Es wurde bereits dunkel, als Marius und Daniel sich aufmachten, wieder ins Dorf zurückzukehren. Sie hatten bis zum Einbruch der Dämmerung dagelegen, sich unterhalten, gelacht und es fiel Marius schwer zu glauben, warum sich nicht alle um Daniels Freundschaft rissen. Unter seiner Schale aus Perfektion und Verschlossenheit versteckte sich ein Mensch, der lustig und durchaus schlagfertig war und immer eine passende Antwort geben konnte. Der, wenn man ihm die Ketten dessen, was man ihm anerzogen hatte, lockerte, aus sich herausgehen konnte und dessen Persönlichkeit Marius faszinierte.
Daniel war unter dieser Schale nicht nur ein verletzlicher Junge, der keinen Hehl daraus machte, dass es Dinge gab, die ihn belasteten, sondern er hatte eine ganz eigene Stärke, auch wenn es ihm schwerfiel, diese nach außen zu transportieren.
Der dunkelblonde Jugendliche wusste, als sie beide langsam den Feldweg ins Dorf zurückgingen, dass er rettungslos in den Anderen verliebt war und dass so schnell nichts etwas daran ändern würde. Er wollte Daniels Hand halten und am liebsten in die Welt hinausschreien, dass sie einander gefunden hatten. Es stimmte Marius traurig, dass er eben dies nicht tun konnte. Er würde es weder sich selbst noch dem Dunkelhaarigen antun. Ihrer beider Väter würden sich notfalls verbünden, trotz ihres Hasses, um ihre Söhne zur Hölle zu jagen.
Lengwede war eben noch lange nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, was solche Dinge betraf.
»Und ... sehen wir uns dann morgen?« Daniel sprach leise, während er sein Fahrrad schob.
Sie hatten den Friedhof hinter sich gelassen und die ersten Straßenlaternen Lengwedes tauchten die Straßen in gelbes Licht. Der Weg zuvor war nur erhellt gewesen vom letzten bisschen Tageslicht, das noch am Horizont zu sehen war, und dem aufgegangenen Mond. Sie hatten einander an den Händen gehalten, doch nun, da die ersten Häuser des Dorfes in Sichtweite kamen, trennten sie diese zärtliche Verbindung. Ohne dass einer von beiden dies hätte ansprechen müssen, war klar, dass sie nicht offen dazu stehen würden und könnten. Die Menschen in ihrem Heimatort waren noch nicht so weit und keiner von beiden hatte Lust, das, was sie hatten, von ihnen in den Schmutz ziehen zu lassen. Sie würden es im Geheimen feiern und vielleicht gerade deswegen umso mehr genießen.
Marius nickte. »Sehr gern. Gehst du wieder spazieren?«
»Ich weiß nicht. Ich ... hab ja keinen Grund mehr dazu ...«, Daniel seufzte, als die Erinnerung wiederkam, was seine Eltern getan hatten, dass sie ihm den geliebten Hund weggenommen hatten, »aber ich gehe einfach. Notfalls schwänz’ ich Tennis.«
Der dunkelblonde Jugendliche lächelte, als er den rebellischen Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah. Die Heinemanns hatten sich dadurch, dass sie Sergio weggegeben hatten, nicht gerade den Gehorsam ihres Sohnes gesichert. Marius fand gut, dass Daniel sich widersetzen wollte. Wenigstens etwas. Nur weil es seine Eltern waren, konnten sie schließlich nicht alles mit ihm machen, ohne dass er nicht einmal zurückschnappte.
»Also dann am Reservoir?«
»Und dann?«
Marius grinste. »Keine Ahnung. Rummachen?«
Sie lachten beide.
»Na gut. Ich finde, das klingt fair«, Daniel grinste und der dunkelblonde Teenager nickte.
»Das finde ich auch«, er rieb sich den Nacken, »es gibt eine Menge, was ich ... tun möchte.«
»So? Bin ich dein Versuchskaninchen? Hast du eine Strichliste? Irgendein Heftchen mit ... Dingen, die zwei ... Männer miteinander machen können?«
Marius errötete. »Nein, das bist du nicht. Aber na ja ... mit wem sollte ich diese Erfahrungen sonst machen wollen, wenn nicht mit dir?« Der Jugendliche sah sich um und drückte Daniel blitzschnell einen Kuss auf den Mund. Sie standen direkt zwischen zwei Straßenlampen, noch einige Meter vor dem ersten Haus am Ortsrand des Schlamau. Noch waren sie sicher.
