Kapitel 8
Die Fahrt dauerte nicht lange, und ehe ich mich versah, saß ich auf dem Behandlungstisch eines mir unbekannten, weißgekleideten Herrn, der mir gut zuredete und mich streichelte, bevor er lange mit einem kleinen runden Metallding an mir herumtastete. Das andere Ende von dem Metallding steckte in seinem Ohr. Er lauschte, nickte, tastete an einer anderen Stelle meiner Brust und nickte dann erneut. Dann sahen wir uns beide lange in die Augen, bevor er mir zublinzelte, was mich einigermaßen beruhigte.
Vielleicht musste ich ja doch noch nicht sterben?
„Alles halb so schlimm“, meinte der vermeintliche fremde Tierdoktor, halb zu mir, halb zu meiner Begleiterin gewandt. „Eine kleine Erkältung. Das bekommen wir schnell wieder hin.“
Erleichtert streckte ich mich auf dem Behandlungstisch aus, doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte der Mensch in Weiß mich am Genick gepackt und mich doch tatsächlich in die Seite gepiekt.
Autsch!
Ich fauchte ihn zutiefst empört an, aber er lachte nur freundlich und streichelte mich versöhnlich.
„Alles schon vorbei, junge Dame. Kein Grund, sich aufzuregen.“
Na, von wegen...
Während er mich nun liebevoll im Genick graulte, erzählte ihm die Frau, unter welchen Umständen sie mich gefunden hatte:
„Ich wohne gleich gegenüber der Musikschule und arbeite dort als Lehrerin. Seit Wochen habe ich jeden Tag eine graugetigerte Katze auf dem Schulhof gesehen, doch sie war sehr misstrauisch und ließ mich nicht an sich heran. Ich arbeite ehrenamtlich im Tierschutzverein und achte auf streunende Tiere. Also habe ich ihr regelmäßig Futter hingestellt, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Seit einer ganzen Weile ist sie jedoch verschwunden, aber dafür ist diese Kleine hier immer wieder aufgetaucht.“
„Vielleicht eine Katze aus der Nachbarschaft?“, mutmaßte der Tierdoktor.
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Das würde ich wissen, wir Nachbarn kennen einander und ich habe auch diesbezüglich nachgefragt. Nein, keine Ahnung, wo die Katze plötzlich herkam. Ich würde sie ja behalten, aber vielleicht hat sie einen Chip und gehört jemandem, der sie vermisst.“
Der Tierdoktor nickte.
„Dann schauen wir mal nach.“
Seine Finger, die gerade meinen Nacken so beruhigend graulten, verharrten einen Augenblick und suchten dann gezielt nach einer Stelle hinter meinem linken Ohr.
„Sieh mal einer an! Was haben wir denn da?“
Ich horchte auf.
Was meinte er damit?
Hatte ich mir etwa einen Floh eingefangen?
„Wir haben Glück, das Kätzchen hat tatsächlich einen Chip“, bestätigte der Tierarzt die Vermutung der Frau. „Ich werde ihn auslesen, dann wissen wir mehr.“
Er nahm ein Gerät vom Schreibtisch, das fast so aussah wie das Ding, das meine Familie immer zum Öffnen von Flaschen benutzte. Kaum größer als meine Pfote und silbern glänzend. Der Doktor drehte kurz daran herum und hielt mir das Gerät an besagte Stelle im Genick. Instinktiv zog ich den Kopf ein, aber nichts Schlimmes geschah. Nur ein leises Piepsen war zu hören, dann war der Spuk vorbei.
„Na also, da haben wir schon ein Ergebnis. Die junge Dame ist bei TASSO registriert“, sagte der Doktor nach einem Blick auf das piepsende Gerät. „Nun dürfte es kein Problem mehr sein, den Besitzer zu ermitteln.“ Er streichelte mir noch einmal liebevoll über den Kopf, worauf ich endgültig beschloss, ihm den Pieks von vorhin nicht länger nachzutragen.
„Möchten Sie selbst bei TASSO anrufen, oder soll ich das für Sie tun?“, wandte sich der Doktor noch einmal an meine Finderin.
„Ich werde dort anrufen“, entschied die Frau mit einem überzeugten Nicken und setzte mich dann vorsichtig zurück in den Korb. „Nun werden wir bald wissen, wo du zu Hause bist, meine Kleine.“
Die verabreichte Medizin schien inzwischen ihre Wirkung zu tun, denn ich fühlte mich schon sehr viel besser. Inzwischen war ich auch ganz sicher, dass von der Frau keine Gefahr für mich ausging. Sie war wirklich lieb zu mir. Entspannt rollte ich mich in dem Körbchen zusammen und schlief noch während der Heimfahrt ein.
Als ich aufwachte, blickten mich mehrere Augenpaare neugierig an.
Die Frau, ein fremder Mann und zwei halbwüchsige Kinder knieten vor dem Körbchen, in welchem ich lag und flüsterten aufgeregt miteinander.
„Sie ist wach“, sagte der Mann und streckte seine Hand nach mir aus. Entsetzt wich ich zurück und fauchte ihn warnend an.
„Vorsicht“, mahnte die Frau mit sanfter Stimme und lächelte mich an. „Lass ihr Zeit, sie kennt dich ja noch nicht.“
Stimmt genau, lass mir Zeit!
Die Frau durfte mich anfassen, schließlich hatte sie mich gerettet, als es mir schlecht ging. Sie nahm mich aus dem Korb und begann liebevoll mein Fell zu streicheln.
„Mali“, sagte sie leise und sah mich dabei bedeutungsvoll an.
Mali???
Was bedeutete das? Warum kam mir das Wort so bekannt vor?
Mali...
Hatte mich meine Familie nicht immer so genannt?
MALI !!!
Natürlich! Das war mein Name!
Ein wohliges Grummeln stieg in meinem Inneren empor und entlud sich in einem freudigen Schnurren.
„Ja, meine Kleine, da freust du dich“, sagte die Frau und sah mich dann etwas nachdenklich an. „Dein Zuhause ist ziemlich weit weg. Wie bist du bloß bis hierhergekommen? Unfassbar!“
Ich hätte es ihr so gern erzählt, aber das war ja nicht möglich.
Und bei der Gelegenheit hätte ich sie auch gern gebeten, weiter nach der graugetigerten Mieze Ausschau zu halten, aber auch das war mir nicht vergönnt. Die Zweibeiner… ähm, die Menschen verstehen eine Menge Dinge, aber die Katzensprache verstehen sie leider nicht.
„Dann werde ich jetzt mal deine Familie anrufen, kleine Mali“, sagte die Frau und griff nach dem Telefon. „Ich bin sicher, sie werden sich freuen, von dir zu hören…“
Anmerkung:
Liest ein Tierarzt einen Chip aus, so erfährt er dadurch nur, bei welchem Verein das Tier registriert wurde. Die Daten des Halters werden aus Gründen des Datenschutzes nicht genannt.
Also kann sich entweder der Tierarzt oder derjenige, der das Tier gefunden hat, telefonisch beim Verein (in dem Fall TASSO) melden und erfährt dann, wie man weiterverfahren kann.
Entweder hat der Halter des Tieres seine Daten freigegeben und kann dann persönlich vom Finder kontaktiert werden, oder die Übergabe des Tieres wird anonym über den Verein abgewickelt.
In Malis Fall bekam die Lehrerin von TASSO den Namen und die dort hinterlegten Daten des Kätzchens, sowie Adresse und Telefonnummer ihrer Katzenmama, worauf sie persönlich dort anrief.