Satt und zufrieden strich Mooni durch Shauns Haar. »Jetzt kann ich es dir ja verraten. Es waren zerstampfte Eier.«
Shaun, der gerade ebenso satt und mindestens genauso glücklich an ihrer Schulter lehnte, öffnete träge ein Auge.
»Eier? Von welchen Hühnern denn?«
Mooni schüttelte sich bei dieser Frage so sehr vor Lachen, dass sein Kopf den Halt verlor und er beinahe auf die grobe Tischplatte geprallt wäre.
Brummend richtete Shaun sich auf. »Ich verstehe nicht, was daran wieder so witzig sein soll.«
Sie schwieg einen Moment, blickte nachsinnend in die Runde. Auf den grob gezimmerten Bänken ringsum saßen die Bewohner dieser Siedlung. Ein kleiner, freier Platz inmitten des wild wuchernden Grüns.
Sie tätschelte seine Hand und deutete auf die Ansammlung von Hütten. »Ich lache nicht über dich, Bruder. Weißt du, ich habe hier schon vorher gewohnt. Jetzt ist alles weg, die Häuser, die Autos und auch die Schule.« Sie schluckte. »Und auch meine Eltern.«
»Meine auch. Aber warum findest du das lustig? Wegen der Schule?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Weißt du, das alles hier ist ein einziges, riesiges Wunder. Schau da hinten. Dort sitzt Hanna mit Tabitha und Lars. Du kannst die beiden aber auch Bezopfter Fragensack und Breibeschmierter Grinsekeks nennen.«
Er blickte in die angedeutete Richtung und sah eine stämmige Frau. Auf ihrem Schoß zappelte ein kleiner Junge. Liebevoll fütterte sie ihn mit Brei aus einer Schüssel, der allerdings auch an Nase, Wimpern und am Kinn klebte. Das ältere Mädchen daneben sprach währenddessen unentwegt auf die Frau ein. Alle drei sahen zerlumpt und müde aus, doch sie wirkten zufrieden.
»Sind das ihre Kinder?«, fragte Shaun.
»Nein, aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Ich meinte etwas anderes.«
Sie wies in den Schatten zwischen zwei Hütten. »Das dort sind Horst und Erika. Sie sind jetzt seit 57 Jahren verheiratet, sagen sie jedenfalls.«
Shaun bemerkte ein Pärchen, das sich auf einer Bank niedergelassen hatte und Händchen hielt. Versonnen lächelnd betrachteten die beiden älteren Herrschaften Hanna und die Kinder.
»Sie sind die Einzigen hier in der Siedlung«, sagte Mooni, »die nicht sämtliche Familienangehörigen verloren haben. Okay, vermutlich irgendwie schon. Aber sie hatten die ganze Zeit über noch immer sich und waren nach dem Zusammenbruch nie allein.«
»Aber alle wirken glücklich und zufrieden«, vermutete Shaun. »Meinst du das?«
»Bingo, du hast es. Also bist du doch nicht so ein Holzkopf, wie ich zuerst dachte. Ich hab schon befürchtet, meine eigenen Kinder würden später alle ›lechts‹ nicht von ›rinks‹ unterscheiden können.«
Zuerst blickte Shaun sie entgeistert an, dann konnte auch er das Lachen nicht länger zurückhalten. Als er wieder Luft bekam, bemerkte er einen quäkigen Laut, der von oben, irgendwo aus den umliegenden Pflanzen zu kommen schien. Ein Tier? Angestrengt starrte er in die Dunkelheit hinter der schützenden Palisade.
»Das ist Basti«, erklärte Mooni. »Er hat früher bei den Bielefelder Philharmonikern gespielt. Seine Oboe hat er natürlich nicht mehr, aber der Häuptling hat ihm etwas Ähnliches gebastelt, damit er weiter üben kann.«
Aus dem langgezogenen Geräusch, das eher nach einem Frosch klang, der gerade von einer Ente gefressen wurde, entwickelten sich einzelne schwebende Töne. Kurze Zeit später wandelten diese sich in eine schwermütige Melodie, die über die blättergedeckten Hütten schwebte und durch die Nacht hallte.
Shaun griff nach Moonis Hand. Auf eine merkwürdige Weise berührten ihn diese Klänge. Es lag so viel Schwermut und Trauer darin, und sie erinnerten ihn an seine eigenen ersten Tage nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern. Auch ohne Worte erzählte die Melodie eine kummervolle Geschichte von Verlust und Tod, von Angst und Flucht. Sie betrauerte das Vergangene und beklagte die endlosen Toten. Vermutlich konnte hier jeder auf ähnliche Erlebnisse zurückblicken, wurde Shaun klar.
Rechts von ihm begann jemand auf den Holztisch zu pochen. Ganz langsam und gemächlich begleitete der dumpfe Klang das traurige Lied, suchte und fand schließlich den Takt. Shaun erkannte den Bürgermeister Walter, der mit seiner Faust das Holz zum Klingen brachte. Schon bald stiegen weitere Bewohner mit ein, klatschten gemächlich mit oder trommelten mit geschnitzten Löffeln auf ihre Schüsseln ein.