Der Heinemann-Junge kicherte und nickte dann. »Okay, okay ...«
»Und nein, ich hab keine Heftchen. Ich hab Broschüren mit Tipps zum Coming Out und auch für ... Sex. Aber keine Anleitungen oder so.«
»Hast du deswegen nach dem Vortrag deine Tasche ausgekippt? Um einen Vorwand zu haben, dazubleiben und heimlich welche mitzunehmen?«
Marius machte große Augen. »Du hast das mitbekommen? Und nein, das war keine Absicht. Aber ich hab die Chance genutzt, ja.«
Daniel nickte. »Ja, im Rausgehen. Hat ja ziemlich geklimpert, all die Stifte am Boden. Helfen dir die Broschüren?«
Der dunkelblonde Jugendliche rieb sich den Nacken. »Na ja ... da drin stehen Tipps, wie man sich bei Freunden und Eltern outen kann, dass man das Gespräch suchen soll, dass beide Seiten versuchen sollen, Verständnis aufzubringen. Es wird eindringlich versichert, dass mit einem alles in Ordnung ist, dass Homosexualität ganz normal ist und in jeder Tierart vorkommt, dass sich das niemand aussucht und so ... als würde ich das nicht wissen, dass ich mir das nicht ausgesucht habe. Und stell’ dir mal vor, ich setze mich mit den Dingern in der Hand hin und bitte meine Eltern um ein Gespräch. Ich bekäme nicht ein Wort raus, bevor ich die erste Backpfeife zu sitzen hätte ...«
»Meine Eltern würden mir auch nicht zuhören. Eher schicken sie mich zu einem Arzt ... hm ... und die anderen? Also ... über Sex? Ich kann mir nicht vorstellen, was da drin gesagt wird.« Daniel musste grinsen. Der Gedanke machte ihn verlegen.
»Na, eben was es für Möglichkeiten gäbe, Tipps und Hinweise zur Nutzung und Wichtigkeit von Kondomen, die richtige Hygiene ... obwohl das eigentlich alles voll logisch ist, ist es gut, das alles mal nachgelesen zu haben. Mir hat das schon irgendwie geholfen. Ich meine, woher soll ich es sonst nehmen? Mein Alter weigert sich, nen Internetanschluss machen zu lassen und in der Schule? Da schau’ ich bestimmt nicht nach so etwas, wenn mir jeder dabei zusehen kann!«
Sie schwiegen einen Moment und passierten die freie Straße zwischen Ortskern und Schlamau, bevor sie an der Ecke zum Garten der Bunds einen Moment stehen blieben. Sie würden nicht gemeinsam beim Haus der Heinemanns entlang kommen können. Wenn Daniels Vater das bemerkte, würde es Ärger geben. Auch das hatte der Dunkelhaarige Marius erzählt - was der alte Fritz über eine Freundschaft zu ihm gesagt hatte.
Doch der dunkelblonde Jugendliche war davon weder überrascht noch schockiert. Es war schließlich kein Geheimnis, dass Friedrich Heinemann und Heinrich Förster einander hassten. Da war es keine Überraschung, dass Fritz auch Marius für miesen Umgang hielt. Doch das kümmerte diesen nicht, denn die Entscheidung dafür lag einzig bei Daniel und der wollte mit ihm zusammen sein.
»Na ja«, setzte Marius leise an, »es klingt vielleicht blöd, aber ich möchte all das mit dir ausprobieren ...« Der Jugendliche war rot angelaufen, was Daniel sogar im gelben Licht einer Straßenlampe erkennen konnte.
»Warum klingt das blöd?«
»Weil ... ich nicht dastehen will als jemand, der dich nur für etwas benutzt.«
»Bist du verliebt in mich?«, fragte der Dunkelhaarige leise.
»Ja. Das bin ich«, entgegnete Marius rau.
»Dann ist alles in Ordnung.«
Marius biss sich auf die Lippe. »Und ... du?«
Daniel lächelte milde und hatte einen verträumten Ausdruck im Gesicht. »Das war ich doch immer schon.«
Der dunkelblonde Teenager griff nach der Hand des Anderen und drückte sie für einen Moment. Er hätte ihn gern geküsst, doch mitten im Ort, wo jeden Meter eine Laterne stand und Leute aus den Fenstern spähen konnten, wollte er das nicht riskieren. Dieser kleine Ausdruck der Zärtlichkeit und Verbundenheit war alles, was ihnen gestattet war.
