Kapitel 9
Ich war also ein bisschen krank.
Zumindest hatte der Tierarzt, zu dem die fremde Frau mich gebracht hatte, etwas in der Art gesagt. Er meinte, ich hätte mich erkältet. Deshalb hatte er mich gepiekt, um mir zu helfen.
Und er hatte irgendetwas Wichtiges in meinem Fell entdeckt. Nein, keinen Floh, etwas Anderes. Auf Grund von diesem Ding hatte die Frau, die mich an jenem schlimmen Regentag gefunden und bei sich aufgenommen hatte, plötzlich meinen Namen gesagt.
Mali…
Ich fühlte mich matt und müde. Die Erkältung machte mir wohl mehr zu schaffen, als ich gedacht hatte. Oder war es die Medizin vom Tierarzt, die mich derart schläfrig machte?
Aber immerhin wusste ich nun, dass ich in Sicherheit war. Die Familie der Frau war wirklich sehr nett zu mir. Und was ich am schönsten fand, war die Tatsache, dass sie mich fortan bei meinem Namen riefen, den ich schon so unendlich lange nicht mehr gehört hatte.
Mali - das klang wie Musik in meinen Ohren.
Ich hatte es wirklich sehr gemütlich hier. Sie bereiteten mir gleich nach dem Besuch beim Tierarzt ein kuscheliges Lager aus weichen Decken, auf dem ich mich ausruhen konnte. Ich hätte mich darauf fast wie zu Hause gefühlt.
Aber eben nur fast…
Ein großer Wehmutstropfen blieb und ließ mich einfach nicht los.
Ich hatte Sehnsucht nach meiner eigenen Familie. Sehnsucht nach meiner Menschen-Mama, meinem Menschen-Papa und natürlich nach Jonas.
Ich vermisste sie alle drei schrecklich.
Würde ich meine Lieblingsmenschen jemals wiedersehen?
Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte nichts sagen, nicht fragen, ich konnte nur abwarten.
Und über der ganzen Warterei schlief ich immer wieder ein.
„Schlaf dich gesund, meine kleine Mali“, hörte ich die Frau leise sagen und das tat ich dann auch.
Ich spürte noch, wie sie liebevoll mit der Hand mein Köpfchen streichelte und schlief tief und fest ein. Und ich träumte…
Die Maus rannte blitzschnell über die Wiese zum Feldrand.
Aber es war nicht die Wiese, in der ich in der letzten Zeit immer Mäuse gejagt hatte. Es war meine Wiese, gleich hinter dem Haus meiner Familie.
Unser Haus!
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Die Maus verschwand im Getreidefeld. Aber das war mir egal. Ich drehte mich um und sah es in der Ferne vor mir liegen:
Mein Zuhause.
Die Farbe der Hauswände leuchtete in der Sonne.
Voller Freude wollte ich loslaufen, aber plötzlich versperrten Büsche und dichtes Gestrüpp meinen Weg. Ich versuchte mich hindurchzuzwängen, doch schnell verlor ich die Richtung und wusste nicht mehr, wo ich war. Irritiert tappte ich eine Weile umher, als mit einem Mal ein kleiner Spatz auf dem Zweig über meinem Kopf landete. Laut und eindringlich schilpend schlug er mit den Flügeln.
Wollte er mir etwas sagen?
Normalerweise jagte ich eifrig, wenn auch mehr oder weniger erfolglos, hinter solchen wuscheligen Appetitshäppchen hinterher, aber diesmal war es irgendwie anders. Ich verspürte keinen Jagdtrieb, denn das Tschilpen des Spatzen klang gerade so, als würde er mir zurufen:
„Komm mit, Mali, komm mit! Hier entlang, Mali, hier entlang!“
Schließlich flatterte er los und ich folgte ihm. Zu meiner Überraschung führte mich der gefiederte Geselle mühelos zwischen dem Gestrüpp hindurch. Blieb ich zurück, setzte er sich auf den nächstbesten Ast und pfiff wieder ungeduldig:
„Nun komm schon, Mali, komm schon!“
Also flitzte ich weiter, immer dem Spätzchen hinterher.
Irgendwann gesellte sich ein bunter Schmetterling zu uns. Er flatterte mir ständig vor der Nase herum, schlug aufgeregt mit seinen zarten Flügeln und schien mir immer wieder aufmunternd zuzuzwinkern.
Ich machte keinen Versuch ihn zu fangen, sondern folgte ihm aufmerksam nach.
Plötzlich waren der Spatz und der Schmetterling verschwunden.
Es war dunkel, und direkt vor mir hörte mit einem Mal die Wiese auf. Der Boden war hart und kühl.
Eine Straße!
Bevor ich wusste, wie mir geschah, sauste mit lautem Getöse ein riesiges Ungeheuer dicht an mir vorbei. Und noch eins und noch eins…
Zu Tode erschrocken sprang ich zurück, duckte mich flach ins Gras und legte panisch die Ohren an.
„He, so kommst du hier nie hinüber!“, hörte ich eine mir vertraute Stimme und blickte mich erstaunt um.
