Kapitel 3
Ich weiß nicht mehr wie lange ich gelaufen und herumgeirrt war, ohne auch nur ein einziges Fleckchen zu finden, das mir irgendwie bekannt vorkam.
Sogar die Straße schien hier viel breiter als bei uns zu Hause.
Ratlos setzte ich mich darauf nieder. Ich war hungrig, verwirrt, und mir war kalt. Außerdem hatte ich so furchtbare Sehnsucht nach meiner Mama und meinem schönen behaglichen Katzenkorb. Nicht einmal Jonas` gelegentliches lautes Geschrei würde mich jetzt stören. Ganz im Gegenteil! Wie froh wäre ich, ihn zu sehen.
Ich wollte gerade anfangen ein Klagelied zu singen, in dem ich meinen ganzen Herzschmerz heraus in die große böse Welt schreien konnte, als ich durch ein immer lauter werdendes bedrohlich klingendes Brummen gestört wurde.
Was zum Teufel…
Ein großes, dunkles Etwas mit riesigen Rädern und zwei grellen Lichtern vorn dran bog plötzlich um die Kurve hinter mir und kam mit ohrenbetäubendem Geknatter und Gebrumm direkt auf mich zugeschossen.
Um Himmels willen… Nein!!!
Zu Tode erschrocken sprang ich auf und rettete mich in letzter Sekunde voller Panik ins naheliegende Gebüsch.
Was war denn das für ein furchtbares Ding gewesen? Solche furchterregenden Ungetüme fuhren bei uns zu Hause nie auf der Straße. Nur ab und zu rollte mal ein Auto vorbei. Und wenn ich dort saß, hielten sie an. Sie machten dann komische Geräusche. Hupen nannte Jonas das. Unser Auto konnte das auch.
Aber das große dunkle Ding eben hatte nicht gehupt und hätte ganz sicher auch nicht angehalten.
Zitternd sah ich mich um, schlich ängstlich geduckt weiter und erblickte schließlich im Halbdunkel zwischen wildem Unkraut einen verwitterten Bretterverschlag. Vielleicht ein Versteck für mich, um mich etwas aufzuwärmen? Zumindest so lange, bis ich wieder einigermaßen bei Kräften war?
Ich lief hin, schnupperte und entdeckte tatsächlich eine Art Eingang zwischen den Brettern. Doch bevor ich auch nur eine Pfote hineingesetzt hatte, kam eine große, graugetigerte Katze herausgeschossen, gab mir ohne Vorwarnung eine saftige Ohrfeige mit der Tatze und knurrte mich feindselig an.
Ich war derart erschrocken, dass ich fast rückwärts einen Purzelbaum schlug.
Sie fauchte noch einmal und machte mir damit unmissverständlich klar, dass ich hier nicht erwünscht war.
„E-ent-schuldigung…“, miaute ich mit zitterndem Stimmchen, „Ich s-suche doch n-nur e-einen P-platz zum S-schlafen.“
„Das hier ist aber mein Platz“, ließ mich die fremde Katze mit drohendem Unterton wissen. „Verzieh dich, du halbe Portion!“
Also trat ich schleunigst den Rückzug an und gelangte zu meinem Leidwesen sehr schnell wieder an die Straße. Aber dort lauerten vielleicht noch mehr riesige schwarze Ungeheuer!
Das wollte ich nicht noch einmal riskieren. Also schlug ich einen Bogen, um aus dem Gefahrenbereich zu kommen, denn von Ferne hörte ich bereits wieder ein Brummen, das rasch näherkam.
Ich rannte ein Stück so schnell ich konnte. Bloß weg von diesen Ungeheuern!
Aber irgendwie musste ich dabei wohl im Kreis gelaufen sein, denn plötzlich sah ich im fahlen Licht der Laternen wieder jenes große Haus mit den vielen Fenstern.
Ob ich dort wohl einen Unterschlupf finden würde?
Alles war still, also schlich ich mich vorsichtig näher. Hinter dem Haus standen mehrere Mülltonnen, wie ich sie auch von meinem Zuhause kannte. Und neben der einen Tonne stieg mir schon von weitem ein köstlicher Duft in mein Näschen. Neugierig schnuppernd schlich ich näher heran.
Oh, welch ein Glück!
Da lag ein Butterbrot mit Wurst, eins von der Sorte, wie meine Mama sie immer für Jonas zubereitete. Mein Magen zog sich vor Hunger und Vorfreude schmerzlich zusammen, und ohne weiter darüber nachzudenken stürzte ich mich auf den unvorhergesehenen Snack.
Es schmeckte köstlich!
Ich fraß alles auf und leckte noch die Krümel vom Boden.
Etwas versöhnter mit mir und der fremden Welt schlich ich weiter um das Haus. Eine große Pfütze versperrte mir den Weg, und angesichts des Wassers verspürte ich nun auch einen unbändigen Durst. Zu Hause gab es dafür mein sauberes Näpfchen, das immer mit frischem klaren Wasser gefüllt war.
Das Wasser hier war schmutzig und wenig einladend. Aber Durst ist schlimmer als Heimweh und ich begann gierig zu trinken, bis ich genug hatte und sich mein Bäuchlein wieder voll und satt anfühlte.