»Ist voll blöd, dass man so unsicher ist. Ich kenn’ das gar nicht von mir«, murmelte Marius.
»Willkommen in meiner Welt.«
»Wie hältst du das nur aus ...«
»Ich bin gut im Tarnkappenmodus«, sagte Daniel leise und lächelte dann schief. »Gut darin, Dinge zu verstecken. So zu tun, du weißt schon. Aber bei dir muss ich das nicht. Das fühlt sich gut an.«
»Ja. Ich möchte nicht, dass du so tust.«
»Tue ich nicht.«
»Schreibst du mir morgen, wenn du los gehst? Nicht dass wir uns verpassen. Meine Nummer hast du ja.« Marius zwinkerte und der Andere lächelte verlegen.
»J-ja ... ich hab sie damals aus dem Klassenbuch gemopst. Entschuldige. Ich dachte, die wäre gar nicht mehr aktuell.«
»Ist sie«, schmunzelte der Dunkelblonde.
»Okay. Ja, mach ich.«
Marius sah Daniel einen Moment lang schweigend an, so lange, dass dieser bereits anfing, sich unwohl zu fühlen und glaubte, der Andere würde irgendetwas Negatives sagen. Doch stattdessen lächelte er.
»Fuck, ich würd’ dich gern küssen. Geh’ lieber, bevor ich die Kontrolle verliere.«
Der Heinemann-Junge fing zu grinsen an und schob sein Fahrrad die Straße hinauf, während Marius noch ein paar Minuten stehen blieb und vor sich hin seufzte.
Tja, offenbar hatte er Daniel vom Markt gepflückt. Ein Jammer, dass er das nicht allen sagen konnte. Er würde nur zu gern das Gesicht von Franziska sehen, die sich wirklich wie ein aufgeregter Tintenfisch selbst fressen würde vor Wut. Aber auch Monique würde Marius nur zu gern unter die Nase reiben, dass Daniel ihn wollte und nicht sie. Der Jugendliche würde es am liebsten hinausschreien, denn das Herz in seiner Brust fühlte sich zu groß an, um es halten zu können. Er konnte sich nicht erinnern, jemals solches Glück empfunden zu haben. Sein Vater hatte immer dafür gesorgt, dass so etwas nicht aufkam bei ihnen zuhause.
Tief seufzend setzte er sich zehn Minuten nach Daniel in Bewegung, um ebenfalls nach Hause zu gehen. Es war bereits dunkel, also musste es nach zehn sein. Morgen war Schule und sein Alter hasste es, wenn er, Marius, sich herumtrieb. Nicht dass den interessierte, was Heinrich zu sagen hatte, doch er hatte auch Hunger und Durst bekommen, hoffte darauf, dass etwas vom Abendessen übrig geblieben war und ein kleiner Teil in ihm, der, der ein gewissenhafter Schüler war, erinnerte sich daran, dass eigentlich Hausaufgaben auf gewesen waren, die er natürlich nicht gemacht hatte. Denn Mathe konnte nicht mit einem Nachmittag mithalten, den er mit Daniel verbracht hatte.
Und auch nicht mit dem kleinen sinnlichen Moment, den sie beide miteinander hatten und der noch immer ein Kribbeln durch Marius’ Körper jagte. Er hatte noch niemals zuvor einen anderen Mann berührt und allein die Erinnerung daran heizte ihn so auf, dass er eine kalte Dusche gebrauchen könnte. Ja, er war scharf auf Daniel. Er begehrte ihn, wollte all die wunderbaren unanständigen Dinge mit ihm machen, die Verliebte nun einmal taten. Und am liebsten früher als später.
Marius seufzte wieder schwer, als er an seinem Elternhaus ankam. Er vermisste den Anderen jetzt schon und wusste ganz genau, wie seine Nacht aussehen würde. Er würde sich hin und her wälzen, weil seine wilden Träume ihn nicht schlafen lassen würden. Ganz sicher.
Leise betrat er das Haus. Der Fernseher im Wohnzimmer lief, doch das Schnarchen verriet ihm, dass Heinrich in seinem Sessel eingeschlafen sein musste. Marius ließ ihn so, nahm sich einen Milchreis und eine Packung Würstchen aus dem Kühlschrank und ging leise in sein Zimmer hoch. Seine Mutter war bereits im Bett. Sie ging meist zwischen zehn und halb elf schlafen, immerhin stand sie ebenso früh auf wie Heinrich.
