Ganz genau konnte er sich nicht erinnern, wie sie letztlich in diese Siedlung gelangt waren. Irgendwann hatte das schreckliche Schaukeln des Sattels unter ihm aufgehört, auch wenn das Brennen an seinem Hintern weiter anhielt. Dann waren plötzlich Gesichter um ihn herum gewesen. Hände hatten ihn heruntergehoben, ihn getragen. Ein braungrünes Dach war über ihm gewesen. Sanfte Finger berührten ihn, wuschen ihn und versorgten seine Schnitte und Risse. Man flößte ihm etwas zu trinken ein. Dann war er eingeschlafen.
Shaun blinzelte. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn in der Nase. Das war merkwürdig. In seiner Zuflucht im Lagerraum hinter der Stahltür war es immer dunkel. Wo kam das Licht jetzt her? Lag er im Freien, wo ihn die Insekten ...? Aber nein, da war eine geflochtene Blätterwand vor seiner Nase. Das Licht drang durch einen kleinen Spalt.
»Hey Bruder, endlich bist du wach.«
Er riss die Augen auf und blickte zur Seite. Da war dieses Mädchen wieder. Die langen blonden Haare waren nun nicht mehr verfilzt und voller Blätter. Ihr sauberes Gesicht grinste ihn breit an. Jetzt war sie noch hübscher. Und seine Erinnerungen kehrten zurück.
»Mooni«, murmelte er verschlafen.
»Na wer denn sonst, Ameisenköder?«
Er verzog das Gesicht bei dieser Bezeichnung. Sie hätte ihn nicht extra an dieses Abenteuer erinnern müssen. Seine linke Schulter tat immer noch etwas weh. Jemand hatte ihm in der Zwischenzeit dort einen festen Blätterverband angelegt. Auch der Schnitt am Unterarm war auf die gleiche Weise versorgt worden. Immerhin waren seine Kopfschmerzen und die Übelkeit verschwunden. Vorsichtig richtete er sich auf. Die Bettdecke aus Pflanzenfasern rutschte herab und entblößte seinen nackten Oberkörper. Mooni betrachtete ihn ungeniert, was ihm die Röte ins Gesicht trieb. Rasch zog er die Decke wieder hoch und sah sich nach seinem Shirt um.
»Hab dich nicht so«, lächelte sie ihn an. »Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«
»Na danke«, erwiderte Shaun und blickte ostentativ zur Decke.
»Hey! So war das doch gar nicht gemeint, Bruder«, verteidigte sie sich. »Ich helfe Sara hier ständig dabei, die Leute zu versorgen. Glaub mir, ich hab da inzwischen echt schlimme Sachen erlebt. Wir mussten Walter zum Beispiel das Bein amputieren, nachdem er in eine dieser Venusfliegendinger geraten war. Verfluchte Mistpflanzen, sag’ ich dir. Der Idiot, der die vorher auf seiner Fensterbank hatte, gehört ordentlich verdroschen.«
Shaun wandte ihr wieder den Kopf zu. Er verstand zwar nur die Hälfte, konnte sich jedoch gut vorstellen, dass auch die Zimmerpflanzen nach der Apokalypse durch den Regen verändert waren. Ihm schauderte bei dem Gedanken, was dort draußen noch alles auf sie lauerte. Offensichtlich waren nicht nur die Insekten zu einer tödlichen Gefahr geworden.
»Wo bin ich?«, fragte er.
»Na, in unserer Siedlung. In Gütersloh, Holzkopf. Jetzt zieh dich endlich an, und ich zeig’s dir!«
Bis auf den Blätterverband war er völlig nackt, wie er bemerkte, als er die Decke zurückschob. Er sprang auf und wandte sich mit hochroten Kopf um. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen seine Hose und das Shirt. Jemand hatte sie gewaschen und die Risse geflickt. Glücklicherweise schmerzte seine Schulter nur noch leicht, als er sich rasch anzog. Gemeinsam traten sie vor die Hütte.
Shauns Blick glitt staunend über die vielleicht zwei Dutzend kleinen Hütten aus geflochtenen Blättern und Pflanzenfasern, die sich hinter einer Palisade aus angespitzten Holzstämmen drängten. Über ihnen spannte sich ein grobmaschiges Netz aus Stahlseilen, das vermutlich fliegende Insekten abhalten sollte. Über allem wiederum erhob sich das allgegenwärtige Dach aus Blättern.