Jetzt noch ein Platz zum Schlafen und danach würde ich weiter nach meinem Zuhause und meinen Zweibeinern suchen.
Wie durch ein Wunder fand ich an dem großen Haus dicht über dem Erdboden ein kleines Fenster, das ein Stück offenstand. Vorsichtiger als vorhin bei dem Bretterverschlag schlich ich näher, jeden Moment darauf gefasst, dass mir wieder der Zutritt von einem verärgerten, angriffslustigen Artgenossen verwehrt würde.
Aber nichts dergleichen geschah. Alles blieb ruhig, und ich schob mich langsam durch die Öffnung in einen dunklen Raum, in dem alte Tische und Stühle, Kisten und anderes Gerümpel verstaut waren.
Erleichtert atmete ich auf.
So einen Raum gab es bei uns zu Hause auch. Meine Zweibeiner nannten ihn Keller. Dort bewahrten sie alles auf, was sie in der Wohnung nicht brauchten.
Ich war immer gern da unten gewesen, denn dort hatte ich meine Ruhe. Außerdem fand ich es interessant, zwischen den alten Sachen herumzustöbern und mir bei schlechtem Wetter gelegentlich auch mal ein unbeobachtetes Plätzchen zu suchen, wo ich in Frieden meinen Mittagsschlaf halten konnte.
Ich drehte eine Runde durch den Raum, schnupperte an Kisten und Papierstapeln und entschied mich dann für eine kleine offene Truhe, in der sich alte Decken und Kissen befanden.
Himmlisch!
Wie für mich gemacht.
Ich sprang hinein, rollte mich behaglich zusammen und war kurz danach fest eingeschlafen.
Ich erwachte durch fremde Stimmen. Helle Kinderstimmen, so wie die von meinem Jonas.
Blinzelnd hob ich den Kopf.
Wo war Jonas?
Und was noch wichtiger war: Wo war ich?
Alles um mich her sah fremd aus.
Durch das winzige Fenster gegenüber meinem Schlafplatz drang helles Tageslicht.
Irritiert sprang ich auf und sah mich um.
Langsam, Stück für Stück kam die Erinnerung zurück und meine Nackenhaare stellten sich auf.
Ich war nicht zu Hause.
Ich war in diesem fremden Auto mitgefahren und dann war ich plötzlich woanders wieder ausgestiegen. Hier sah nichts mehr so aus wie zu Hause! Alles war fremd, dunkel, bedrohlich und kalt.
Eine große graue Mieze hatte mich davongejagt und ich war in meiner Not bis zum nächstbesten Haus gelaufen, wo ich endlich wie durch ein Wunder etwas zu fressen gefunden hatte. Und dann war da ein kleines Fenster offen gewesen und ich war in diesen Raum gelangt – in den Keller.
Aber wo kamen plötzlich die vielen Stimmen her?
Vorsichtig pirschte ich mich an das Fenster und lugte hinaus. Da waren unzählige kleine Füße, sie rannten hin und her, Bälle flogen und Reifen rollten, alles Dinge, die ich vom Spielen mit Jonas kannte.
Plötzlich rollte ein Ball direkt auf mich zu.
Erschrocken sprang ich zurück in mein Versteck. Der Ball kullerte durch das Fenster, fiel auf den Boden und rollte hinter eine Kiste.
„Vergiss es, der ist futsch!“, rief eine helle Stimme. Kurz darauf erschien ein rundes Gesicht an dem kleinen Fenster. „So ein Mist, der war so schön! Vielleicht sollten wir den Hausmeister fragen, ob er ihn uns wieder herausholt.“
Ich duckte mich mit wild klopfendem Herzen tief in mein Versteck, als ich im Hintergrund deutlich ein lautes Klingeln hörte.
„Wir fragen ihn später“, rief eine andere Stimme im Hintergrund. „Los, beeil dich, sonst verpassen wir den Unterricht!“
Das Gesicht war verschwunden und auch die Geräusche draußen verebbten.
Dann war es still.
Erneut schlich ich vorsichtig zum Fenster und machte einen langen Hals. Keine Füße mehr, keine rollenden Bälle. Alles gut.
Ich hatte Hunger.
Also sprang ich nach einer Weile beherzt aus dem Fenster nach draußen und schlich zu den Mülltonnen. Leider war dort nichts zu finden.
Hunger tut weh, und ich war nun mal daran gewöhnt, regelmäßig einen gut gefüllten Napf mit meinem Lieblingsfutter vors Schnäuzchen gesetzt zu bekommen.
Bei dem Gedanken daran wurde mir das Herz plötzlich unsagbar schwer. Ich wusste einfach nicht wohin mit meinem ganzen Katzenschmerz, setzte mich nieder und fing an zu klagen. Laut, durchdringend und herzzerreißend.
„Wirst du wohl still sein, du Tölpel?“, erklang ein bedrohliches Fauchen hinter mir, das mir vage bekannt vorkam.
Entsetzt fuhr ich herum und duckte mich, denn was ich da sah, bedeutete mit Sicherheit nichts Gutes...