Vor sich hin kauend versuchte der Jugendliche, wenigstens einen Teil seiner Mathehausaufgaben noch zu erledigen, da Mettmann, ihr Lehrer, gern mal kontrollierte und wenn man nichts getan hatte, gab er auch schon mal eine schlechte Note. Da die Jahreszeugnisse aber noch nicht fertig waren, weil noch kein Notenschluss war, könnte eine Fünf seinen Durchschnitt herunterreißen.
Marius war kein übermäßig ehrgeiziger Schüler, doch er hatte die Ambitionen, einen guten Abschluss zu machen, um später entweder Kunst studieren zu können oder eine gute Ausbildung zu bekommen. Er wollte nicht sein Leben lang in Lengwede versauern und unter der Fuchtel von Heinrich dreckige Maschinen reparieren. Er wollte malen, gestalten, erschaffen. Etwas, das sein Vater nicht verstand. Für den gab es nur Mechanik und jemand, der Kunst machen wollte, war in seinen Augen ein unmännlicher Schwächling.
Müde rieb sich der Jugendliche die Augen, als er gegen Mitternacht alles zusammenpackte. Er war tatsächlich fertig geworden mit den Aufgaben und froh, nicht im Mathe-Leistungskurs zu sein, deren Pensum doppelt so hoch war. Auch wenn er dann mit Daniel hätte zusammen sein können, denn der war wirklich gut in all diesen Dingen. Allerdings gab es fast nichts, worin er nicht gut war. Er war Klassenbester. Nur zeichnen konnte er nicht. Kunst war mit Abstand Daniels schlechtestes Fach.
Marius musste bei dem Gedanken grinsen. Das wurmte den Klassenprimus sicher ungemein. Aber man konnte nicht in allem glänzen.
In Kunst war es Marius, der herausstach. Einige seiner Werke waren in der Schule ausgestellt worden und als die Schulleitung die Cafeteria neu gestalten lassen wollte, war er es gewesen, der ein großes Gemälde auf eine freie Wand hatte malen dürfen. Das erfüllte ihn mit Stolz. Denn so lange, wie niemand das übermalen würde, würde der Name Marius Förster in der Schule erhalten bleiben. Nicht dass es ihm um Ruhm gehen würde. Aber zumindest in dieser Hinsicht, auf der künstlerischen Ebene in dem kleinen Kosmos seiner Schule, war er jemand und konnte von sich sagen, dass er etwas geschaffen hatte, das die Leute bewunderten.
Anerkennung war immerhin etwas, das er von Zuhause nicht wirklich gewöhnt war. Seine Mutter hielt seine Liebe zur Malerei für ein nettes Hobby, das aber doch so viel kostete, und sein Vater hielt es für pure Zeitverschwendung. Das kümmerte Marius aber nicht.
Der Jugendliche streckte sich seufzend und löschte das Licht. Er und Daniel waren vollkommen verschieden, wenn er so darüber nachdachte. Aber machte nicht das den Reiz aus? Aus der Ferne betrachtet könnte man sie für das klassische Bild des Strebers und des Sportlers halten. Doch so war es ja nicht, oder?
Und selbst wenn, es war Marius egal. Er wusste, dass er Daniel wollte, ob der nun ein langweiliger Spießer war oder ein abenteuerlustiger Draufgänger. Es war dem Jugendlichen vollkommen gleich. Für ihn zählte nur der Mensch dahinter. Und er wusste, dass er es kaum erwarten konnte, ihn wiederzusehen.
Morgen würden es ganz neue Voraussetzungen sein, wenn sie sich in der Schule sehen würden. Immerhin hatten sie beschlossen, tatsächlich zusammen sein zu wollen. Es bekümmerte Marius, das nicht offen zeigen zu können. Es machte ihm das Herz schwer, doch der Gedanke, am Nachmittag allein zu sein mit Daniel, ihn küssen und umarmen zu können, verdrängte es und erfüllte ihn mit Glück.
So hatte er sich gewünscht, dass es sich anfühlt, einen festen Partner zu haben, verliebt zu sein. Wenn man grinsen musste, wenn man nur den Namen hörte, wenn das Herz hüpfte, wenn man ihn sah und wenn man es kaum erwarten konnte, ihn zu küssen.
Schwer seufzend zog der Jugendliche die Decke über seinen Kopf und schloss die Augen. Je eher er Schlaf finden würde, umso eher würde der Morgen und dann der Nachmittag kommen.