Zutiefst erschüttert und bis zum Bersten mit Schmerz und Hilflosigkeit erfüllt, schlurfte Shaun einsam zurück in die Hütte. Er ließ sich auf die Schlafstätte fallen, presste das Gesicht in die Kissen und schrie, bis ihm der Hals brannte. Erneut floss ein endloser Strom heißer Tränen. Irgendwann in der Nacht schlief er heiser, mit brennenden Augen und völlig erschöpft ein.
Laute Stimmen rissen ihn aus unruhigen Träumen, die von Riesenspinnen bevölkert waren. Mit schmerzenden Gliedern und einem kratzenden Hals richtete er sich auf und griff durstig nach einer tönernen Wasserkaraffe.
Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Sie war weg. Mooni. Für immer! Wie vom Blitz getroffen brach er zusammen. Schmerz und Trauer überrollten ihn. Die Karaffe glitt aus seinen Händen und zerbarst auf dem Boden. Sie war fort! Er war wieder allein!
Keuchend hockte er inmitten der Scherben. Sein Leben war ebenso zerbrochen wie dieser Krug. Ihm schien, als würde die Trauer seinen Hals zuschnüren. Er würde sie nie wieder sehen. Erst seine Eltern, dann seine Freunde. Nun auch Mooni, der letzte Mensch, der ihm auf dieser Welt geblieben war.
In seinen Augen sammelten sich erneut heiße Tränen, als Bürgermeister Walter plötzlich im Türrahmen erschien.
»Hey Junge, komm endlich raus und feiere mit uns!«
Ungeduldig wedelte der Weißhaarige mit der Hand. Als sein glasiger Blick auf die Scherben am Boden fiel, lächelte er dümmlich.
»Hoho! Scherben bringen Glück. Und das hattest du wohl letzte Nacht. Ich beglückwünsche dich, ebenfalls zu den Überlebenden zu gehören. Und nun komm endlich. Darauf müssen wir anstoßen!«
Shaun wehte der scharfe Geruch von Alkohol in die Nase. Er unterdrückte ein Würgen. Draußen vor der Hütte lachte jemand laut auf. Er war fassungslos. Betranken sich die Dorfbewohner dort gerade? Das konnte doch nicht sein. Walter Maschinski grinste ihn noch einen Augenblick lang an und verschwand dann unsicher wankend aus der Hütte.
Heißer Zorn stieg in Shaun auf. Letzte Nacht hatte es hier in der Siedlung einen mörderischen Kampf gegeben. Menschen waren zu Tode gekommen, und diese Leute hier hatten jetzt nichts Besseres zu tun, als zu feiern?
Er sprang auf. Ihm reichte es. Er würde gehen und diese Siedlung verlassen. Mit diesen Verrückten wollte er nichts weiter zu tun haben. Hastig zog er sich an.
»Glückwunsch zu einem neuen Tag unter dem grünen Blätterdach!«, schallte es ihm im Chor entgegen, als er ins Freie trat.
Das ganze Dorf hatte sich versammelt, lachte und scherzte, trank und feierte. Diesmal jedoch ohne Mooni. Und auch ohne Horst, wie er wusste. Shaun bemerkte Erika, die etwas abseits des Trubels stand und ihn mit Gesten zu sich rief.
Seine Hände zu Fäusten geballt, stapfte er wortlos an den Feiernden vorbei und hinüber zu der alten Frau. Mit jedem Schritt wuchs sein Zorn auf diese Bewohner der Siedlung. Was bildeten diese sich ein? Feierten sie sich nun dafür, dass sie es zugelassen hatten, dass andere aus ihrer Mitte entführt und getötet wurden?
Das konnte nicht – nein, das durfte nicht sein! So etwas taten Menschen doch nicht. Trauer und Wut ließen ihn zittern.
»Du musst es ihnen nachsehen«, sagte Erika. Die alte Frau hatte seinen Gesichtsausdruck bemerkt und die richtigen Schlüsse gezogen.
»Sie wissen nicht, wie lange ihr eigenes Leben noch andauert. Auf diese Art versuchen sie lediglich, die Angst abzuschütteln. Sie betrauern die Verluste, glaube mir. Nur haben sie verlernt, dies auch zu zeigen. Wenn jeder Tag dein Letzter sein könnte, wenn du andauernd geliebte Menschen um dich herum sterben siehst, dann wirst du irgendwann äußerlich hart. Es dient dem Selbstschutz. Vermutlich würden sie sonst jegliche Hoffnung und all ihren Lebensmut verlieren.«
Sie tätschelte seinen Arm.
»Ich werde gehen. Ich will so nicht leben«, teilte Shaun ihr mit zornbebender Stimme mit.
Erika nickte müde. »Das dachte ich mir schon. Am liebsten würde ich dich begleiten, aber ich wäre dir nur eine Last. Du kommst ohne mich besser klar, das hast du ja schon bewiesen. Ich warte lieber hier auf mein Ende.« Sie blickte ihn traurig an.
Dann allerdings schlich sich ein verzweifeltes Lächeln in ihre faltigen Züge. »Weißt du, ich war früher mal Lehrerin. Das liegt zwar schon einige Jahre zurück, aber ein paar der Dinge habe ich noch nicht völlig vergessen.«
Shaun sah sie zweifelnd an. Was kam jetzt? Weitere Lebensweisheiten einer Mathelehrerin? Ein wenig Grammatik zum Trost? Als ob ihm eine Lehrerin noch helfen könnte.
»Chemie und Biologie waren damals meine Fächer. Und daher weiß ich beispielsweise auch, dass diese mutierten Riesenspinnen von letzter Nacht ihre Beute nicht einfach fressen, sondern zunächst verschnürt in ihr Vorratslager schaffen. Es kann also gut sein, dass Mooni und Horst noch am Leben sind und nun im Nest der Araneae darauf warten, irgendwann als Futter zu enden.« Sie holte Atem.
Shaun starrte sie mit ungläubig aufgerissenen Augen an. »Wie meinen Sie das?« Ein Funken verzweifelter Hoffnung glomm in ihm auf.
»Na, ich will damit sagen, dass deine Mooni und auch mein Horst vielleicht noch leben könnten. Während diese Idioten da hinten«, sie hüstelte und deutete auf die Dorfmitte, »sich lediglich gegenseitig dafür gratulieren, noch unter den Lebenden zu verweilen. Anstatt etwas gegen die Bedrohung zu unternehmen - oder womöglich sogar die Entführten zu befreien.«
Ihr Blick wurde eindringlich. »Wenn du schon gehen musst, Shaun, dann versuche, deine Mooni zu retten. Und wenn du Horst siehst, sag ihm, dass ich ihn liebe!«
Shaun schluckte. Sollte das wahr sein, dann gab es vielleicht noch eine Chance für seine Freundin.
So traf er eine Entscheidung. Er würde keine Sekunde länger warten. Er würde jetzt gehen. Er würde den Tausendfüßler Keith mitnehmen und Mooni retten.
Erika hatte ihm erneut die Gedanken im Gesicht abgelesen. »Du musst dich östlich halten. Irgendwo in den Baumkronen findest du das Spinnennest. Suche am Boden nach ihrem Abfall. Knochen und leere Panzer von ihren Opfern, meine ich. DSo solltest du es erkennen können. Und auch an der Abwesenheit der Ameisen in diesem Gebiet.«
Shaun nickte grimmig und wandte sich um.