Kapitel 6
Am nächsten Tag wartete ich vergebens auf die graugetigerte Mieze. Ich suchte sie überall, doch ohne Erfolg. Ich lief sogar zu ihrem Bretterverschlag, bei dem ich sie zum ersten Mal getroffen hatte, doch die Behausung war leer.
Beunruhigt mauzend schlich ich ums Haus, aber nirgends entdeckte ich eine Spur von meiner neuen Freundin.
Also setzte ich mich auf den Schulhof und wartete, doch sie tauchte nicht auf. Als die Pause begann und die Kinder lärmend auf den Hof gestürmt kamen, verzog ich mich schnell in mein Versteck.
Wo konnte die graugetigerte Mieze nur geblieben sein?
Ich wusste keine Antwort.
Später schlich ich zu dem Teller hinter den Mülltonnen. Er war gut gefüllt und ich fraß mit großem Appetit, ließ jedoch etwas für meine Freundin übrig, falls sie doch noch auftauchen würde.
Aber die graugetigerte Mieze blieb spurlos verschwunden. Auch am nächsten und übernächsten Tag entdeckte ich kein Lebenszeichen von ihr.
Traurig schlich ich ums Haus, lief mehrmals zum Feldrand und weiter bis zum Teich. Dort versuchte ich noch einmal einen Fisch zu fangen. So, wie sie es mir gezeigt hatte: Ducken… Muskeln anspannen… im richtigen Moment mit der Pfote zuhauen und den Fisch aus dem Wasser werfen …
Ich erschrak mich fast zu Tode, als ich plötzlich so einen Fisch erwischte! Er flog aus dem Teich und landete dicht am Ufer.
Wow… ich hatte es geschafft!
Ich hatte soeben meinen allerersten Fisch gefangen!
Meine Freude und Überraschung war so groß, dass ich regungslos dasaß und fasziniert den wild zappelnden Fisch beobachtete, wie er sich Stück für Stück zurück zum Wasser wand, schließlich wieder in den Teich eintauchte und blitzschnell davonschwamm.
Na gut, die Beute war futsch, aber immerhin, ich hatte zum ersten Mal in meinem jungen Katzenleben einen richtigen Fisch gefangen und war megastolz auf meinen Erfolg.
Hoch erhobenen Hauptes schritt ich zurück zur Schule. Wie gern hätte ich der graugetigerten Mieze von meinem Jagdglück erzählt, doch noch immer fehlte von ihr jede Spur…
So vergingen viele Tage und Wochen.
Ich hatte keine Ahnung, wie viele es waren, denn ich fristete hier allein mein Dasein, schlief im Kellerversteck, übte am Feldrand das Mäusefangen und labte mich an dem Teller hinter den Mülltonnen, den die fremde Frau jeden Tag bereitwillig für mich auffüllte.
Inzwischen hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren.
Manchmal lag ich abends in meinem Versteck und dachte an meine Familie, doch ich hatte das ungute Gefühl, als würde die Erinnerung an sie langsam in meinem Kopf verblassen.
Eines Morgens wurde ich durch ein eigenartiges lautes Geräusch wach.
Es war, als ob die Erde bebte.
Zu Tode erschrocken sprang ich auf und wollte durch mein Fenster ins Freie flüchten, als mir klar wurde, dass das grässliche Geräusch genau von dort kam.
Fremde Männer in blauen Anzügen hämmerten und bohrten an der Wand meines Versteckes herum und veranstalteten diesen unerträglichen Höllenlärm.
Zutiefst verunsichert flitzte ich in die andere Richtung. Zum Glück erinnerte ich mich an jenen Abend, als ich mit der graugetigerten Mieze durch den Kellergang zur Treppe gelaufen war, die zum Dach hinaufführte.
Allerdings musste ich wohl den richtigen Aufgang verpasst haben, denn plötzlich befand ich mich in einem langen Gang mit vielen Türen. Im selben Augenblick erklang die Klingel, die ich unten in meinem Versteck schon so oft aus der Ferne gehört hatte. Diesmal schallte sie so laut, dass mir die Ohren dröhnten.
Sekunden später öffneten sich die Türen. Unzählige Kinderfüße rannten kreuz und quer über den Flur. Ich duckte mich ängstlich, als auch schon von irgendwo her ein lauter Schrei ertönte:
„Schaut mal! Eine Katze!“
Imnu war ich umzingelt. Panisch drückte ich mich in die Ecke, doch sie kamen immer näher.
„Ist die süß!“
„Wo kommt die denn her?“
„Die hat sich verlaufen!“
„Komm her, kleine Miez!“
Und schon griffen Hände nach mir und versuchten mich hochzuheben.
Ein Junge mit feuerroten Haaren drängte die anderen beiseite.
„Lasst mich das machen, ich kenne mich mit Katzen aus“, hörte ich ihn sagen, und schon hatte er mich mit festem Griff im Genick gepackt Ich versuchte verzweifelt mich zu wehren, fuhr die Krallen aus und strampelte wie wild mit den Hinterpfoten, doch ich hatte keine Chance. Der Rotkopf hob mich hoch und begutachtete mich ungeachtet meines lautstarken Protestes ungeniert von allen Seiten.
„Eine Schildpatt-Katze“, stellte er fachmännisch fest. „Das sind Glückskatzen. Die nehme ich mit.“
„Das wirst du schön sein lassen“, erklang die energische Stimme einer fremden Frau, die plötzlich hinter der Kinderschar aufgetaucht war. „Hier werden keine Katzen mitgenommen.“
„Aber die hat sich verlaufen, die gehört niemandem“, widersprach der Rotkopf und hielt mich immer noch am Genick. Ich schrie und zappelte wie am Spieß.
Die Frau griff nach mir und nahm mich beschützend in den Arm.
„Schaut nur, sie zittert vor Angst“ sagte sie und streichelte mir liebevoll übers Fell. „Vielleicht gehört sie ja doch jemandem. Wir sollten sie schnell hinausbringen, damit sie wieder nach Hause findet.“
Sie trug mich die Treppe hinunter, öffnete eine Tür und ließ mich hinaus.
Ich rannte los, ohne mich umzusehen.
Nur weg, weit weg!
Niemand sollte mich je wieder so grob im Genick packen!
Ich glaube, meine Pfötchen haben mich noch nie so schnell getragen. Ich rannte und rannte und hielt erst an einem Feldrand an. Dort verdrückte ich mich ins hohe Gras und blieb zitternd hocken. Weder der freche Spatz, der ständig um mich herumflatterte und tschilpte, als säße ich ausgerechnet auf seinem Lieblingsplatz, noch der bunte Schmetterling, der auf einer Blüte schaukelnd verweilte und zu mir herübersah, konnten meinen Jagdtrieb anfachen. Ich war einfach erledigt und der Schreck saß mir noch immer in allen Gliedern.
Es dämmerte bereits, als ich mich langsam wieder vorwagte.
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen.
Ich lief schnurstracks zu meinem Versteck und wollte gerade zum Fenster hineinklettern, als mich der nächste Schock erwartete:
Das Fenster war neu, und was noch schlimmer war, es war zu!!!
Hilflos lief ich auf und ab und wusste nicht, was ich tun sollte. Ganz sicher waren das die fremden Männer gewesen, die sich heute Morgen mit viel Getöse an der Hauswand zu schaffen gemacht hatten.
Wie sollte ich jetzt in mein Versteck kommen?
Mein Fell war bereits völlig durchnässt, als mir der alte Bretterverschlag von der graugetigerten Mieze einfiel. Falls sie nicht da war, konnte ich dort vielleicht…?
So schnell mich meine Pfoten trugen rannte ich los.