Einen Meter entfernt von mir saß die graugetigerte Mieze und betrachtete mich kopfschüttelnd.
„Komm schon, du Angsthase. Du hast doch Ohren! Benutze sie. Wenn alles still ist, kannst du die Straße überqueren.“
„Bist du sicher?“, fragte ich vorsichtshalber und sie strich erhaben mit der Pfote über ihren Schnurrbart.
„Natürlich bin ich sicher. Jedes Auto, egal ob groß oder klein, macht Lärm. Also kannst du sie schon von weitem hören. Außerdem hast du ja auch noch deine Augen. Schau dich um, ob die Straße frei ist, bevor du losläufst.“ Sie blinzelte mir aufmunternd zu. „Die Katze, die sich überfahren lässt, ist eine dumme Katze. Und das bist du doch nicht, oder?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Dann komm jetzt, folge mir!“
Sie lief los und ich hinterher, über die Straße, hinein ins angrenzende Getreidefeld. Durch das Feld hindurch, hin zu den hohen Häusern.
Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen und sah mich entsetzt um.
„Aber… das ist doch die Musikschule! Ich will nicht wieder hierher, ich will nach Hause!“
„Natürlich willst du das“, nickte die graugetigerte Mieze bestätigend und sah mich mit wichtiger Miene an. „Aber vorher machen wir noch ein Abschiedskonzert für dich. Gleich danach bringe ich dich nach Hause, wenn du möchtest.“
„Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?“, fragte ich sie, doch sie beachtete mich nicht weiter, sondern lief durch die offene Eingangstür der Schule. Entschlossen folgte ich ihr über die Treppe. Wir schlichen auf leisen Pfoten die langen Flure entlang. Alle Türen waren offen und ich hörte viele Kinderstimmen. Entsetzt erinnerte ich mich an den rothaarigen Jungen und lief schneller.
Die graugetigerte Mieze sprang auf ein Fensterbrett und kletterte von dort aus über einen Mauervorsprung weiter hinauf. Nach kurzem Zögern folgte ich ihr und fand mich kurz darauf hoch oben über den Dächern wieder, wo der stattliche schwarze Kater wartete, mit dem sie einst so schön gesungen hatte.
„Was will denn dieses Früchtchen hier?“, fragte dieser misstrauisch und fauchte mich an.
„Lass sie in Ruhe, sie gehört zu mir!“, erwiderte die graugetigerte Mieze und fauchte sehr eindrucksvoll zurück, worauf der Schwarze sofort verstummte. Zufrieden ließ ich mich neben meiner Freundin nieder und rieb mich dankbar an ihrem Fell.
„Es ist mir egal, ob ich mir einen Floh hole“, sagte ich.
„Einen Floh?“ Sie lachte. „Ich habe doch keine Flöhe!“
Genau in dem Augenblick, als wir mit dem Gesang beginnen wollten, kam plötzlich der Spatz geflogen, der mich durch das Gestrüpp geführt hatte. Er flatterte aufgeregt vor meiner Nase herum und tschilpte abermals:
„Komm mit, Mali, komm mit!“
Ich bekam einen Riesenschreck, rutschte ab und rollte vom Dach.
Ich fiel und fiel… und landete im weichen Gras.
Erschrocken sah ich mich um. Es war auf einmal wieder hell, aber ich konnte weder die Schule, noch die graugetigerte Mieze entdecken.
Auch der Spatz war fort.
Stattdessen hörte ich von fern eine Stimme, die mir seltsam vertraut war:
„Mali? Mali, meine Mali!“
Ich sah mich um, konnte jedoch nichts entdecken.
Da hörte ich es plötzlich ganz deutlich:
„Mali, wach auf!“
Ich öffnete die Augen und sah in ein lachendes Gesicht.
Jonas!!!
Träumte ich etwa noch?
Nein, die streichelnden Hände und die vertraute Stimme, das war kein Traum.
Jonas war da!
Er nahm mich vorsichtig aus meinem Körbchen und hielt mich freudestrahlend im Arm.
„Meine Mali!“
Jetzt sah ich auch meine Mama und meinen Papa. Die Mama hatte Tränen in den Augen, aber sie lachte genauso glücklich wie Jonas, und auch der Papa streichelte mir liebevoll übers Fell,
„Du kleine Ausreißerin! Was machst du bloß für Sachen!“
Ich hätte ihnen zu gern alles erzählt, was ich in den vergangenen Wochen erlebt hatte, doch außer einem aufgeregten Mauzen und dem anschließenden glücklichen Schnurren vermochte ich nichts von mir zu geben.
Mein Herz schlug vor Freude ganz schnell und ich spürte, dass es mir wieder gut ging.
Jetzt, wo meine Familie da war und mich gefunden hatte, war meine kleine Katzenwelt mit einem Schlag wieder völlig in Ordnung.
Mir konnte nichts mehr geschehen.
***
Das war sie auch schon fast - Malis kleine, abenteuerliche Geschichte,
die zum Glück ein gutes Ende gefunden hat.
Es folgt noch ein kleiner Epilog, den ich aus meiner Sicht erzähle.