CN: Hetzjagd, Beißen, nicht-menschliche Charaktere, indirekte Kontrolle, Werwölfe, physische Gewalt, Kratzen
„Ich ... ich glaube ... ich kann nicht mehr lange.“ Qir konnte kaum sprechen, so gequält rang es um Atem. Req ging es nicht besser, aber sie durften trotzdem nicht innehalten. Noch nicht. Dann wäre die Jagd zu schnell vorbei gewesen.
Es war ihre Natur. Zu laufen, zu flüchten vor den wilderen Waldwesen. Gejagte zu sein. Req spürte das in Nächten wie diesen sehr tief, sehr deutlich. Ein Schauer durchlief es, als sich ein gewaltiges Heulen hinter ihnen erhob.
„Komm!“, flüsterte es, und Qir nickte gequält. Sie liefen wieder los, tiefer in den nachtschwarzen Wald hinein. Der Boden war regenfeucht, von Blättern bedeckt und glitschig. Der volle Mond warf bleiches Licht durch die kahlen Wipfel, jeder Kronenschatten eine vielfingrige Hand, die nach ihnen griff. Sie waren einfach zu entdecken, zwei bleiche, gehörnte Schemen in vollem Lauf, und nichts bot ihnen Deckung, nicht einmal die Gegenwart ihrer Herde. Von den anderen Faunen waren sie schon lange getrennt; einige waren bereits zu Anfang erwischt worden. Req hatte den Verdacht, dass sie sich nicht besonders Mühe gegeben hatten, zu entkommen; sie hatten sich ihre Häscher schon auserkoren und konnten es vermutlich kaum erwarten, von ihnen niedergerungen zu werden.
Req war anders; erst, wenn sein Herz schmerzhaft in seiner Brust hämmerte, alle Muskeln brannten, jeder Atemzug eine Qual war und es den Atem eines Verfolgers im Nacken spürte, fühlte es sich bereit, aufzugeben. In manchen Nächten war es entkommen und auch gar nicht traurig gewesen, leer auszugehen. In anderen war es gefangen worden, von einem der stärksten und ausdauerndsten der Jäger, und das war ebenfalls wundervoll gewesen. Das Wichtigste war die Jagd; Req lebte für die Jagd.
Sie hasteten gerade durch eine niedrige Senke, gefüllt mit besonders tiefem Laub, als plötzlich zwei gewaltige, schwarze Schemen über den hinter ihnen liegenden Hang fegten wie ein dunkler Wirbelsturm.
„Sie haben uns gefunden!“ Qir quiekte vor Schreck und brach zur Seite aus, bevor Req es davon abhalten konnte. Einer ihrer Verfolger knurrte und folgte ihm. Req wartete nicht ab, was geschehen würde. Es lief weiter, und hörte nur noch ein ersticktes Wimmern, bevor der rauschende Wind in den Ohren und der trommelnde Herzschlag wieder alles übertönte. Qir war gefangen. Req war das letzte Faun, das übrig war, dessen war es sich sehr sicher. Es wagte nicht, sich umzusehen, und lief weiter. Aber es wurde immer mehr gewahr, dass es nicht mehr allein war; der zweite Wolf war auf seiner Fährte und hetzte hinter ihm her. Die schweren Tatzen des Biestes machten viel Lärm auf dem unebenen Waldboden, rissen die feuchte Erde auf, und an seinem massigen Körper zerbrachen die Äste, die Reqs Haut nur streiften. So wusste Req, dass sich der Wolf langsam, aber sicher näherte und Req irgendwann einholen würde. Die einzige Chance war, länger und ausdauernder zu laufen; nicht nachzugeben, keine Sekunde lang. Req lief, während der Wind in sein Gesicht peitschte und die Welt zu undeutlichen Schemen verschwamm.
Aber es reichte nicht; nicht bei diesem Jäger. Req setzte seine letzten Reserven ein, versuchte einen letzten, verzweifelten Sprint, und gerade, als es schneller laufen wollte, wurde es von den Läufen geholt. Eine gewaltige Tatze traf es und schleuderte es durch die Luft. Es rollte über den erdigen Waldboden, herumgeworfen wie ein lebender Spielball, und kam dann, keuchend und hilflos, auf dem Rücken zu liegen. Ein riesiger, dunkel behaarter Schemen setzte seinem Körper nach, umkreiste es knurrend und geifernd. Cyran; es musste einfach Cyran sein. Er war neu unter den Jägern gewesen und hatte sofort Reqs Aufmerksamkeit gewonnen. Req hatte seine dunklen Augen und seine dunkelbraune, im Mondlicht schimmernde Haut noch gut im Gedächtnis. Genauso wie den gierigen Blick, den er Req geschenkt hatte.
„Du bist tapfer gelaufen, kleines Faun. Aber ich habe dich von Anfang an gewittert. Du bist meine Beute“, knurrte er. Req versuchte, wieder auf die Läufe zu kommen, doch es kam nicht weit. Gewaltige Tatzten stießen es zu Boden, nagelten es fest, stemmten sich in seinen Körper, und seine langen Beine waren völlig nutzlos; die Hufe scharrten ohne Halt in der Erde und den modrigen Blättern. Sein Herz schlug jetzt so heftig, dass es glaubte, es müsste zerbersten, und Req zuckte, wehrte sich in einem letzten Ansturm ... und kam dann zur Ruhe. Jede Kraft wich aus dem schmalen Körper. Der Wolf über schnupperte an dem furchtstarren Wesen, schnappte spielerisch danach, und erhielt keine Reaktion.
„Ich habe davon gehört, dass ihr Faun ganz ruhig werdet, wenn ihr euch dem Tod gegenüber seht“, knurrte Cyran leise. „Aber warum solltet ihr kleinen Wesen so eine Empfindung suchen? Warum kommt ihr zu uns, damit wir euch jagen und fangen und euer Fleisch kosten?“
Req konnte nur den Kopf schütteln. Es wusste nicht, wieso. Nur, dass es wundervoll war. Seine Hände griffen ziellos in das raue, dunkle Fell des Wolfswesens, verkrallten sich darin. „Friss mich. Lass es vorbei sein“, flüsterte es, und Cyran lachte heiser, schnappte zu und schlug seine Zähne in Reqs Schulter. Kein tiefer Biss, keiner, der Blut forderte. Trotzdem wimmerte Req auf, zappelte unter Cyran. Es konnte nicht anders. Es musste sich wehren. Die Starre begann, sich aufzulösen. Und wie durch ein Wunder kam es frei, kam strauchelnd auf die Hufe, machte einen Satz, und drehte sich doch um, blieb stehen. Das Wolfswesen sah Req nach, grinste, zeigte alle seine Zähne.
„Lauf nur, kleines Faun. Du hast noch nicht genug Angst. Du bist noch nicht reif zum Fressen.“ Req wollte protestieren, wollte sich zu Boden werfen. Es sah doch, dass Cyran bereit war. Aber es konnte sich auch nicht widersetzen, weder seiner Natur, noch dem Spiel. Cyran wusste das. „Keine Angst, ich bin noch längst nicht müde. Ich werde dich haben, noch bevor die Sonne aufgeht.“
Req kämpfte mit sich. Doch dann drehte es sich um und lief los. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Noch nie war es so lange gelaufen. Wie lange würde Cyran folgen? Das Verlangen, es herauszufinden, war stark.
Das Wolfswesen wartete. Dann witterte es und hetzte wieder los. Die Nacht war kühl, klar und noch sehr lang.