren Körper aus einer Öffnung in der Kugel, lediglich zwei Meter entfernt. Shaun erstarrte vor Schreck. Das riesige, schwarze Tier drehte sich über ihm und presste seinen Hinterleib gegen die Sprossen. Mit flinken Bewegungen hangelte es sich entlang eines anderen Spinnenseils, während ein weißer Faden aus seinem Hinterleib wuchs. Umgehend reparierte es die von Shaun zerstörte Verbindung. Er atmete erleichtert auf. Offenbar hatte es ihn nicht bemerkt. Vielleicht konnten sie tagsüber nicht gut sehen, was ihre nächtlichen Raubzüge in der Menschensiedlung erklären würde.
Doch wie sollte er nun den letzten Abschnitt überwinden? Es fehlten nur noch zwei Meter bis zum Eingang des Nests. Aber er kam einfach nicht weiter. Um die letzte Strecke zu überwinden, müsste er schon fliegen können. Doch er musste dort hoch, irgendwie. Er musste einfach. Wenn er Flügel hätte, dann würde er sich jetzt in die Lüfte erheben und hinauffliegen.
Vielleicht hätte er sich dies besser nicht wünschen sollen. Mit lautem Brummen näherte sich plötzlich ein Schatten aus dem Urwald. Bevor Shaun überhaupt realisierte, was geschah, wurden seine Glieder von kräftigen Greifern erfasst und er wurde von der Leiter in die Höhe gerissen. Ein entsetzter Schrei entkam seinen Lippen.
In panischer Angst riss er seinen Kopf nach oben und sah, dass er am unteren Ende zweier Insektenbeine hing. Sie gehörten zu einem gewaltigen, langgestreckten Körper einer Libelle. Der Körper des Insekts schimmerte in schillernden Blau- und Gelbtönen, während irisierende Muster seine Oberfläche zierten. Die mit Zähnen und Wiederhaken versehenen Klauen gruben sich schmerzhaft in seinen Rücken. Ein höllisches Brennen durchzog seinen Körper. Das riesige Insekt trug Shaun immer höher in die Luft und raste dann mit ihm in südlicher Richtung über das Blätterdach. Dann verlor er das Bewusstsein.