»Das ist hier inzwischen schon so etwas wie eine Tradition«, erklärte Mooni dem staunenden Shaun.
Dann, ganz langsam zuerst, steigerten die Trommler die Geschwindigkeit. Auch Basti folgte ihnen. Aus dem Larghetto wurde ein Moderato, das sich immer weiter steigerte, bis sie alle gemeinsam eine temporeiche und lustige Weise spielten. Das Stück war voller Triller und Ornamente, die Bastis musikalisches Talent zeigten. Eine Flöte stieg ein, um das bereits schnelle Spiel mit zahlreichen Triolen zu übertrumpfen.
Niemanden hier ließen diese Klänge kalt, und fast jeder fügte dem Lied noch einen eigenen, persönlichen Teil hinzu. Die Kinder Tabitha und Lars hatten sich an den Händen gefasst und tanzten hüpfend im Kreis.
Shaun lachte. So glücklich war er schon lange nicht mehr gewesen. Das warme Licht der Lampen und die strahlenden Gesichter der musizierenden Bewohner um ihn herum vermittelten ihm ein Gefühl der Geborgenheit, wie er es selbst bei seinen Eltern selten empfunden hatte. Wie selbstverständlich begann er ebenfalls im Takt zu stampfen und die Melodie mitzusummen. Er war nun ein Teil dieser Gemeinschaft. Er gehörte dazu, war jetzt zu Hause.
Unvermittelt schlug etwas vor ihm mit einem dumpfen Geräusch auf der Tischplatte auf. Erschrocken fuhr Shaun zurück, als der faustgroße, leuchtend rote Klumpen sieben Beine ausstreckte und unbeholfen zu strampeln begann.
»Eine Spinne!«, entsetzt sprang er auf.
»Hey Bruder, beruhig dich wieder.« Mooni streckte gemächlich die Hand nach der riesigen, kugeligen Spinne aus und half ihr, sich umzudrehen.
Das Tier zirpte leise und schmiegte sich als Dank an ihre Hand.
»Das ist die siebenarmige Purzel. Sie fällt ständig von den Zweigen«, erklärte sie.
»Das ist eine ... Spinne!«
»Das ist eine harmlose Spinnmilbe, Angsthase.«
Zweifelnd betrachtete Shaun das rote Wesen. Es sah nicht gerade gefährlich aus, eher wie ein rotes Kuscheltier. Aber trotzdem, es blieb eine Spinne!
Mooni griff nach seiner Hand und zog ihn näher heran. »Jetzt hab dich nicht so. Du hast gerade noch ihre Eier gegessen. Wir halten sie hier als Haustiere.«
Ihm wurde übel. Spinneneier? Er konnte das angewiderte Schütteln nicht unterdrücken. Das Tierchen auf dem Tisch gab einen weiteren Laut von sich und betrachtete Shaun aufmerksam.
»Ehrlich«, fuhr Mooni fort, »die leben hier zu Hunderten in den Pflanzen um uns herum. Sie saugen an den Blättern und Zweigen und hemmen damit das Pflanzenwachstum. Sonst wäre der Dorfplatz vermutlich schon längst überwuchert. Außerdem kann man ihre Eier essen.«
Zögernd streckte Shaun einen Finger aus und berührte das Tier vorsichtig mit der Fingerspitze.
Purzel blieb ganz still und gab nur ein leises und beruhigendes Schnurren von sich. Nun wurde Shaun etwas mutiger. Er strich mit der Hand über den weichen Flaum auf dem Kugelkörper. Die Spinnmilbe schien sich seiner Hand entgegenzustrecken, das Schnurren wurde lauter. Sie klang jetzt wie eine Katze.
»Sie mag dich!«, lächelte Mooni ihn an.
Shaun setzte sich wieder neben seine Freundin auf die Bank. Nun kraulten sie das Tier gemeinsam. Das merkwürdige Wesen auf dem Tisch genoss die doppelte Aufmerksamkeit sichtlich. Irgendwann warf es sich auf den Rücken und ließ sich von beiden die Unterseite massieren.
Einige Zeit später - die Musik war längst verklungen - saßen Mooni und Shaun zusammengekuschelt auf einem Strohkissen am Rande des Platzes. Die kleine Spinnmilbe Purzel hatte es sich inzwischen auf dem Schoß des Jungen gemütlich gemacht und nuckelte liebevoll an seinem Daumen. Bürgermeister Walter erzählte den Leuten von seinen Plänen, mit dem Strom aus der Wärmepumpe ein elektrisches Kochfeld zu betreiben, als plötzlich aus den umliegenden Pflanzen ein Warnruf erscholl.
»ALARM! INSEKTEN KOMMEN!«