»Und hier lebst du?« Es wirkte auf ihn eher wie ein Eingeborenendorf am Amazonas als wie eine Wohnsiedlung mitten in Deutschland.
»Es ist vielleicht nicht hübsch«, sagte eine tiefe Stimme von hinten, »aber es ist zweckmäßig. Und die Pflanzenhäuser schützen uns vor dem ätzenden Regen.«
Shaun wandte sich um. Hinter ihnen war ein weißbärtiger Mann aufgetaucht, der sich nun humpelnd und auf einen Stock gestützt näherte. An seine lederne Weste waren rundum zusätzliche Taschen angenäht worden, die er mit allerlei Dingen vollgestopft hatte. Um seine Hüfte hatte er sich einen gewaltigen Werkzeuggürtel geschlungen, der ebenfalls mit zahlreichen Taschen und Schlaufen versehen war. Er trug daran mehrere Hämmer, Zangen, Meißel und viele andere Werkzeuge mit sich herum. Bei jedem seiner schaukelnden Schritte klirrte und schepperte es laut.
Mooni griff nach Shauns Hand. »Darf ich dir Häuptling Klingelnder Gürtel vorstellen.«
Der alte Mann sah sie vorwurfsvoll unter buschigen Brauen an. »Du weißt genau, dass du mich nicht so nennen sollst.«
»Aber du klingelst doch«, blinzelte sie unschuldig.
Shaun musste grinsen. Offensichtlich war nicht nur er ein Opfer ihrer eigentümlichen Namensfindungen geworden.
Der Mann räusperte sich und streckte ihm die Hand entgegen.
»Es freut mich, dich endlich begrüßen zu dürfen. Ich bin Walter Maschinski und so etwas wie der Bürgermeister hier. Na ja, jedenfalls sind wir alle froh, dass du nun bei uns bist. Und du heißt Shaun, hat Mooni schon erzählt.«
Der Junge nickte. Er hatte sich entschlossen, den neuen Namen beizubehalten. Lediglich Mooni wusste hier, mit welchem Namen ihn seine Eltern gestraft hatten. Er hatte ihn jedenfalls nie gemocht. Shaun dagegen klang verwegen. Kurz, knapp und frech.
Der Mann sprach weiter: »Du hast sie gerettet, sagt sie. Dafür möchte ich dir im Namen aller danken. Damit hast du unserer kleinen Siedlung einen großen Dienst erwiesen.« Er tätschelte seinen Arm.
»Jedenfalls, dann sei hier bei uns willkommen, Shaun. Mooni führt dich ja gerade schon herum. Wir alle hier freuen uns über jeden neuen Bewohner. Du kannst dir später eine der leeren Hütten aussuchen, wenn du willst. Ich muss jetzt allerdings endlich diese verflixte Wärmepumpe zum Laufen bringen.«
Er zog einige Metallstifte und Nieten aus einer Gürteltasche und zeigte sie Mooni. »Damit sollte ich die Bauteile verbunden bekommen. An diesen blöden Stiften habe ich die halbe Nacht herumgefeilt. Hoffentlich passen sie nun.«
Mooni blickte ihn vorwurfsvoll an: »Der Schmied in Herford hat gesagt, du sollst endlich die Schrauben nehmen, die er dir extra dafür gedreht hat.«
Walter schüttelte den Kopf. »Es geht nichts über anständige Metallstifte, wenn man hier etwas verbinden will. Ich muss das schließlich wissen, ich bin Ingenieur.«
Er sah wieder zu Shaun: »Na ja, wir unterhalten uns dann später beim Abendessen. Da kannst du uns erzählen, was du bisher alles erlebt hast, und wir finden eine passende Beschäftigung für dich bei uns.«
Damit wandte er sich um und humpelte klingelnd und klappernd über den Platz.
Shaun bemerkte das geschnitzte Holzbein des Mannes und erinnerte sich an die Worte von Mooni über eine Venusfliegenfalle. Ihm lief es kalt über den Rücken. Das Leben war hart geworden. Aber immerhin hatten sie bisher überlebt. Eine Handvoll Menschen, die Letzten von Zehntausenden hier in der Gegend. Sie sollten jeden Augenblick genießen, solange ihnen noch blieb.
Mooni beugte sich zu ihm und flüsterte verschwörerisch: »Und er klingelt doch, unser Häuptling!«
Shaun grinste sie an.